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Kapitel 14
ОглавлениеKommissar Häberle seufzte in sich hinein. Er würde seiner Frau wieder einmal schonend beibringen, dass die geplante Grillparty am bevorstehenden Sommer-Wochenende ohne ihn stattfinden musste. Der Mordfall würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Auch sein junger Kollege Linkohr hatte seine Freundin Juliane, eine Krankenschwester, bereits auf die Überstunden vorbereitet. Er empfand es als wahren Glücksfall, dass seine bessere Hälfte Verständnis für seinen Job aufbrachte, schließlich war sie selbst in ihrem Beruf in den Schichtdienst eingebunden und wusste, was es bedeutete, unvorhergesehene Fälle bearbeiten zu müssen.
Die Kollegen der Sonderkommission waren inzwischen ausgeschwärmt, um in den Vereinsheimen des Eybacher Tals nach einer Spur des unbekannten Toten zu fahnden. Jetzt, am frühen Abend, begannen sich die Clubhäuser und Sportanlagen langsam mit Leben zu füllen – beim Tennisverein, beim Sportclub, bei der Turngemeinde und beim Reitverein. Überall sollten Wirte, Trainer, Übungsleiter, aber auch ganz normale Gäste, befragt werden, ob sie gestern ab 19.30 Uhr einen Mann beobachtet oder getroffen haben, der möglicherweise das spätere Mordopfer geworden war.
»Einer mit Aktenkoffer muss doch in diesem Umfeld aufgefallen sein«, hatte Häberle überlegt. Gleichzeitig allerdings war er beim Blick auf den großflächigen Stadtplan auf einige Häuser gestoßen, die in unmittelbarer Nähe standen: Jene Siedlung entlang der alten Landstraße – und das Gebäude einer Pumpstation der Schwäbischen-Alb-Wasserversorgungsgruppe. Außerdem gab es dort noch ein großes Umspannwerk des örtlichen Stromunternehmens ›Albwerk‹.
»Wir müssen alles unter die Lupe nehmen – auch diesen leer stehenden Komplex des Bauunternehmens«, schlug der Kommissar vor, »irgendein Ziel muss der Mann gehabt haben.« Derzeit durchkämmte eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei die Umgebung des Tatorts – den Bahndamm, die bewachsenen Böschungen und einen Trampelpfad, der entlang der Bahnlinie ins angrenzende Längental führte. Bruhn hatte auf diese Aktion bestanden, um vielleicht doch noch etwas Verwertbares zu finden, möglicherweise sogar die Tatwaffe. Denn es kam erfahrungsgemäß nicht selten vor, dass sie der Täter während der Flucht sofort wegwarf. Es sei denn, er war ein Profi.
Die Vernehmung des Taxifahrers und die Beschreibung, die er von der Kleidung seines Fahrgastes geben konnte, hatte inzwischen die Vermutung untermauert, dass es sich um das spätere Mordopfer gehandelt haben musste. Der Mann war auch, daran konnte sich der Chauffeur ebenfalls entsinnen, allein aus der Bahnhofsunterführung gekommen und zielstrebig zum Taxistand geeilt. Häberle las diesen Vernehmungsbericht am Bildschirm, als ihn die elektronischen Töne des Telefons störten. Es war die Zentrale, die ein Gespräch für den Leiter der Sonderkommission durchstellte.
Häberle meldete sich und blickte auf ein altes Fahndungsplakat, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Der Anrufer stellte sich als der Inhaber des Hotels Krone vor. Er habe soeben in den 18-Uhr-Nachrichten von »radio 7« den Zeugenaufruf der Polizei gehört und sei stutzig geworden, berichtete er. »Bei uns hat gestern telefonisch ein Mann ein Zimmer reserviert – und ist dann nicht gekommen. Wir haben lange auf ihn gewartet, denn er hat gesagt, es werde später. Doch bis jetzt hat er sich nicht gemeldet.« Der Anrufer legte eine kurze Pause ein, als sei es ihm peinlich, diese Details zu verraten. »Nun denk ich, es könnt der Tote sein.«
Häberle hatte sich Notizen gemacht. »Und unter welchem Namen hat er reserviert?«
»Beierlein, Stefan Beierlein«, antwortete der Hotelier prompt, »Beierlein mit ›ei‹ und Stefan mit ›f‹ «, fügte er korrekt hinzu. »Hat er gesagt, woher?«, hakte Häberle nach.
