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Kapitel 11
ОглавлениеDas Medieninteresse war groß. Sogar die beiden Stuttgarter Blätter waren vertreten, als der Leitende Oberstaatsanwalt aus Ulm, Dr. Wolfgang Ziegler, im Lehrsaal der Geislinger Feuerwehr die Journalisten begrüßte. Links von ihm saß August Häberle, rechts der uniformierte Leiter der Polizeidirektion Göppingen, der herbeigeeilt war, um die Bedeutung dieser Pressekonferenz zu unterstreichen. Ihm zur Seite hatte Pressesprecher Uli Stock Platz genommen, dem die undankbare Aufgabe oblag, ein Statement vorzubereiten, in dem mit dürren Worten Angaben zu dem Toten gemacht und mögliche Zeugen gesucht wurden.
Neben einem Reporter von SWR 4, der sich zunächst Notizen machte, waren auch mehrere sehr jugendliche Journalisten von privaten Radiostationen gekommen, die ihre Mikrofone ziemlich unkontrolliert in die Luft hielten. Drei Fotografen lichteten einige Male die ›Offiziellen‹ ab, denen an der Querseite des Raumes zwei Tische aneinander geschoben worden waren.
In der ersten Reihe hatte der örtliche Polizeireporter Georg Sander Platz genommen. Ihm war natürlich bereits in den Vormittagsstunden das Verbrechen zu Ohren gekommen, doch hatte er bisher keine einzige Quelle anzapfen können, die ihm mehr hätte sagen können, als was in der ersten Sechszeilenmeldung von Polizeidirektion und Staatsanwaltschaft gestanden war.
»Sehen Sie uns bitte nach, dass wir Ihnen nur wenig Habhaftes berichten können«, versuchte Staatsanwalt Ziegler gleich von vornherein bohrende Fragen abzuwenden. »Wir wissen weder, wer der Tote ist, noch wo er war – und schon gar nicht, was er gestern am späten Abend in diesem abgeschiedenen Winkel am Bahndamm getan hat. Wir gehen derzeit davon aus, dass er jemand getroffen hat – aber auch dafür gibt es leider keine Beweise.«
Ziegler gab eine kurze Beschreibung des Toten, sofern dies trotz der starken Verstümmelung des Kopfes noch möglich gewesen war. Er erwähnte auch den Ring mit dem eingravierten Datum des 8. August 1988.
Dann erteilte er Häberle das Wort, der zunächst die Journalisten begrüßte und seine Notizzettel übersichtlich nebeneinander legte. Er schilderte detailliert, wie wichtig jeder noch so kleine Hinweis aus der Bevölkerung sein konnte. »Wir sollten wissen, ob jemand gestern Abend so ab 20 oder 21 Uhr in Tatortnähe etwas Verdächtiges bemerkt hat – Fahrzeuge, Personen und so weiter.« Der Kommissar schob das erste Blatt beiseite. »Vielleicht wird eine Person vermisst, auf die unsere Beschreibung zutreffen könnte. Oder es hat jemand den Mann an der Landstraße laufen sehen. Eigentlich muss er aufgefallen sein – denn wer spaziert schon bei diesem Wetter abends an dieser Stelle rum?«
Die Journalisten schrieben eifrig mit, obwohl sie Stocks aktuelle Presseerklärung bereits erhalten hatten.
Als Häberle fertig war und sich eingestehen musste, dass erschreckend wenig Fakten vorlagen, meldete sich der Direktionsleiter zu Wort: »Sie können ruhig schreiben, dass die Polizeidirektion auch für Hinweise auf scheinbar belanglose Beobachtungen dankbar ist. Vielleicht …« Er überlegte. »… vielleicht macht sich ja jetzt mal unser Präventionsprogramm bemerkbar, mit dem wir die Bevölkerung zu größerer Zeugenbereitschaft aufgerufen haben.«
Nach knapp einer Viertelstunde war alles gesagt. Dann hob Georg Sander den linken Arm und meldete sich, ohne aufgerufen worden zu sein, sogleich zu Wort. »Diese Schüsse«, sagte er, »weiß man, mit welchem Kaliber?«
Die vier Männer an der Stirnseite schauten sich an und einigten sich darauf, dass Häberle antworten sollte. »Es war Schrot«, sagte er, »zwei Schüsse. Um diese zwei Schüsse hintereinander abfeuern zu können, bedarf es einer zweiläufigen Waffe. Einer ›Luparo‹, wie man in einschlägigen Kreisen dazu sagt.« Der Ermittler wartete, bis Sander mitgeschrieben hatte, und ergänzte: »Bei Schrot gibt es keine Hülsen – und außerdem lässt es sich nicht einer bestimmten Waffe zuordnen, wie unsere Techniker dies bei einem normalen Projektil tun können.«
»Aber die Schüsse waren sicher ziemlich laut«, gab Sander zu bedenken, »die hätte doch leicht jemand in der Nähe hören können.«
»Denken Sie an das Wetter gestern. Spaziergänger jedenfalls waren keine unterwegs«, gab Häberle zu bedenken, »und denken Sie an die Eisenbahn. Wenn der Täter wartet, bis ein Zug vorbeifährt, vielleicht einer dieser scheppernden, alten Güterzüge, dann gehen die Schüsse unter.«
»Und welches Motiv vermuten Sie?«, rief die jugendliche Stimme eines Radiopraktikanten, der ein handliches digitales Aufzeichnungsgerät um den Hals baumeln hatte.
