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Kapitel 6
ОглавлениеTobias Liebenstein war mit der Frühmaschine von Berlin nach Stuttgart geflogen. Er gehörte zu den Männern, die um diese Zeit durch die Republik jetteten. Das schwarze Haar korrekt gescheitelt, mit ein bisschen Gel am Glänzen gehalten, schlank und sportlich. Wer ihn in Stuttgart aus dem Flugzeug steigen sah, hätte glauben können, einen dieser jungen Bänker vor sich zu haben, deren einziges Lebensziel es war, das Geld anderer Leute Gewinn bringend für sich selbst anzulegen. Doch Liebenstein, der seinen schwarzen Aktenkoffer fest umklammerte, war in anderer Mission unterwegs. Er winkte am Ausgang des neuen Stuttgarter Abfertigungsgebäudes einem Taxi und ließ sich zu einer dieser Villen chauffieren, die sich an die sonnenverwöhnten Hänge oberhalb der Stadt schmiegten.
Der Fahrer fand die angegebene Adresse in der Weinsteige auf Anhieb, kassierte und entließ seinen wortkargen Gast.
Liebenstein drückte auf den goldenen Klingelknopf, den er ohne Namensschild neben einem großen, schmiedeeisernen Torbogen entdeckte. In diesen vornehmen Wohnlagen blieb man offenbar lieber anonym. Der Berliner blickte sich um und lächelte in das kleine Objektiv einer Videokamera, die unauffällig zwischen rankenden Pflanzen angebracht war. Die Sträucher waren nass, auf einem Baum zwitscherten Amseln. Hinter dem Tor duckte sich das Gebäude in den Hang und erweckte mit seinem Flachdach einen eher bescheidenen Eindruck. Doch von seinen früheren Besuchen her wusste Liebenstein, dass es sich über drei Ebenen den Hang hinab erstreckte, umgeben von einem geradezu mediterranen Garten.
»Ja?« Eine Männerstimme meldete sich aus einem winzigen Lautsprecher, der in den Betonrahmen des Tores eingelassen war, von dem Wasser tropfte.
»Hallo Stefan, ich bin’s, Liebenstein«, sagte der Besucher leise. Der elektrische Türöffner summte. Der junge Mann durchschritt den mit blühenden Stauden eingefassten Gartenweg und erreichte das schwere Eichenportal, das die ziemlich öde erscheinende graue Sichtbetonwand des Gebäudes unterbrach. Dort wartete Stefan Beierlein, ein Endfünfziger mit burschikosem Auftreten.
»Pünktlich auf die Minute«, lächelte er und schüttelte seinem Besucher die Hand. »Komm rein.« Er führte Liebenstein durch ein großzügig gestaltetes Foyer, das mit Erinnerungsstücken aus verschiedenen Ländern ausgestattet war, unter anderem mit einem riesigen, glitzernden Säbel, der an der Wand hing.
Sie gingen über eine breite, geschwungene Treppe ein Stockwerk tiefer. Dort gab es einen Raum, der mit modernen, pastellfarbenen Polstermöbeln eingerichtet war. Die gesamte Außenwand bestand aus einer einzigen Glasfront, an der Regen abwärts rann. Durch das nasse Fenster hindurch bot sich ein traumhafter Blick über die gesamte Stuttgarter City. Draußen auf der Terrasse standen Terracottagefäße, in denen hohe südliche Pflanzen wuchsen. Von dem steil dahinter abfallenden Hang ragten die Wipfel alter Nadelbäume herauf. Der Hausherr wies seinem Gast einen Platz in einem der Polstersessel zu, die sich um einen ovalen Glastisch gruppierten.
»Meine Frau lässt sich entschuldigen, sie ist unten im Hallenbad«, erklärte der Gastgeber, »willst du was trinken?«
Liebenstein lehnte dankend ab, stellte den Aktenkoffer neben sich und zog das feucht gewordene Jackett aus.