»Stuttgart. Er hat Stuttgart gesagt, hab ich mir so notiert.«
»Und sonst? Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Nein, nur dass er eine Nacht bleiben wolle.«
Häberle bedankte sich und beendete das Gespräch. Er stand auf und ging in den Lehrsaal hinüber, in dem ein halbes Dutzend Kripo-Beamte die ersten spärlichen Erkenntnisse auswerteten und die Feststellungen der Spurensicherung diskutierten.
»Es gibt was Neues«, machte sich Häberle bemerkbar, worauf die Gespräche verstummten und sich die Kollegen ihm zuwandten. Er informierte sie kurz über den Anruf und bat dann Linkohr zu sich ins Büro. Die beiden Männer setzten sich an den kleinen, viereckigen Besprechungstisch.
»Das könnten Sie übernehmen«, begann Häberle, »in Stuttgart rauskriegen, was es mit diesem Stefan Beierlein auf sich hat. Ob es ihn gibt – und wenn ja, was er macht, ob er einen Bezug hierher hat und ob es vielleicht im Zentralregister Einträge über ihn gibt.«
Linkohr notierte sich den Namen und verließ mit einem: »wird gemacht, Chef« den Raum. Häberle bewies wieder einmal, dass er sich trotz seiner Körperfülle rasch zu erheben vermochte und dem jungen, hoch motiviert davonrennenden Kollegen in den Lehrsaal hinüber folgen konnte. Der Kommissar war oftmals unterschätzt worden, wenn es um seine Fitness ging. Mancher Täter hatte verwundert zur Kenntnis nehmen müssen, welches Energiebündel sich in dem eher behäbig und gemütlich wirkenden Beamten verbarg. Wehe, wenn es freigesetzt wurde. Dann kam Häberle seine jahrelange sportliche Betätigung zugute – und auch jetzt noch betätigte er sich als Judoka-Lehrer beim weithin durch seine Handballer bekannten Göppinger Verein ›Frisch-Auf‹.
Von einer Gruppe Ermittler ließ sich Häberle darüber informieren, dass die bislang spärliche Beschreibung des Toten bereits bundesweit mit allen Vermisstenmeldungen der vergangenen Tage verglichen wurde.
»Nur eine einzige«, gab der schnauzbärtige Kollege Schmidt zu verstehen und räusperte sich, »nur eine einzige hätte mich stutzig gemacht – aber das dürfte sich nun wohl erledigt haben. Ein Mann aus Dortmund wird seit heute Mittag von seiner Frau vermisst.«
Häberle dachte für einen kurzen Moment nach. »Weiß man etwas über die Umstände? Hat er nur sein Weib verlassen wollen – oder was vermuten die Kollegen?«
»Steht nichts drin. Weder ein Hinweis auf Suizidgefahr, noch auf Kriminelles«, antwortete Schmidt, während er in einem Wust von Papieren blätterte.
»Wie heißt er denn?«, fragte der Chef-Ermittler eher beiläufig.