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Ziegler, »da ist das ganze Spektrum möglicher Straftaten denkbar. Vom Drogendeal bis hin zu einem Raubmord – schließlich haben wir bei dem Toten keine persönlichen Gegenstände gefunden. Das kann auf Raub schließen lassen – oder auf die gründliche Beseitigung sämtlicher Identitätspapiere.« Ziegler sprach wie immer langsam, sachlich und überzeugend. Er zuckte mit den Schultern. »Wir wissen’s halt nicht.«
»Es kann also überregional bedeutsam werden?«, fragte der SWR 4-Vertreter.
»Selbstverständlich«, antwortete der Staatsanwalt, dessen volles Haar seit seinem letzten Besuch in Geislingen wieder um eine Schattierung weißer geworden war, wie Sander registriert hatte. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, schloss Ziegler. Dieser Standardsatz musste ja kommen, dachte der Geislinger Lokaljournalist und klappte seinen Notizblock zu.
»Vielleicht sollte man noch eines sagen«, meldete sich Häberle erneut zu Wort. Sander, der gerade seinen Kugelschreiber in die Innentasche seines legeren Sommerjacketts stecken wollte, hielt in der Bewegung inne.
»Bei dem Toten handelt es sich allem Anschein nach um eine ziemlich gepflegte Person.« Der Kommissar schob ein weißes Notizblatt zu sich her. »Seine Finger machten jedenfalls einen gepflegten Eindruck – nicht die eines … eines Stadtschlampers, wenn man das so sagen darf. Eher ein Schreibtisch-Mensch, einer, der im Büro arbeitet.«
Oberstaatsanwalt Ziegler fuhr sich durchs lockige Haar. »Wenn wir uns davon leiten lassen, dann haben wir’s vermutlich mit einem Fall zu tun, der möglicherweise in sozial höheren Schichten anzusiedeln ist.«
»Zum Beispiel?«, hallte eine Frauenstimme durch den Saal. Es war die regionale Mitarbeiterin der ›Stuttgarter Zeitung‹.
»Ersparen Sie mir eine Aufzählung«, erwiderte Ziegler, worauf Häberle spontan meinte: »Es könnte sich um Kreise handeln, in denen man sich normalerweise die Hände nicht selbst schmutzig macht.«
Ein Journalist, der offenbar das große, bundesweite Boulevardblatt vertrat, sprach sofort aus, was andere dachten: »Sondern sich anderer bedient … hab ich Recht?«
Die Offiziellen schwiegen. Dann erklärte Ziegler die Pressekonferenz für beendet.
Ministerialdirektor Harald Gangolf war einigermaßen beunruhigt. Er trommelte mit den Fingern auf der blanken Schreibtischplatte aus Nussbaum und starrte das abstrakte Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand an. Wie immer, wenn er nervös war, versuchte er, in den Farbklecksen irgendwelche Gebilde zu erkennen – was ihm aber nie gelang. Dieser Bundestagsabgeordnete Riegert schien ein Problem zu werden, dachte er. Zumindest sah es nach allem, was Eva Campe vorhin berichtet hatte, nach keinen einfachen Verhandlungen aus.
Gangolf kämpfte mit sich, ob er in Riegerts Wahlkreis aktiv werden musste. Vielleicht würde es den Vertretern der dortigen Wirtschaft gelingen, Einfluss auf den Abgeordneten zu nehmen. Immerhin war dort Arbeitgeberpräsident Dr. Hundt mit seinem Unternehmen angesiedelt. Andererseits bestand die Abmachung, die Spitzenfunktionäre grundsätzlich nicht in die Schusslinie zu bringen, um ihre Position nicht zu schwächen.
