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Kapitel 12

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Harry Obermayer galt seit Langem als gewitzter Strippenzieher im Hintergrund. Dass Stefan Beierlein bei der gestrigen Konferenz seine Beziehungen bis in die höchsten Ebenen der Politik hervorgehoben hatte, das tat ihm noch heute gut. Tatsächlich war der Mittfünfziger mit der Stirnglatze dank seiner vielfältigen Ämter, die er auf Landes- und Bundesebene bekleidete, immer dann gefragt, wenn Kontakte, egal welcher Art, hergestellt werden mussten. Obwohl selbst der rot-grünen Bundesregierung nahe stehend, kannte er die Kanäle im schwarzen Baden-Württemberg genauso, wie die Strukturen in anderen Gesellschaftsbereichen. Eine Zeit lang war er in einer schwäbischen Kleinstadt Oberbürgermeister gewesen, doch hatte er rasch gespürt, dass die provinziellen Themen nicht seinem globalen Denken entsprachen. Manche mochten darin eine gewisse Arroganz erkannt haben, was nach der ersten Amtsperiode zu einem Debakel bei der Wiederwahl geführt hatte. Anfangs hatte er diese schmerzliche Niederlage, die allseits als die Summe vieler »Denkzettel« verärgerter Bürger gewertet wurde, nur schwer verdaut. Jetzt aber war er weithin erfolgreicher Kommunalberater – ein Job, mit dem viele abgewählte Bürgermeister offenbar recht gut leben konnten.

Man konnte Obermayer, was seinen menschlichen Umgang anbelangte, gewiss manches vorwerfen – keinesfalls aber, dass er nicht überaus korrekt war. Er kannte sich in Paragrafen und Zahlen aus, wusste blitzschnell zu kombinieren, Zusammenhänge zu erkennen, Folgerungen daraus zu ziehen. Er war wie ein Schachspieler, der bereits den übernächsten Zug im Kopf hatte, während sein Gegner noch darüber rätselte, was es mit dem letzten auf sich gehabt haben konnte.

Er war zweifelsohne der richtige Mann für die jetzige Aufgabe. Auch wenn er insgeheim noch immer mit sich rang, ob er diesen Weg mitgehen sollte. Als überzeugter Christ, der er war, spürte er seit Wochen sein mahnendes Gewissen, das ihm sagte, dass diese Angelegenheit nicht gerade auf ehrlichen Beinen stand. Andererseits handelten sie aber alle im Interesse der Allgemeinheit. Obermayer hatte seine Unterstützung zwar zugesichert, sich aber vorgenommen, nur bis zu einem gewissen Grad mitzumachen. Er konnte jederzeit aussteigen, ohne dass dadurch das ganze Vorhaben gefährdet sein würde. Das hatte er längst abgecheckt. Außerdem galt die Abmachung, dass im Ernstfall absolutes Stillschweigen herrschen musste. Viel gab es auch nicht zu verraten, hatte Obermayer festgestellt. Denn jeder kannte nur seine eigene Aufgabe, nicht aber die gesamten Strukturen. Somit würde, wenn’s hart auf hart kam, niemand irgendwelchen Verlockungen erliegen, alle Details auszuplaudern. Obermayer gefiel dieses System. Es war schlau eingefädelt. Und er selbst hatte ja nichts anderes getan, als Kontakte hergestellt.

Obermayer war mit einer Vormittagsmaschine nach Berlin geflogen. Nachdem er sich mit dem Taxi zum Kurfürstendamm hatte bringen lassen, nahm er sich trotz des miesen Wetters die Zeit, das Flair der Bundeshauptstadt zu genießen. Immer wieder aufs Neue war er von der nahezu einmaligen Kombination begeistert, wie sie hier geboten wurde: Kultur und Geschäftsleben lagen dicht beieinander – und gleich neben den stark frequentierten Verkehrsadern gab es viel Grün: Baum-Alleen, Parks und Wälder.