»Schön, dass alles so wunderbar ins Laufen kommt«, meinte der Villenbesitzer. »Unsere Jungs gestern haben auch gestaunt, wie weit wir schon sind.«
»Waren denn alle da?«, zeigte sich Liebenstein interessiert.
Sein Gegenüber nickte zufrieden. »Alle, ja. Und was für mich das Wichtigste war: Sie halten zur Stange. Niemand hat daran Zweifel aufkommen lassen.«
»Und Lanski?«
»Bestens, mein Freund. Ich bin überzeugt, dass er die nötigen Kontakte hinkriegt. Wenn nicht er, wer denn dann sonst?«
»Du meinst Kontakte zu Klinsmann?« Beierlein nickte bedächtig.
Als der Kripo-Mercedes durch die Bahnunterführung rollte, tauchten vor Häberle und Bruhn die zuckenden Blaulichter unzähliger Einsatzfahrzeuge auf. Sie reihten sich hintereinander entlang der Zufahrt zu den Parkplätzen der Baufirma. Die uniformierten Kollegen hatten das Auto bereits gesehen, worauf sie einen der Kombis beiseite rangierten, sodass Häberle bis zu den rot-weißen Absperrbändern vorfahren konnte.
Kaum hatte der Kommissar den Mercedes abgestellt, sprang Bruhn energisch vom Beifahrersitz und stürmte durch den Nieselregen wortlos auf einen Zivilisten zu, der die Spurensicherung leitete. »Und? Erkenntnisse?«, raunzte er ihn ohne ein Wort der Begrüßung an, während Häberle zunächst den Uniformierten freundschaftlich die Hände schüttelte und sich vom Leiter der Kriminalaußenstelle Geislingen, Rudolf Schmittke, zum Fundort der Leiche führen ließ. Dort schienen mehrere Beamte in weißen Schutzanzügen behutsam jeden Kieselstein einzeln zu untersuchen. Außerdem hatte sich bereits ein junger Kriminalist Notizen gemacht. Es war Mike Linkohr, mit dem Häberle in den vergangenen Jahren schon einige knifflige Fälle gelöst hatte. Er begrüßte auch ihn mit Handschlag. »Vielleicht wieder was für uns«, meinte er aufmunternd, was Linkohrs Gesicht sofort erstrahlen ließ. Mit diesem Ermittler zusammen zu arbeiten, das bereitete ihm große Freude. Wortlos standen sie vor dem Toten, der auf dem Rücken lag, das Gesicht ein einziger roter Klumpen, dazwischen schwarze Haare. Blut hatte sich mit Regen vermischt und am Bauch der Leiche eine kleine Pfütze gebildet. Ziemlich unappetitlicher Anblick, dachte Häberle, der in seinem Berufsleben schon viele übel zugerichtete Leichen gesehen hatte. Diese hier aber bot einen besonders schrecklichen Anblick. Für ihn war klar: Da hatte jemand mit Schrot aus allernächster Nähe auf den Kopf geschossen. Auch unterhalb des Halses war das Hemd des Toten mit Blut durchtränkt. Offenbar auch noch ein Schuss in die Brust. Die Beine, die in einer hellen Hose steckten, waren abgewinkelt, die Arme nach beiden Seiten weit weg gestreckt, das blaue Jackett aufgeknöpft.
Häberle ließ das Bild für einen kurzen Moment auf sich wirken. Er versuchte, sich jeden Tatort genau einzuprägen. Lage der Leiche, die Umgebung, den Boden, das Gelände. Bruhn hingegen erwartete von den Kollegen der Spurensicherung bereits konkrete Einzelheiten. »Eine Schrotflinte?«
»So, wie’s aussieht, ja.«
»Projektile?«
»Wir suchen. Hat aber bei Schrot wenig Sinn.«
Bruhn nahm diese Bemerkung nicht zur Kenntnis, sondern blickte sich um. »Es dürfte nicht allzu schwer sein, hier etwas zu finden.« Um sie herum war der Boden nahezu vollständig asphaltiert, aber nass. Nur die bewachsene Bahnböschung würde schwieriger zu durchsuchen sein. Oben rauschte gerade ein ICE vorbei.
