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Kapitel 1

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»Und welche Befugnisse haben wir?« Der Mann behielt sein Gegenüber fest im Auge. Einige Sekunden lang schauten sie sich wortlos an. Nur der Verkehrslärm drang in das Büro im achten Stockwerk, hoch überm Potsdamer Platz, zu ihnen herauf. Durch die engmaschigen Vorhänge der Fensterfront zeichnete sich das Sony-Center ab. Gegen die Scheiben peitschte Regen. Der Angesprochene griff zu seinem Krawattenknoten und versuchte ein zaghaftes Lächeln. Obwohl es kühl war, schwitzte er. »Befugnisse«, wiederholte er langsam. »Ich denke, Ihnen ist die Tragweite dieses Auftrags bewusst.« Er lehnte sich in dem wuchtigen weißen Ledersessel zurück und verschränkte die Arme. Der Fragesteller, der jenseits des Glastischchens saß, hatte sich ebenfalls ein Lächeln abgerungen. Auch ihm war heiß geworden. Am liebsten hätte er sein Jackett ausgezogen und den Krawattenknoten gelöst. Doch das geziemte sich nicht, solange der Gastgeber an der Kleiderordnung festhielt. Seit zwei Stunden saßen sie in diesem Büro, dessen weiße Wände nur durch ein riesiges, buntes und abstraktes Gemälde aufgelockert wurden. Sie hatten angestrengte Gespräche geführt, sich konzentriert und gegenseitig respektiert.

Vor ihnen auf der Glasplatte lagen einige Schnellhefter. Ihren Inhalt waren sie ausführlich durchgegangen, Punkt für Punkt, hatten Notizen gemacht, Termine abgestimmt und Namen genannt. Die schweren Kristallgläser waren leer, das Mineralwasser getrunken. Wieder trat eine dieser peinlichen Pausen ein, wie so oft, wenn er, der an Jahren deutlich jüngere Besucher, eine Antwort erwartete. Dann war nur das monotone Rauschen der Klimaanlage zu hören, bis plötzlich vier Signaltöne eine SMS-Botschaft ankündigten. Der Gastgeber zögerte einen Augenblick, griff dann aber in die Innentasche seines Jacketts und holte ein silbern glitzerndes Handy heraus. Er drückte einige Tasten und las mit versteinertem Gesicht, was auf dem Display stand: »Ich brauch dich noch heute.« Der Mann verzog keine Miene, drückte die Nachricht weg und steckte das Handy wieder ein.

Sein Gegenüber hatte die Szene wortlos verfolgt, knüpfte dann aber an das vorausgegangene Gespräch an: »Sie dürfen mir glauben, Herr Gangolf, dass ich mir der Tragweite bewusst bin.« Er zögerte. »Gerade deshalb stellt sich mir die Frage nach den Befugnissen.«

Der Ältere schlug bedächtig die Beine übereinander. »Lassen Sie es mich so formulieren«, begann er im Stil weltmännischer Diplomatie, »wenn man im Sinne einer guten Sache handelt, braucht man bei allem, was man tut, kein schlechtes Gewissen zu haben.«

Der Gast versuchte, die Nervosität zu verbergen. »Und was gut ist …« Er sprach langsam und betont, »… was gut ist, entscheiden Sie?«

Pause. Wieder diese Stille, das Rauschen der klimatisierten Luft. Irgendwo hupte ein Auto.

»Gut ist, was uns allen dient«, erwiderte Ministerialdirektor Harald Gangolf schließlich und bekräftigte: »Was uns und der Allgemeinheit dient.« Er überlegte. »Viel zu lange ist dieses Land in Lethargie erstarrt. Nun liegt es tatsächlich an Ihnen, eine Chance zu ergreifen, die uns sozusagen der Himmel beschert. Und die es für uns beide kein zweites Mal geben wird.«

Der Jüngere fühlte sich nun doch geschmeichelt. »Ich werde mein Bestes geben. Aber ohne die vielen anderen bin ich machtlos.« Gangolf nickte und wurde noch ernster: »Sie sollten aber eines nicht vergessen, Herr Liebenstein – Sie haben zwar alle Rückendeckung dieser Welt. Alle.« Der Mann legte seine Arme auf die ausladenden Sessellehnen und verzog sein Gesicht zu einer drohenden Miene. »Sollte aber irgendetwas an die Öffentlichkeit dringen, wird Sie nach außen hin niemand unterstützen. Ich nicht, der Kanzler nicht, der Innenminister nicht und schon gar nicht der Justizminister – und auch keiner der Funktionäre. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Egal, wer bis dahin hier an der Regierung ist.« Tatsächlich deutete alles darauf hin, dass es nach dem Wahldebakel der Rot-Grünen in Nordrhein-Westfalen vorletzten Sonntag eine unerwartet schnelle Änderung in der politischen Landschaft geben würde.