Schmidt musste erneut in seinen Notizen fahnden. »Lanski, Leonhard Lanski – 48 Jahre alt, von Beruf Freier Handelsvertreter für Sportartikel. Er soll gestern früh mit dem Zug nach Stuttgart gefahren sein und hat sich seither bei seiner Frau nicht mehr gemeldet. Das sei absolut ungewöhnlich. Und sein Handy sei abgeschaltet. Er wollte heute Mittag wieder zurück sein – und deshalb ist die Frau um 14.30 Uhr zur Polizei gegangen.«
»Stuttgart, sagen Sie«, wiederholte Häberle, »bleiben Sie trotzdem mal dran. Versuchen Sie die Frau ans Telefon zu kriegen. Und fragen Sie sie, wann sie geheiratet hat.«
Schmidt stutzte, worauf der Chef die Erklärung gab: »Denken Sie an die Gravur im Ehering.«
Matthias Nullenbruch hatte darauf bestanden, sofort mit Jano und Pit, dem Amerikaner, sprechen zu können. Zunächst hatte ihm die schlecht deutsch sprechende Sekretärin der großen Baustoffhandlung in Košice zu verstehen gegeben, dass die beiden Herren einen vollen Terminkalender hätten und leider keinen Besucher empfangen konnten. Dann aber hatte sich Nullenbruch lautstark als größter Gesellschafter des Unternehmens zu erkennen gegeben, war am Empfangstresen im Erdgeschoss vorbeigestürmt und die geschwungene Treppe hoch geeilt. Ohne den Umweg über ein Vorzimmer zu nehmen und ohne lange anzuklopfen, riss er in dem dunklen Flur die Tür zu Janos Büro auf. Der zuckte erschrocken hinter seinem Mahagonischreibtisch zusammen und rang sichtlich nach Worten, als er den ebenso unerwarteten wie ungebetenen Besucher erblickte. Nullenbruch sah ihn für einen Augenblick wie versteinert an, schloss die Tür hinter sich und verzichtete auf Begrüßungsphrasen. »Damit hast du nicht gerechnet, hab ich Recht?«, polterte er los, zog sich von dem großen Besprechungstisch einen Polsterstuhl her und setzte sich vor Janos Schreibtisch. »Dass eines klar ist«, machte er weiter, »ich lass mich hier nicht rausbugsieren oder behandeln wie den letzten Deppen.«
Jano versuchte jetzt sein optimistisches Lächeln, was ihm aber diesmal nicht gelang. »Hi, Mattääs«, entgegnete er ihm gelassen und lehnte sich provokativ in den schwarzen Ledersessel zurück, »dont worry.«
Auf Nullenbruchs hoher Stirn hatten sich Schweißperlen und Falten gebildet. »Ich will augenblicklich wissen, was da schief läuft.«
Jano holte tief Luft und begann, mit einem Kugelschreiber zu spielen. »Nothing«, versicherte er, »da läuft nichts schief – nicht so, wie du denkst. Wir hätten das alles am Telefon besprechen können.«
»Du hast das Geld für andere Geschäfte benutzt – jedenfalls nicht für unsere gemeinsame Gesellschaft hier«, wetterte Nullenbruch weiter und kam mit dem Oberkörper nah an den Schreibtisch heran. »Du kannst keine Zinsen mehr zahlen – das ist Fakt. Und weißt du, was das bedeutet? Geht das in deinen Schädel rein? All die Freunde und Bekannte«, er wurde noch lauter, »all jene, denen ich es schmackhaft gemacht habe, diesem angeblich so ehrlichen und seriösen Geschäftsmann in der Slowakei einen Kredit zu geben, all die werden in mir den Komplizen eines Betrügers und Schwindlers sehen. Ganz zu schweigen davon, wenn du ihnen das eingesetzte Kapital nicht mehr zurückzahlen kannst. Und ich als Mitgesellschafter dieses …« Er rang nach Worten. »… dieses Schwindelunternehmens hier werde ins Zwielicht gestellt.«
Die beiden Männer schwiegen sich für einen Moment an. »Aber das ist ja nur die Spitze des Eisbergs«, zischte Nullenbruch, »das allein wär bereits eine Katastrophe, aber wenn erst die andere Sache schief läuft, dann kann ich mir gleich die Kugel geben.« Der Deutsche schien förmlich in sich zusammenzusinken. »Aber eins geb ich dir schriftlich, hier und jetzt: Bevor ich mir die Kugel geb, kriegst du sie.«
Jano wurde blass. Sein rundliches Gesicht nahm kantige Formen an, sein Lächeln war verschwunden. »Mattääs«, versuchte er zu beschwichtigen, doch es klang plötzlich ängstlich. Er drehte den Kugelschreiber nervös in den Händen. »Ich habe Martin und Rainer alles erklärt. Es hat gewisse … ja, gewisse complications gegeben. But it is okay. Wir, Pit und ich, haben … haben bezahlt.«
»Ihr habt – bezahlt?« Nullenbruch glaubte, nicht richtig zu hören. »Was heißt das – bezahlt? An wen und weshalb? Und wie viel?«
Jano fiel die Antwort sichtlich schwer. »Es ist eine … eine Gruppe aufgetaucht – drüben, von der Ukraine. Sie hat zweihunderttausend Euro gefordert.«
»Schutzgelder?«, entfuhr es Nullenbruch, den ein ungutes Gefühl übermannte.
