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Es war eine Nacht wie schon viele Tausend zuvor: Walter Temming quälten die Bilder, die ihn seit 49 Jahren verfolgten. Und jedes Mal schienen sie dramatischer und eindringlicher zu werden. Dies erst recht, nachdem es einen Unbekannten gab, der mit seinem anonymen Brief alles wieder in die Gegenwart zurückgeholt hatte. Mehr als je zuvor lief in Temmings Kopf das Geschehen wie in einem auf Endlosmodus gestellten Film ab. Und es schien, als würden diese Szenen immer mächtiger. Mit Vernunft dagegen anzugehen und sich einzureden, dass viele der Details vielleicht ganz anders waren, als sie sich nach dieser langen Zeit darstellten, nützte nichts. Die damit verbundenen Gefühle waren genau dieselben wie damals. Der Sturz von der Leiter, hinaus in den Abgrund, der Todesschrei, der dumpfe Aufprall des Körpers im Brunnenbecken – und dann das entsetzte Gesicht von Barbara, der Haushälterin, die ausgerechnet in diesem Augenblick in das Dachgeschosszimmer gekommen war. Bis heute plagte ihn die ungekärt gebliebene Frage, weshalb die damals hochschwangere junge Frau an jenem Samstag an ihre Arbeitsstelle zurückgekehrt war, obwohl sie seit zwei Wochen krankgeschrieben war. Sie habe etwas holen wollen, hatte sie zu Tode erschrocken ihre plötzliche Anwesenheit begründet. Und weil in den unteren Etagen niemand gewesen sei, sie aber von oben hämmernde Geräusche gehört habe, sei sie hochgegangen, um nachzuschauen, was dort gemacht werde.

Doch da war noch ein weiteres, bis heute ungeklärtes Rätsel: Siegfrieds Hausschlüssel war spurlos verschwunden. Zunächst hatten sie geglaubt, das er beim Sturz aus dem Fenster verloren gegangen sein könnte. Doch so sehr sie auch suchten, draußen im Brunnen und in den angrenzenden Blumenbeeten – er war nicht mehr aufzutreiben. Dabei hätte man den Schlüssel kaum übersehen können, denn Siegfried hatte einen ziemlich auffälligen Schlüsselanhänger, der aus einer Mininachbildung der Apollo-Kapsel bestand, mit der die NASA in den späten 60er-Jahren die Mondlandung vorbereitete. Siegfried war ein begeisterter Raumfahrtfan gewesen.

Temming lag schweißgebadet im Bett, während seine Frau nach einem langen Diskussionsabend nun dank des Rotweins mit gleichmäßigen Atemzügen schlief.

Er starrte in die Nacht, die ihm weiße, wild drehende Kringel vor die Augen projizierte. Doch da war nichts. Nur das undurchdringliche Schwarz. Der Rollladen war geschlossen, die Schlafzimmertür auch. Kein leuchtender Wecker, kein Standby-Licht irgendeines Gerätes. Nur stockdunkle Nacht. Auch kein Geräusch. Die herrschaftliche Villa stand weit genug von der Straße entfernt. Nur wenn nachts ein ratternder Güterzug durch das Tal fuhr, war das metallische Rauschen zu vernehmen.

Temming schloss die Augen, um die rotierenden und kreisenden Ornamente loszuwerden. Sie verschwanden nur kurz, und sobald er wieder in die Nacht hineinstarrte, waren sie wieder da. Diese Nebel der Nacht, diese undefinierbaren Fäden und Grau-Schwarz-Schattierungen, die sein Gehirn aus dem Nichts formte. Je länger er in solchen Nächten diese unwirklichen Bilder auf sich wirken ließ, desto mehr glaubte er, seltsame Formen zu erkennen – bis hin zu Gesichtern, die ihn anlächelten, jedoch sofort wieder ausgeblendet wurden. Manche trugen Brillen, andere waren bärtig. Aber so sehr er sich auch anstrengte, nie war ein ihm bekanntes Gesicht dabei. Es war meist ein wildes Durcheinander, ein Aus- und Einblenden – als ob ihm ein in kleine Stücke zerlegtes Video vorgespielt würde.

Oft schon hatte er sich überlegt, was er da tatsächlich sah. Waren es reine Hirngespinste, reine Fantastereien? Oder Energiefelder, die sich in der Dunkelheit zu irrealen Objekten manifestierten? Plasma womöglich?

Quatsch, versuchte er sich selbst zur Vernunft zu rufen. Vernunft? Gab es das überhaupt? Oder war Vernunft nur das, was als allgemeingültig galt – als ein Produkt dessen, was eine rein materielle Gesellschaft für regelkonform hielt? Wenn er an so etwas dachte, musste er sich eingestehen, dass Giselas Lebensphilosophien nicht spurlos an ihm vorbeigegangen waren. Obwohl ihm vieles, womit sich seine Frau seit geraumer Zeit befasste, ziemlich fremd war. Als Realist, der ein Leben lang mit harten Bandagen gegen die Konkurrenz gekämpft hatte, fehlte ihm der Zugang zu der spirituellen Welt, wie Gisela es ihm neuerdings immer häufiger vorhielt. Natürlich glaubte er an irgendeine Kraft und Macht, die hinter allem stand – nicht aber an einen personifizierten Gott, der da irgendwo thronte und dem offenbar seine Geschöpfe völlig entglitten waren. Temming tat sich auch schwer damit, wenn Theologen nach einer Katastrophe damit trösteten, dass Gottes Wege eben unergründlich seien. Dies wiederum, so dachte Temming, würde letztlich bedeuten, dass tausendfaches Leid und Elend nötig seien, um das Ziel der Schöpfung zu erreichen.