Der junge Mann schluckte. Ihm wurde plötzlich klar, was diese wenigen Worte bedeuteten: Man würde ihn intern zwar schützen, doch wenn es notwendig sein sollte, musste er als Bauernopfer herhalten. Alle anderen wollten sich die Hände in Unschuld waschen.

Durch den Stuttgarter Hauptbahnhof blies ein kalter Wind. Über Nacht hatte es abgekühlt und geregnet. Vermutlich war die Schafskälte, wie sie für Anfang Juni erwartet wird, bereits jetzt, am 30. Mai, ins Land gezogen. Von den angrenzenden Bahnsteigen kroch die Kälte bis in die große Halle hinein. Es war kurz nach ein Uhr und in dem Gebäude herrschte an diesem Montag die alltägliche Hektik. Lautsprecherdurchsagen, gestresste Menschen mit Aktenkoffern, Schüler und Reisende, die gelangweilt auf ihre Weiterfahrt warteten.

Leonhard Lanski hatte hier sein Ziel erreicht. Er war aus Dortmund gekommen, um sich um 13.30 Uhr mit seinen Gesprächspartnern zu treffen. Den Stuttgarter Hauptbahnhof hatten sie gewählt, weil er von allen Teilnehmern des Meetings am besten zu erreichen war. Die meisten hatten nicht mal umsteigen müssen. Und nach der Veranstaltung konnten sie entweder sofort wieder zurückfahren oder weiterreisen nach München, wo über zwei Tage hinweg die Einweihung des neuen Fußballstadions stattfinden würde, das den Namen Allianz-Arena erhalten sollte.

Lanski, der einen schwarzen Aktenkoffer in der rechten Hand hielt, fröstelte, als er inmitten des Menschengedränges von den Bahnsteigen in die quer verlaufende Halle eilte. Er blieb bei einer Buchhandlung stehen, um sich zu orientieren. Doch dann sah er rechts drüben, genau so, wie es ihm am Telefon beschrieben worden war, den Eingang zum Intercity-Hotel.

Lanski ging entschlossenen Schrittes quer durch die Halle, wich Menschengruppen aus und war in wenigen Minuten in der ersten Etage des Bahnhofshotels. Hinweistafeln wiesen ihm den Weg zur Veranstaltung ›Sport-Management‹. Sie fand im Konferenzraum mit dem Namen ›Ulm‹ statt.

Ein halbes Dutzend korrekt gekleideter junger Männer stand diskutierend vor der offenen Tür, vier weitere hatten drinnen bereits an den u-förmig angeordneten weißen Tischen Platz genommen. Lanski nickte den Personen freundlich zu, sagte ›Hallo‹ und betrat den kleinen Konferenzsaal. Dort sprang bei seinem Anblick einer der Männer auf und kam ihm entgegen.

»Willkommen in Stuttgart, Herr Lanski«, lächelte der Endfünfziger.

»Ist mir doch ein außerordentliches Vergnügen, Herr Beierlein«, erwiderte Lanski, der wohl nur wenig jünger war als sein Gegenüber.

»Wir haben Tischkärtchen aufgestellt«, deutete der Gastgeber auf einen der Plätze. Dann stellte er die drei anderen, deutlich jüngeren Männer vor. Sie kamen aus Italien, der Schweiz, Österreich und Frankreich.

Lanski glaubte, einige der Namen schon einmal gehört zu haben. Er setzte sich und schenkte sich Mineralwasser ein.

Zehn Minuten später waren auch die anderen, die vor der Tür diskutiert hatten, in den Raum gekommen – und mit ihnen noch zwei weitere Männer, die eher der Altersgruppe von Lanski und des Gastgebers angehörten. Sie setzten sich zu ihm an die Querseite der Tischformation.