Weil sein Gesprächstermin erst um 16 Uhr stattfand, setzte er sich in eines der vielen Bistros, bestellte einen Salatteller und trank ein Glas Mineralwasser. Auf den Gehwegen flutete ein endloser Menschenstrom vorüber. Obermayer versuchte, die einzelnen Personen zu taxieren: Geschäftsleute, Rentner, Touristen, Hausfrauen. Dann ließ er die Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren, wie er dies schon mehrfach getan hatte – auch beim Herflug. Alles schien nach Plan zu laufen: Keine Bedenkenträger, keinerlei Widerstände. Aber die schwierigsten Aufgaben, das war ihm klar, standen erst noch bevor. Dann musste die Organisation funktionieren, vor allem aber schlagkräftig sein. Doch wenn erst das nötige Geld zur Verfügung stand, würden sich ungeahnte Möglichkeiten auftun.

Obermayer bezahlte, nahm seinen schwarzen Aktenkoffer, und schlenderte den Kurfürstendamm aufwärts, vorbei an der Gedächtniskirche. Wenigstens regnete es nicht mehr, dachte er, spürte aber die Kälte, die durch sein dünnes Jackett kroch. Er wollte zu Fuß zu seinem Gesprächstermin am Potsdamer Platz gehen. Den Weg dorthin kannte er von früheren Besuchen. Er nahm sogar einen kleinen Umweg in Kauf, um an der Siegessäule vorbeizukommen und ab dort, parallel zur ›Straße des 17. Juni‹, durch den prächtigen Wald des ›Tiergartens‹ zu gehen. Die Luft roch frisch und feucht, das zarte Grün der Bäume schien nach Sonne zu lechzen. Als das Brandenburger Tor auftauchte, hielt er sich rechts – hinüber zum geschäftigen Potsdamer Platz, den er noch aus jener Zeit kannte, als dort nichts war, als eine riesige Brachfläche, durch die mitten hindurch die Mauer verlief. Innerhalb von gerade mal 15 Jahren hatten hier die Stadt und internationale Großkonzerne einen völlig neuen Stadtteil aus dem Boden gestampft. Ein bisschen steril sah’s aus, empfand Obermayer, irgendwie viel zu einheitlich, eine Spur zu protzig.

Er streifte sich die Feuchte von den Schultern, als er sich in der Toilette eines Cafés im Sony-Center frisch machte. Dann verließ er das Lokal und überquerte die Straße – hinüber zu jenem Gebäudekomplex, an dessen vorderer Kante die Deutsche Bahn AG residierte. Zielstrebig näherte er sich einer der großen Glastüren, orientierte sich kurz an einer Wegweisertafel und erkannte, dass das Institut für kommunikative Zusammenarbeit im achten Stock untergebracht war.

Harald Gangolf begrüßte seinen Gast überschwänglich, wies ihm einen Platz in einem der wuchtigen, weißen Ledersessel zu.

»Und – wieder ein bisschen Zeit gehabt, unser schönes Berlin zu genießen?«, fragte der Gastgeber und ergänzte: »Kaffee? Mineralwasser – oder etwas anderes?«

Obermayer lehnte dankend ab. »Ich komm gerade aus einem Café. Ja, Berlin ist allemal eine Reise wert. Wenn ich sehe, was hier gebaut wird, was hier überall entsteht, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass kein Geld mehr für die ›Südstaaten‹ drunten in der Provinz bleibt.«

»Na, na, mein lieber Herr Obermayer«, entgegnete Gangolf, »Baden-Württemberg braucht sich nicht zu beklagen. Immerhin regieren doch bei euch seit Jahr und Tag die Schwarzen, die hier in Berlin glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.«

Obermayer winkte resignierend ab. »Aber bald werden sie zeigen dürfen, was sie können.« Er hasste diese gegenseitigen Schuldzuweisungen, dieses endlose Schwarze-Peter-Spiel, das zu absolut nichts führte und allenfalls dazu geeignet war, die Politikverdrossenheit der Bevölkerung zu schüren.

»Zum Glück hat unser Projekt nur indirekt etwas mit Politik zu tun«, versuchte Obermayer das Gespräch in die richtige Richtung zu bringen. Er legte den Aktenkoffer auf seine Knie, ließ die Verriegelung hochschnellen und entnahm ihm einen Schnellhefter.

