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Kapitel 5
ОглавлениеBruhn, der energische und für seine cholerischen Anfälle bekannte Göppinger Kripochef, strich sich über die glänzende Glatze, die nur noch ein schmaler Haarkranz umgab. »Was?«, wiederholte er und drückte den Telefonhörer fest ans linke Ohr, »auf offener Straße?« Bruhn rückte mit dem Oberkörper an die Schreibtischkante heran und stützte sich mit den Ellbogen ab. Das hatte ihm an diesem eiskalten Dienstagmorgen gerade noch gefehlt. Der Schreibtisch voll mit Fragebögen und Personalakten, mit statistischen Anfragen des Innenministeriums und einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Hauptkommissar August Häberle – und jetzt eine Leiche. Er lauschte angestrengt und stieß plötzlich eine Frage aus, als habe er seinen Gesprächspartner jäh unterbrochen: »Womit erschossen?« Er hörte dem Anrufer noch kurz zu, brummte ein »mhm« und entschied abrupt: »Ich komm hoch – und bring den Häberle mit.« Dann legte er ohne ein Wort des Dankes oder des Abschieds auf – wie immer.
Wenig später ließ sich der Kripochef von diesem Häberle, der zwar einer seiner fähigsten Mitarbeiter war, aber leider Gottes kein Blatt vor den Mund nahm, im weißen Dienst-Mercedes auf der B 10 talaufwärts in Richtung Ulm chauffieren.
»Was weiß der Teufel, was da wieder dahinter steckt – und das bei diesem Sauwetter«, knurrte Bruhn und lehnte sich zurück, als sie Göppingen verließen, »bis jetzt weiß man noch nicht, wer der Tote ist.«
»Weibergeschichten«, mutmaßte Häberle einsilbig. In seinem langen Berufsleben hatte er einige Morde bearbeitet, hinter denen verschmähte Liebe oder Widersacher steckten. Was vordergründig nach politischen oder geschäftlichen Motiven aussah, entpuppte sich oftmals als eine Beziehungstat. Häberle, jahrelang beim Landeskriminalamt Stuttgart für die schwierigsten Fälle zuständig gewesen und nun wieder, knapp acht Jahre vor der Pensionierung, im heimischen Göppingen tätig, ließ sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen – auch wenn Bruhn bereits wieder großen Presserummel befürchtete und im Geiste sämtliche einflussreichen Kreise in Aufruhr vermutete.
»Halten Sie sich bloß mit Vermutungen über Weibergeschichten zurück«, erwiderte der Kripochef. Es klang wie ein Befehl. »Das hetzt uns gleich die Boulevard-Presse auf den Hals. Mir reichen schon die hiesigen Radau-Journalisten.«
Häberle, der sich im täglichen Stop-and-go-Verkehr durch Eislingen quälte, wollte nichts dazu sagen. Er wusste, dass Bruhn ein gestörtes Verhältnis zu den Medien hatte – es sei denn, sie richteten eine Fernsehkamera auf ihn.
»Kein Auto bei der Leiche?«
»Nichts«, brummelte Bruhn, »keine Tasche, nichts. Liegt einfach so rum – schon einige Stunden, haben die Kollegen gesagt.«
Häberle schaute seinen Chef von der Seite an: »Das hört sich nicht gut an. Dann wird’s auch kaum jemand geben, der an dieser gottverlassnen Ecke etwas beobachtet hat.«
»Das rauszukriegen, ist Ihr Job«, konterte Bruhn, ohne die Augen von dem Dreißigtonner vor ihnen zu lassen. Ein »Mautflüchtiger« dachte er. Seit die Lkw-Maut auf der Autobahn funktionierte, wichen viele Brummi-Fahrer auf die parallel führende B 10 aus.