»Meine Herren«, erhob sich Stefan Beierlein, »seien Sie noch einmal ganz herzlich hier in Stuttgart begrüßt und beglückwünscht, dass Sie zu den 47 Auserwählten gehören. Dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, ist für uns ein Zeichen großer Wertschätzung.« Er lächelte und schaute in die Runde. »Und es zeigt uns, dass wir alle dasselbe Ziel verfolgen. Ich brauche nicht extra zu erwähnen, dass unser heutiges Treffen allergrößter Diskretion unterliegt.« Noch einmal blickte er die Männer, die vor ihm saßen, nacheinander an. Sie nickten ihm mit ernsten Gesichtern zu. »Um keine Zweifel aufkommen zu lassen«, fuhr der Vorsitzende fort, »meine drei Kollegen und ich werden im Ernstfall jederzeit behaupten, niemals mit Ihnen zusammen gewesen zu sein.« Die Älteren an seiner Seite verzogen keine Miene.

»Was hier gesprochen wird«, erklärte Beierlein weiter, »unterliegt absoluter Verschwiegenheit. Betrachten Sie es als ein Staatsgeheimnis, wenn Sie so wollen. Sie wissen: Es hat seinen Grund, dass wir von den 47 Auserwählten gerade Sie hierher gebeten haben. Sie sind Männer, die durch energisches Auftreten bisher bewiesen haben, dass Sie in der Lage sind, einer Herausforderung mit weit reichender Bedeutung gerecht zu werden. Einer Bedeutung, die nationale Interessen berührt. Was wir heute also besprechen, meine Herren, muss Gültigkeit haben und ist wie ein besiegelter Vertrag. Wir werden selbstverständlich keinerlei Schriftstücke anfertigen, das werden Sie verstehen. Aber was wir beschließen, gilt so fest und sicher, wie es Männer seit jeher mit einem Handschlag besiegeln können.«

Einige der Zuhörer lächelten.

»Ich möchte für alle, die sie noch nicht kennen, meine beiden Kollegen hier vorstellen«, fuhr er fort. »Links von mir, das ist Herr Michael Rambusch. Er ist für das Finanzielle zuständig und gehört unserem …« Beierlein suchte nach der passenden Bezeichnung. »… unserem Organisationsteam schon seit über einem Jahr an. Seine Connections zu Sponsoren und Interessenvertretern sind geradezu legendär.« Rambusch stand kurz auf und lächelte.

»Ganz rechts außen, das ist Herr Leonhard Lanski. Sein Name dürfte den meisten von Ihnen bekannt sein. Er ist sozusagen der Mann aus der Praxis. Er weiß, wovon er spricht.«

»Zu meiner Rechten sitzt Harry Obermayer, der Manager, der das Unmögliche möglich macht.« Er hielt kurz inne, als der Genannte aufstand und sich verbeugte. »Herr Obermayer hat phänomenale Beziehungen in politische Kreise. Es gibt kaum einen Politiker, ob in der Regierung oder in der Opposition, den er nicht duzt. Diese Flexibilität ist seit dem vorletzten Sonntag mehr denn je angebracht. Heutzutage bedarf es persönlicher Kontakte, geschickter Strategien …« Er nickte, als wolle er sich damit selbst bestätigen. »Ja, geschickter Strategien, meine Herren. Früher haben wir über die südlichen Länder gelächelt, auch über Italien …« Er schaute zu dem von dort angereisten schnauzbärtigen Kollegen. »Aber inzwischen, liebe Kollegen, inzwischen ist Deutschland die größte Bananenrepublik weit und breit geworden. Korruption, Bestechung, machtbesessene und geldgierige Politiker, raffgierige Unternehmer. Gewerkschaften, die sich unterbuttern lassen. Glauben Sie mir …« wieder legte er eine Pause ein, »… wenn Sie Einblick in die Politik und in die Wirtschaft haben, wenn Sie sehen, mit welchen Mitteln gelogen, betrogen, getrickst und bestochen wird, dann werden Sie merken, dass wir bei allem, was wir zu arrangieren versuchen, geradezu Waisenknaben sind.«

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