»Sie haben Recht«, lenkte der Gastgeber ein und verschränkte die Arme vor der Brust, »wir haben uns ein gemeinsames Ziel gesetzt. Sie …« Er blickte auf die Papiere, die sein Gegenüber auf dem Glastisch ausbreitete, »… Sie haben, nehm ich an, Ihren kompletten Zwischenbericht mitgebracht …?«

Obermayer stellte den Koffer auf den Boden zurück und nickte. »So ist es. Wir haben sozusagen die erste Ebene installiert«, dozierte er und blätterte in dem Schnellhefter. »Ich kann sagen, dass die Strukturen funktionieren. Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Entscheidung Ihrerseits richtig war, die Zentrale – wenn ich das so sagen darf – nicht hier im Machtzentrum einzurichten, sondern in der Provinz.«

»Sagen Sie doch nicht immer Provinz«, lächelte Gangolf, »das klingt so, als hätten Sie Minderwertigkeitskomplexe. Mir brauchen Sie doch nicht zu sagen, wie wertvoll ein eher ländliches Umfeld ist. Da müssen Sie nicht an jeder Ecke mit irgendeinem ungebetenen Lauscher rechnen.«

Obermayer fühlte sich bestätigt. »Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass der Wahlkreis Göppingen schon immer von sehr kompetenten Persönlichkeiten vertreten wurde. Denken Sie an Manfred Wörner, den einstigen Verteidigungsminister und späteren NATO-Generalsekretär, der nach seinem frühen Tod auf dem Friedhof Hohenstaufen beerdigt wurde.«

Gangolf nickte. Davon hatte er gehört.

»Oder den Georg Gallus, zu dem sie alle ›Schorsch‹ sagen. Als Parlamentarischer Staatssekretär hat er jahrelang wortgewaltig, wie er das auch heute im politischen Ruhestand noch tun kann, auf kernige, aber kompetente Weise seine Meinung vertreten.« Obermayer hatte jetzt die richtige Seite in seinem Schnellhefter gefunden, wollte aber die Aufzählung der bedeutenden Politiker in seiner Heimat trotzdem fortsetzen. »Und denken Sie an Roman Herzog, den früheren Bundespräsidenten. Der war zuvor nicht nur Innenminister von Baden-Württemberg, sondern auch Landtagsabgeordneter für den Kreis Göppingen.«

Das hatte Gangolf bislang nicht gewusst.

»Fast scheint es so, als ob jeder, der was auf sich hält, einmal bei uns tätig gewesen ist«, grinste Obermayer, »auch Ihr Walter Riester, das müssten Sie doch wissen, hat seine politische Karriere bei uns begonnen, genau genommen in Geislingen – als Gewerkschaftssekretär der IG Metall. Als er dann Arbeitsminister wurde, hat er für den Kreis Göppingen in den Bundestag kandidiert – und ist über einen sicheren Landeslistenplatz reingerutscht. Und jetzt, im September, kandidiert er sogar wieder. Aber …« Obermayer überlegte, »… aber das war wohl eher eine Verlegenheitslösung, weil die Genossen so schnell keinen anderen gefunden hätten.«

»Aber der gute Listenplatz wird’s schon richten«, kommentierte der Ministerialdirektor und fügte süffisant hinzu: »Anders haben ja die Roten bei euch da unten sowieso keine Chance.«

»Sagen Sie das nicht«, entgegnete Obermayer, »ich hoffe, Ihnen sagt der Name Frieder Birzele etwas. Der war während der Großen Koalition in Baden-Württemberg der Innenminister – und ist heute noch einer der Vize-Landtagspräsidenten. Auch einer von uns aus Göppingen.«

»Ich bin geplättet«, zeigte sich Gangolf über so viel Lokalpatriotismus überrascht, ohne jedoch eine gewisse Ironie verbergen zu können. »Dann kann man ja gespannt sein, wann Sie mal einen Bundeskanzler stellen …«

Obermayer reagierte auf diese Bemerkung nicht. »Also, zur Sache«, mahnte er, »jedenfalls entpuppt sich Ihr Kontakt in unseren Bereich als Glücksfall, das kann man so sagen.«

»Was ist mit Hundt?«, hakte der Vertreter des Wirtschaftsministeriums nach. Ihm war nicht entgangen, dass sein Besucher bei der Aufzählung der Prominenten diesen Namen ausgespart hatte. Schließlich war Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt mit seinem Betrieb ebenfalls in diesem Kreis Göppingen ansässig.