Für Temming waren Religionen der von Menschen gemachte Versuch, eine Erklärung für das Unerklärbare zu finden. Und dies auf einem schmalen Grat, den es heutzutage zumindest in der westlichen Hemisphäre zu beschreiten galt: Hier die gnadenlosen Realisten, die nur glaubten, was man beweisen konnte – dort die Spirituellen, die ein Gespür für etwas hatten, das nicht ins wissenschaftliche Weltbild passte. Wenn im Bekanntenkreis, der überwiegend aus knallharten Geschäftsleuten und Managern bestand, das Gespräch auf solche Themen kam, konnte Gisela wortreich die Realisten kritisieren, die sie als intolerant und Ignoranten beschimpfte, die keine andere Meinung gelten ließen.

Was seine Frau bewogen hatte, sich mit den sogenannten Grenzwissenschaften auseinanderzusetzen, konnte er nur ahnen: Vermutlich war es auch das Ereignis von 1968 gewesen, das ihre Sehnsucht nach einem Wissen darüber geweckt hatte, was nach dem Tode geschehen würde. Dass sie dies nicht mit esoterischer Literatur oder mit Veröffentlichungen irgendwelcher Scharlatane tat, beruhigte ihn. Gisela ließ sich auch nicht von abenteuerlichen Geschichten aus dem Internet beeindrucken, sondern suchte gezielt nach Dokumentationen, hinter denen seriöse Autoren und Verlage standen. Für Gisela bestand kein Zweifel: Es gab Phänomene, die sich bislang nicht erklären ließen. Sie pflegte oft zu sagen: »Vieles, was wir heute wissen, war für die Menschen vergangener Jahrhunderte ein rätselhaftes Phänomen. Warum soll es so etwas nicht auch jetzt geben?« Natürlich hatte sie recht. Das Wissen künftiger Generationen würde manches plausibel machen. Gerne würde Temming deshalb die Welt in 500 Jahren noch einmal sehen. Gisela war davon überzeugt, dass sich sowohl negative als auch positive Ereignisse in den Ort des Geschehens einbrannten – genau so, wie sie dies im menschlichen Gedächtnis taten. Für Gisela hatte auch die Umwelt ein Gedächtnis.

Temming vermochte dies allerdings nicht nachzuvollziehen. Aber falls an dieser Theorie etwas dran war, dann hatte sich auch in ihr Haus etwas Schreckliches eingebrannt. Gisela hatte diese Vermutung zwar nie erwähnt, doch stand sie unausgesprochen zwischen ihnen.

Als Beispiel für positives Umgebungsgedächtnis nannte Gisela meist die sakrale Atmosphäre einer Kirche. Dort werde durch Gebete und Gottesdienste so viel positive Energie gespeichert, dass sich dies auch auf die Menschen auswirke. Ähnliches glaubte Gisela auch in Veranstaltungsräumen zu spüren: Waren sie mit guter Energie erfüllt, fühlte sie sich bereits beim Betreten wohl – gab es schlechte, befiel sie ein innerer Schauder. Dasselbe galt für sie bei Treffen im Freundeskreis. Ihr Gefühl konnte ihr angeblich bereits nach wenigen Minuten sagen, ob die Stimmung gut oder schlecht sein würde.

Seit sich Gisela mit solchen Dingen beschäftigte, musste er in schlaflosen Nächten an all dies denken. Hatten Häuser wirklich ein Gedächtnis? War es dies, das ihn davon abhielt, das Dachgeschosszimmer zu betreten? Manchmal war er monatelang nicht da oben gewesen. Und wenn es sich nicht vermeiden ließ, überkam ihn jedes Mal ein eisiges Gefühl der Angst. Er hatte nie mehr wieder das Fenster geöffnet – und er mied es sogar, durch die Scheibe nach unten zu schauen, obwohl es den Brunnen schon lange nicht mehr gab. Sie hatten ihn gleich nach dem Geschehen zuschütten lassen.

Es gab sogar Nächte, in denen er befürchtete, sie seien nicht allein in dem großen Haus. Einige Male war er in den vergangenen Jahren aufgestanden, weil er Einbrecher vermutet hatte. Doch da hatte es nichts gegeben. Ein altes Haus verursachte eben Eigengeräusche. Wärme- und kältebedingt. Rohre dehnten sich aus und zogen sich zusammen, die Holzböden knarrten, das teilweise antike Mobiliar sowieso. Seltsamerweise hatte in solchen Fällen dann meist in irgendeinem Zimmer Licht gebrannt. Es war wohl vergessen worden, es auszuknipsen. Auch dass nach solchen belastenden Nächten sehr oft anderntags ein elektronisches Gerät nicht mehr funktionierte oder Glühlampen kaputt gingen, war nichts weiter als ein Zufall, dachte Temming nun wieder, während vom Wohnzimmer der dumpfe Zwei-Uhr-Schlag der Standuhr ins Schlafzimmer heraufdrang.

Unweigerlich fragte er sich, ob nach dieser Nacht auch morgen wieder etwas defekt sein würde …

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