»Was sagt der Herr Doktor?«, erkundigte sich Häberle, an Schmittke und Linkohr gewandt.
»Sieben, acht Stunden dürfte es her sein«, antwortete der Geislinger Außenstellen-Chef, während sich Bruhn zu ihnen stellte und dazwischen fuhr: »Identität?«
»Keine Papiere, nichts«, antwortete Schmittke schnell, um gleich gar nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, etwas versäumt zu haben.
»Reifenspuren?« Bruhns Stimme hatte stets etwas Militärisches an sich.
»Keine Chance.«
»Und hier drin wohnt niemand?« Bruhn deutete auf den verlassen erscheinenden Komplex des Bauunternehmens. Auch jetzt am Vormittag rührte sich hinter dem geschlossenen Tor nichts.
»Stillgelegt«, erklärte Linkohr vorsichtig, wohl wissend, dass er als Angehöriger niederer Dienstränge in Anwesenheit Bruhns eigentlich kein Rederecht hatte. Der oberste Kripochef tat deshalb auch so, als habe er die Bemerkung gar nicht zur Kenntnis genommen.
Unterdessen bog der schwarz-beige Leichenwagen des örtlichen Bestattungsunternehmens von der Landstraße ab. Es waren Vater und Sohn Leichtle, die sich meist höchstpersönlich der Verbrechensopfer annahmen. Die beiden Männer ähnelten sich, was Körperfülle, Schlagfertigkeit und positive Lebenseinstellung anbelangten, wie ein Ei dem anderen. Vermutlich brauchte man für diesen Job auch eine gewisse Portion schwarzen Humor.
Leichtle, der Ältere, kam so schnell, wie es ihm seine Zweizentnerstatur gestattete, auf die Kriminalisten zu und trug ein breites Grinsen zur Schau: »Sind wir denn in Chicago oder was?« Er schüttelte den Männern die Hände, sein Sohn tat es ihm nach.
Häberle sah ihn spitzbübisch an und frotzelte: »Wenn einer bei einem Verbrechen legal verdient, dann der Leichenbestatter.«
Leichtle machte eine drohende Armbewegung, was Bruhn zu einem verständnislosen Kopfschütteln veranlasste. Des Leichenbestatters Sohn inspizierte inzwischen den Toten. »Wer ist das?«, wandte er sich an die Kriminalisten.
Bruhn fühlte sich zur Antwort verpflichtet: »Wissen wir nicht. Bis jetzt nicht.«
Leichtle senior war neben seinen Sohn getreten und besah sich nun ebenfalls die Leiche. »Vom Gesicht nicht mehr viel übrig«, stellte er fest, »da hat wohl einer mit einer Kanone geballert, was?«
Bruhn winkte ab und lief demonstrativ weg. »Eine ›Käpseles-Pistol‹ war’s nicht.« Keiner der Umstehenden wusste, ob Bruhn mit dem Hinweis auf eine Spielzeugpistole einen Spaß versucht hatte, oder ob es eher eine ernst zu nehmende Feststellung war, um Leichtles Bemerkung unwirsch abzutun. Die meisten vermuteten das Letztere.
Häberle wurde nach einigen Sekunden betretenen Schweigens sachlich: »Das sieht wirklich verdammt nach einer Hinrichtung aus.«
Und Leichtle junior glaubte zu wissen: »Wenn ich mich richtig erinnere, hab ich mal gelesen, dass man in Mafiakreisen abgesägte Schrotflinten bevorzugt. Man sagt wohl ›Luparo‹ dazu.«
Häberle wollte nicht widersprechen. Nur Bruhn bäffte: »Sie müssen’s ja wissen.«