»Nichts – wieso?«, gab Obermayer knapp zurück, »Hundt ist von uns in die nächsthöhere Ebene eingestuft, die außen vor bleiben muss.«

»Da ist mir schon klar«, erwiderte Gangolf leicht gereizt, »ich dachte ja nur, dass er auch in die Galerie Ihrer bedeutenden Persönlichkeiten gehört.«

»Also«, wechselte der Gast das Thema, »wir haben bereits in jedem Land, das in Frage kommt ›Kontaktpersonen‹ angeworben – teilweise sogar hochrangige Persönlichkeiten.« Obermayer lächelte. »Die Leute vom Auswärtigen Amt kennen sich aus …«

Gangolf musste zwangsläufig an Außenminister Joschka Fischers jüngste Visa-Affäre denken, mit der – wie die Opposition es kritisiert hatte – ein illegaler Einreise-Schub aus dem Südosten ausgelöst worden war. »Und die Organisation da unten …« Er überlegte und deutete mit dem Kopf in irgendeine Richtung, die wohl nach Osten zielen sollte, »… die ist zuverlässig? Ich meine, sie entzieht sich unseres Zugriffs, wie Sie wissen.«

Obermayer runzelte die Stirn. »Sie dürfen nicht übersehen«, entgegnete er, »der Aufbau der Strukturen ist nicht meine Aufgabe – und damit will ich auch nichts zu tun haben. Aufgabenteilung – Sie verstehen. Aber dass die Fäden letztlich nicht in unserem Staatsgebiet gesponnen werden, halte ich nach wie vor für ein ideales, um nicht zu sagen geniales Konstrukt.«

Gangolf schien nachzudenken. Er kniff für einen Moment die Lippen zusammen, um sich dann ein weiteres Bild von der aktuellen Lage zu verschaffen. »Lanski«, sagte er plötzlich, »dieser Lanski, was ist von dem zu halten? Verspricht er das, was wir uns von ihm erhofft haben?«

Der Angesprochene lehnte sich in dem Polstersessel zurück. »Er hat gestern in Stuttgart einen guten Eindruck hinterlassen, keine Frage. Und er kennt Gott und die Welt.«

»Vor allem den Klinsmann«, brachte der Ministerialdirektor sein Anliegen auf den Punkt. »Wie schätzen Sie das ein?«

»Klinsmann gehört zur nächsthöheren Ebene«, stellte Obermayer auch in diesem Fall fest, »ein grundehrlicher Kerl. Strahlemann und Optimist. Wir müssen den Kontakt zu ihm halten, ihn aber unter keinen Umständen in irgendeiner Weise Verdacht schöpfen lassen. Klinsi ist sensibel und verwendet seine ganze Kraft für seine Aufgabe. Wenn es jemand schafft, die Jungs zu motivieren, dann er.« Obermayer überlegte. »Und mehr verlangt von ihm auch niemand. Er tut seine Pflicht – und die mit Sicherheit zweihundertprozentig.«

Gangolf lag jetzt ein heikles Thema auf der Zunge. »Was ist mit Netzer?«

Obermayer verzog die Mundwinkel. »Netzer muss ebenfalls herausgehalten werden. Unbedingt. Er ist ein Saubermann, irgendwie die Seriosität in Person …« Obermayer grinste. »Auch wenn sein Haarschnitt verheerend ist – aber Netzer ist wirklich absolut integer.«

»Okay«, zeigte sich Gangolf zufrieden. »Und nun zu den Einzelheiten, die Sie notiert haben, wie ich vermute …«

Obermayer rückte wieder näher an den Glastisch heran und schlug seinen Schnellhefter auf. In diesem Moment piepsten in Gangolfs Jacketts die Signaltöne, die eine ankommende SMS-Botschaft vermuten ließen. »Entschuldigen Sie«, sagte Gangolf und fingerte aus der Innentasche das Handy heraus. Mit wenigen Griffen ließ er die Nachricht auf dem Display erscheinen. »Hallo Bärchen, Nulli ist verschwunden.«

Gangolf starrte wie gebannt auf die Buchstaben, las den Text noch einmal – drückte ihn dann wie in Trance weg und steckte das Handy in das Brusttäschchen seines Hemds. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, sein Gesicht war fahl geworden.

Obermayer bemerkte die Veränderung seines Gegenübers, verkniff sich aber eine Frage. Gangolf räusperte sich und versuchte, gefasst zu wirken. »Ich hoffe nur …«, bemühte er sich um einen amtlichen Ton, »… ich hoffe nur, dass Sie mit Ihren Einschätzungen Recht haben, Herr Obermayer. Sonst gnade uns allen Gott.«

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