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Sven Temming, gerade 42 Jahre alt geworden, war kein großer Redner. Und schon gar keiner, der improvisieren konnte. Dass er heute seinen übermächtigen Vater, den Senior des Hauses, vertreten musste, hatte ihn ziemliche Überwindung gekostet. Immerhin handelte es sich bei der Besuchergruppe, die vor ihm saß, um altgediente Unternehmer, die darauf vorbereitet gewesen waren, mit dem Senior ins Gespräch zu kommen. Der aber hatte kurzfristig aus persönlichen Gründen die Teilnahme absagen müssen, wie Sven Temming mit belegter Stimme erklärte. Und wieder einmal überkam ihn dabei das fahle Gefühl, noch immer als der wenig akzeptierte Junior zu gelten, der in diesem Familienbetrieb keine natürliche Autorität und kein Selbstbewusstsein entfalten konnte.

Als er voriges Jahr die Führung des traditionsreichen Chemieunternehmens übernahm, fühlte er sich ins eiskalte Wasser geworfen. Zwar war er drei Jahre lang der Juniorchef gewesen, doch hatte allein sein Vater die Richtlinien bestimmt. Und der war nicht davor zurückgeschreckt, den Sohn vor den Mitarbeitern bloßzustellen. Wenn der Senior seine berühmt-berüchtigten cholerischen Anfälle bekam, blieb davon auch Sven nicht verschont. Dann zog er sich meist wortlos zurück. Frühere Mitarbeiter hatten ihn einmal damit getröstet, dass auch der Seniorchef Ähnliches durchgemacht habe: »Der hat Ihren Vater in den 60er-Jahren regelrecht gezwungen, den Betrieb zu übernehmen«, war ein Satz, den Sven schon viele Male gehört hatte. Natürlich war es für seinen Großvater Georg gewiss nicht einfach gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg einen Betrieb zu gründen und erfolgreich zu sein. Sven wusste auch um die Fehde, die es damals innerhalb der Familie um den Nachfolger gegeben hatte. Und er kannte auch die Geschichte um den ›tragischen Unfall‹, wie der Tod des Bruders seines Vaters immer genannt wurde. Sven kannte den Siegfried natürlich nur von Fotos. Es wäre sein Onkel gewesen.

Sven hatte schon oft darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn es diesen tragischen Fenstersturz nicht gegeben hätte. Dann wäre ganz gewiss nicht sein Vater Firmenchef geworden, sondern dieser Siegfried – und die Erbfolge wäre eine ganz andere geworden. So aber hatte das Schicksal nun ihn, den 42-jährigen Sven zum Unternehmer gemacht. Von Beruf Sohn, meldete sich oftmals eine innere Stimme. Irgendwo hatte er diese böse Bezeichnung einmal gelesen. Sie war nicht auf ihn bezogen gewesen, aber zutreffend war sie.

Einige Male schon hatte er nach einem Tobsuchtsanfall seines Vaters ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, die Firma zu verlassen und auf das Erbe zu verzichten. Dass er es doch nicht tat, lag an den enormen Gewinnen, die der Expansionskurs des Vaters zweifelsohne bescherte. Mitte der 90er-Jahre hatte der seine Fühler erfolgreich in den Nahen Osten ausgestreckt. Iran, Irak, Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate. Der alte Herr hatte mithilfe seiner Parteifreunde einflussreiche Wirtschaftsvertreter aus diesen Ländern kennengelernt. Seither florierte das Geschäft, auch wenn die eine oder andere chemische Substanz, die sie exportierten, möglicherweise nicht allein für die offiziell bestimmte Nutzung verarbeitet wurde. Aber deshalb brauchten sie doch kein schlechtes Gewissen zu haben. Senior Temming hatte im Familienkreis einmal gesagt: »Wenn einer Kabel herstellt, weiß er doch auch nicht, ob der Käufer damit nur eine Lampe anschließt.«

Sven Temming fühlte sich unwohl. Der Krawattenknoten spannte, sein dunkles Jackett war viel zu dick. »Meine Damen und Herren«, begann er zögerlich und blickte in die Runde von einigen Dutzend Männern und Frauen, alles ältere Herrschaften, die einer Ruhestandsvereinigung der Industrie- und Handelskammer angehörten. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, ihre halbjährlichen Treffen stets mit der Besichtigung eines Betriebes zu verbinden. »Mein Vater lässt sich also entschuldigen«, wiederholte Sven Temming und blickte im Konferenzraum verunsichert auf die Besucher, die um eine U-förmig angeordnete Tischformation saßen, vor sich Getränke und Gebäck. Er glaubte zu spüren, dass sie ihn nicht ernst nehmen würden. Sie waren den Senior gewohnt, hatten sich jahrelang bei allen wichtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anlässen getroffen. Da galt er, der Junior, doch nur als Mitläufer. Auch jetzt noch. Denn er hatte Hemmungen, sich irgendwelchen Gesprächskreisen oder unternehmerischen Aktivitäten außerhalb der Firma anzuschließen, übernahm keinerlei Funktion in der Industrie- und Handelskammer und galt als menschenscheu.

Er suchte vergeblich Blickkontakt mit einem Gesicht, das ihm gewisses Verständnis entgegenbringen würde. Sowohl die Damen als auch die Herren gaben sich vornehm distanziert und schienen enttäuscht zu sein, nur von ihm begrüßt zu werden. Zumindest bildete er sich dies ein.