»Wissen wir, wer ihn gefunden hat?«
»Ein Rentner, der heut früh in dieser Affenkälte seinen Hund ausgeführt hat.«
Eislingen schien wirklich wieder verstopft zu sein. Die Ampeln richteten das übliche hausgemachte Chaos an – und dies, so erinnerte sich Häberle, obwohl der Bürgermeister stets mit seiner angeblich »grünen Welle« prahlte. Doch die hatte seit Jahrzehnten außer dieser selbst niemand erkennen können.
»Haben die Kollegen gesagt, wie oft geschossen wurde?« Der Kommissar versuchte, sich auf die Situation einzustellen.
»Zweimal getroffen, Kopf und Brust. Aus allernächster Nähe«, antwortete Bruhn zackig, »sieht aus wie eine Hinrichtung. Zack-bum.«
Häberle schwieg. Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung.
Ute Siller hatte sich besonders fein gemacht. Ihr dezent graues Kleid, knielang, unterstrich die Seriosität, mit der sie sich als Finanzchefin des Unternehmens gerne umgab. Damit wollte sie sich von den jungen Dingern abheben, wie sie immer zu sagen pflegte – von diesen Mädels, die Nullenbruch so gerne als Sekretärinnen einstellte. In ihrem gemeinsamen Vorzimmer saß deshalb seit einiger Zeit auch so eine Zwanzigjährige, deren Getue ihr ziemlich auf die Nerven ging. Dazu war sie noch Ausländerin, sprach dafür aber erstaunlich gut Deutsch. Schon oft waren sie sich in die Haare geraten. »Schluss jetzt«, sagte die Chefin dann barsch und warf die Tür ihres Büros lautstark zu, um ihrer Autorität Nachdruck zu verleihen. Auch heute Vormittag war ›Kindchen‹, wie sie die hellblonde Angestellte von Anfang an tituliert hatte, wieder aufmüpfig und hatte über die vielen Briefe gestöhnt, die zum Schreiben anstanden.
Ute Siller war ohnehin sauer. Gestern hatte Nullenbruch hartnäckig eine Betriebsversammlung angekündigt – und nun war er über Nacht verschwunden. Als sie ihren Computer anschaltete, entdeckte sie eine Mail von ihm, die sie um 3.48 Uhr erhalten hatte: ›Tut mir leid, aber ich habe einen dringenden Termin wahrnehmen müssen. Betriebsversammlung wird verschoben.‹ Keine Begründung, kein Gruß.
Die Frau starrte noch ein paar Sekunden auf den Bildschirm und drückte dann am Telefon Meckenbachs Nummer. Der hatte auf dem Display bereits gesehen, wer anrief und kam gleich zur Sache: »Nicht aufregen, Ute. Er hat mal wieder umdisponiert.«
»Langsam hab ich den Eindruck, er weiß manchmal selbst nicht so genau, was er will.« Sie lehnte sich in ihrem schweren, ledernen Bürosessel zurück und schaute zur Tür, die sie vorhin mit Wucht zugeworfen hatte.
»Die Sache überfordert ihn«, meinte Meckenbach.
»Hast du denn eine Ahnung, wohin er ist?«
»Nicht die geringste. Vielleicht hat’s mit dem Anruf zu tun. Erinnerst du dich? Er hatte doch gestern noch eine Verabredung.«
»Stimmt, ja«, erwiderte Ute Siller nachdenklich, »hat der nicht Leo geheißen oder so ähnlich?«
»Hab ich nicht gehört und ist mir auch ziemlich egal. Sag mal, Ute, hast du heut Mittag schon was vor? Ich mein, wir könnten essen gehen.«
»Keine schlechte Idee. Was schlägst du vor?«
»Pizza in Göppingen, wie immer.«
»Okay. Fahr’n wir gleich um halb eins?«
Er stimmte freudig zu. Ute Siller legte auf und verlor ihr Lächeln. Sie erhob sich energisch und erreichte mit wenigen Schritten die Tür zum Vorzimmer, die sie mit einem Ruck aufriss. Fast im gleichen Moment nahm die junge Sekretärin ihr knallrotes Handy vom Ohr und drehte sich erschrocken um.