Der Ministerialdirektor empfand die Stille in seinem großen Büro als beängstigend. Es war ihm, als sei er mutterseelenallein mit einem Vorhaben, das jetzt nicht mehr zu stoppen sein würde. Einmal in Gang gesetzt, gab es kein Zurück mehr.
Während er grübelte und in dem Gemälde noch immer keine Logik entdeckte, kam ihm Nullenbruch in den Sinn. Klar, Nullenbruch. Dieser Mittelständler in Göppingen. Er hatte ihn vor zwei Jahren bei einer Konferenz von Wirtschaftsfunktionären in Stuttgart kennen gelernt. Ein bodenständiger Unternehmer, ein Schwabe. Aber auch ein Dickschädel. Vor allem aber einer, der davon zu überzeugen gewesen war, dass die Stimmung im Lande dringend eine Kehrtwendung brauchte. So ein Mann konnte den örtlichen Abgeordneten der Opposition bei weitem besser in die Zange nehmen, als er, der Angehöriger der Regierungskoalition war. Außerdem würden ohnehin in vier Monaten die Rollen getauscht sein.
Er öffnete die schwere Seitenschublade und brachte ein gebundenes Notizbuch hervor, in dem er Nullenbruchs Nummer sofort entdeckte. Telefongespräche dieser Art pflegte er direkt zu führen – ohne sich von seiner Vorzimmerdame verbinden zu lassen.
Nach dem dritten Rufton meldete sich die Stimme einer jungen Frau, deren Namen er nicht verstand, die aber artig den deutschen Telefon-Standard-Text gebrauchte und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«
Dümmliches Geschwätz, dachte Gangolf. Wo immer er anrief, wurde er mit dieser Floskel konfrontiert. Irgendein hoch dotierter Unternehmensberater hatte diese Art, sich am Telefon zu melden, wohl mal als besonders freundliche Formulierung in die Welt gesetzt – und seither wurde dies landauf, landab nachgeplappert.
»Sie können nichts für mich tun«, sagte der Ministerialdirektor deshalb unfreundlich, »ich hätt gern Herrn Nullenbruch gesprochen.«
»Tut mir leid«, säuselte eine junge Frauenstimme, »Herr Nullenbruch ist auf Geschäftsreise. Aber ich kann Sie mit Frau Siller verbinden.«
Er überlegte einen kurzen Moment. Fast zu lange, denn die Stimme fragte nach: »Entschuldigen Sie, sind Sie noch dran?«
»Ja – ja«, antwortete der Mann und spielte nervös am Kabel. »Aber sie brauchen mich nicht zu verbinden. Danke. Recht schönen Dank.« Dann legte er auf, blätterte erneut in seinem Notizbuch und war froh, Nullenbruchs Handynummer notiert zu haben. Er drückte sie in die Tastatur – doch statt eines Ruftons blieb die Leitung zunächst still. Schließlich teilte die Allerweltsstimme mit, dass der Angerufene derzeit nicht erreichbar sei.
Gangolf warf den Hörer verärgert in die Halterung, nahm ihn aber gleich wieder heraus, um über die gespeicherte Schnellwahl-Nummern eine neue Verbindung anzuwählen. Es war Liebensteins Nummer. Nachdem dieser sich gemeldet hatte, kam Gangolf ohne Begrüßung gleich zur Sache: »Wo sind Sie?«
»Auf dem Weg zu Michael Rambusch in Aalen.«
Der Ministerialdirektor stellte sich in Gedanken die Landkarte Süddeutschlands vor. Wo genau diese Stadt war, hätte er nicht auf Anhieb sagen können. Aber Rambusch kannte er natürlich – einer der wichtigsten Männer in diesem Vorhaben. »Alles okay?«, fragte er deshalb.
»Alles okay«, entgegnete Liebenstein.
»Hören Sie zu. Sie müssen – so lange Sie da unten sind – im Kreis Göppingen noch was erledigen. Im Wahlkreis von diesem Riegert – Sie wissen, es ist dieser sportpolitische Sprecher. Am besten, Sie rufen mich an, wenn Sie bei Rambusch fertig sind. Aber richten Sie sich auf eine zusätzliche Aufgabe ein.«
Gangolf wollte das Gespräch bereits beenden, als Liebenstein zaghaft nachfragte: »Ist etwas passiert?«
»Wie kommen Sie denn da drauf?«