»Die Alb-Donau-Chemiefabrik wurde 1952 gegründet«, erklärte er sachlich und bemerkte selbst, dass seine Stimme viel zu leise klang und nur mühsam das Gebläse des Beamers übertönte, der per Power-Point-Präsentation das Firmenlogo an die weiße Stirnseite des Raumes projizierte. »Eine mutige Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg«, fuhr er fort und ließ per Fernbedienung ein historisches Foto erscheinen, das ein kleines Haus am heutigen Firmensitz zeigte. »Mein Großvater Georg war Jahrgang 22 und wurde in keine gute Zeit hineingeboren. Seine Begeisterung für die Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie, wurde schulisch nicht gefördert. Noch bevor er ein Studium aufnehmen konnte, wurde er in die Wehrmacht eingezogen, war bei der Besetzung Frankreichs und Belgiens dabei und entging nach der Invasion der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 mit sehr viel Glück der englischen Gefangenschaft. Nach Ende des Krieges bemühte er sich um ein Studium der Chemie, das letztlich zu der mutigen Gründung eines kleinen Betriebs hier in Ulm führte.« Wie die ersten Produkte für den Haushalt aussahen, zeigten Bilder, die der Beamer an die Leinwand warf. Temming kommentierte: »Chemische Mittel für den Haushalt. Zuerst Schuhcreme, dann Putzmittel für die Spülsteine. Man hat damals ja noch nicht die heutigen Cromarganbecken gehabt. Hier …« Er ließ mit einem Knopfdruck das Bild eines Kartons mit entsprechender Aufschrift erscheinen. ›Donau-Feinputz – damit’s so sauber wie die Donau wird‹, hatte es geheißen. Ein Werbespruch, der aber mit zunehmendem Umweltbewusstsein sehr schnell aus dem Verkehr gezogen worden sei, betonte Timming kleinlaut.

Nachdem er eine Viertelstunde die weitere Entwicklung des Betriebs erläutert hatte, unterbrach ihn ein hörbar genervter Zwischenrufer aus dem Kreise der ältesten Besucher: »Wir hätten den verehrten Herrn Seniorchef heute auch mal gerne gefragt, wie er den Übergang von seinem Vater auf ihn erlebt hat. Es war für den Vater doch sicher nicht leicht gewesen, sich von seinem Lebenswerk zu trennen.« In der Stimme schwang Verbitterung mit.

Sven Temming war für einen Moment wieder verunsichert. Er musterte den Fragesteller, konnte mit dem Gesicht aber keinen Namen in Verbindung bringen. Augenblicke später hatte er sich einigermaßen gefangen: »Wenn Gründerväter ihr Lebenswerk an einen Nachfolger abgeben müssen, ist das keine einfache Entscheidung. Sie alle …« – er überflog die annähernd 40 ergrauten Köpfe – »… dürften da auch mehr oder weniger schmerzhafte Erfahrungen gesammelt haben.«

Ein kurzes Raunen ging durch den klimatisierten Raum, das Temming als akustisches Zeichen der Zustimmung wertete. Inzwischen stand ihm Schweiß auf der Stirn, sein korrekt gescheiteltes schwarzes Haar glänzte gegelt. »Mein Großvater Georg hat jedoch das aufblühende Geschäft bis ins hohe Alter verfolgen dürfen. Wie Sie wissen, ist er erst vor drei Jahren im hohen Alter von 92 Jahren verstorben.«

Der Fragesteller, selbst schon weit in den 80ern, aber geistig und körperlich fit, wollte sich damit nicht zufriedengeben: »Dann hat Ihr Vater noch sehr lange unter dem Erfolgsdruck seines Vaters gestanden. Nahezu während seiner ganzen eigenen unternehmerischen Tätigkeit, wenn ich das richtig sehe.«

Sven Temming holte tief Luft und fühlte sich ertappt: Vielleicht erging es ihm ja eines Tages genauso. Wieder spürte er, wie dieser Druck auf ihm lastete, wie er auf die Bilanzen der Vorjahre schielte, um sie möglichst weiter nach oben zu treiben. Der Vater schien allgegenwärtig zu sein, auch wenn er sich nicht am Firmensitz in Ulm aufhielt, sondern – wie heute – daheim in Kuchen, einer Gemeinde bei Geislingen an der Steige, rund 35 Kilometer von hier entfernt.

Temming hatte ein paar Sekunden für eine Antwort gebraucht: »Wir alle, das wissen Sie, stehen unter Erfolgsdruck. Aber die Zeiten ändern sich schnell – und alles war sicher gut zu seiner Zeit. Aber die Änderungen in Politik und Wirtschaft gehen rasant vonstatten, und da gilt es, mit den Mitteln der heutigen Zeit zu reagieren. Denken Sie nur an vergangenen Sommer, als die Briten plötzlich für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Noch heute, ein Jahr danach, weiß niemand so genau, welche Folgen dies für die weitere wirtschaftliche Zukunft Europas hat. Oder denken Sie an die USA, an Präsidenten Donald Trump und dessen unberechenbare Politik.«

Temming musste sich eingestehen, dass er sich elegant einer konkreten Antwort entzogen hatte, und hoffte, keine weiteren Fragen zur familiären Situation entgegennehmen zu müssen. Er entschied, sie ab sofort einfach zu ignorieren.

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