»Hab ich mir’s doch gedacht«, herrschte die Chefin die Angestellte an, deren blasses Gesicht rot anlief. »Du telefonierst während der Geschäftszeit privat rum?«
Das Mädchen schluckte und ließ die Hand mit dem Handy langsam sinken. Sie hätte jetzt lügen können, doch die Autorität, die diese Frau vor ihr ausstrahlte, wirkte geradezu lähmend auf sie.
»Ich will eine Antwort. Oder bist du taub?« Ute Siller kam bedrohlich nahe an den Schreibtisch heran.
»Tut mir leid, Frau Siller«, stammelte die Sekretärin mit ihrem unüberhörbaren slawischen Dialekt, »mein Freund hat mich nur kurz was fragen wollen.«
»Hab ich nicht gesagt, dass Privatgespräche absolut verboten sind? Dazu zählen auch Gespräche von deinem Handy. Hier drin wird gearbeitet – und sonst nichts. Aber auch gar nichts.« Die Frau starrte ihre Angestellte mit versteinertem Gesicht an. »Und dass eines klar ist, ein für alle Mal …« Ihre Stimme hatte ein gefährliches Zischen angenommen. »Busen, Beine und Po haben nichts mit Intelligenz zu tun.« Das hatte sie diesem ›Kindchen‹ schon lange mal sagen wollen. Jetzt war es raus. Wenn dieses Mädchen glaubte, mit aufreizender Kleidung vielleicht Nullenbruch imponieren zu können, dann war es höchste Zeit, einen Riegel vorzuschieben.
Die Sekretärin spürte, wie ihr Herz zu rasen begann und ihre Wangen glühten. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Chefin schnitt ihr das Wort ab: »Ruhe. Ich will nichts hören. Gar nichts. Merk dir eins: Was hier drin gesprochen wird, was hier geschrieben und ausgehandelt wird, das sind strengste Geschäftsgeheimnisse. Wenn da auch nur ein Sterbenswörtchen nach draußen dringt, fliegst du hochkantig raus – und das mit einem entsprechenden Zeugnis. Ich persönlich, verstehst du, ich persönlich werde dafür sorgen, dass du dann nie mehr wieder einen Job kriegst. Nie mehr. Denk an deine Vergangenheit. Und denk dran, wo du bist.« Die Frau war jetzt ganz dicht an die Sekretärin herangetreten, die auf ihrem Schreibtischstuhl kauerte. »Im Übrigen stehst du gefälligst auf, wenn ich mit dir rede«, fauchte Ute Siller und deutete mit einer Kopfbewegung an, was sie von der Angesprochenen erwartete. Das Mädchen, jetzt völlig eingeschüchtert, blieb reglos sitzen.
»Hast du nicht kapiert? Du sollst deinen Arsch heben.« Die gefährlich scharfe Stimme der Chefin war leiser geworden, denn mit diesem Jargon wollte sie von niemandem gehört werden.
Die junge Frau erhob sich zögernd, ohne etwas zu sagen, und fühlte sich dabei mit weichen Knien wie ein Schulmädchen, das etwas Verbotenes getan hatte. Sie war nahezu so groß wie Ute Siller und schaute ihr angstvoll in die Augen, als befürchte sie, auch noch eine Ohrfeige verpasst zu bekommen.
»Jetzt werd ich dir mal was sagen«, machte die Chefin weiter, »egal, was du hier drin erfährst. Du wirst es für dich behalten. Denn …« Sie überlegte ein paar Sekunden und ließ ihr Gegenüber nicht aus den Augen, »manchmal kann es gefährlich sein, sehr gefährlich – zu viel zu wissen.« Und sie fügte hinzu: »Oder das Falsche zu wissen.«
Ute Siller drehte sich weg und eilte zur Tür. »Jetzt aber an die Arbeit, los«, zischte sie und schmetterte die Tür hinter sich zu. Die junge Frau blieb völlig verstört zurück. Sie zitterte.