Jano schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Not directly, no. Schweigegeld«, formulierte er vorsichtig, »sagt man so – Schweigegeld?«
»Die haben …« Nullenbruch konnte es nicht aussprechen. »… Die haben von der Sache erfahren?«
»Es sieht so aus«, räumte Jano kleinlaut ein.
Nullenbruch starrte sein Gegenüber wie hypnotisiert an. Sag das nochmal, dachte er. Sag es nochmal und ich schlag dich tot. Auf der Stelle. Nullenbruch versuchte, sich in den Griff zu kriegen, atmete tief durch und wartete drei, vier Sekunden. Dann traf er die entsetzliche Feststellung: »Du hast dich erpressbar gemacht.«
Jano schwieg.
»Du hast dich erpressbar gemacht«, schrie Nullenbruch los, »weißt du, was das heißt? Weißt du, was das für Folgen hat?«
»Please …«, Jano hob beschwichtigend die Hände und warf den Kugelschreiber auf die Tischplatte.
»Ach, hör doch auf«, winkte Nullenbruch unwirsch ab und sprang auf. »Eine undichte Stelle hast du geschaffen – hier, hier, irgendwo im Osten.« Er baute sich vor dem Schreibtisch auf. »Das kann uns Kopf und Kragen kosten. Uns und vielen anderen auch. Verdammt vielen anderen. Wie steh ich denn jetzt da?«
Auch Jano hatte sich jetzt erhoben. »Please …« Es hörte sich an wie ein verzweifelter Versuch, seinen Geschäftsfreund, der sich zum schlimmsten Feind entwickelt hatte, zu besänftigen. »You get your money – du bekommst dein Geld.«
»Um das allein geht’s doch gar nicht«, konterte Nullenbruch und ballte die Fäuste. »Ich werde diese verdammte Stadt nicht eher verlassen, bis ich weiß, was hier gespielt wird. Keine Sekunde vorher.« Er machte einen energischen Schritt zur Tür. »Ich hoffe, dir ist klar, dass du Gelder veruntreut hast. Und das ist auch in der Slowakei kein Kavaliersdelikt.« Die Stimme nahm einen drohenden Unterton an. »Mein lieber Freund, wenn du mir nicht bis heut Abend um 22 Uhr klaren Wein einschenkst, zeig ich dich morgen früh hier bei der Polizei an.«
Jano verschränkte stehend die Arme vor seiner Brust. »Ich bin mir sicher, dass du das nicht tun wirst«, entgegnete er jetzt wieder gelassen. »Wie willst du denn gegenüber den deutschen Behörden die Herkunft des Geldes erklären? Und die große Sache? Will you stop it? You cannot do it.«
Nullenbruch blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Jano hatte Recht. Da gab es nichts mehr zu stoppen, ohne dass ein Skandal gigantischen Ausmaßes ausgelöst würde – mit einer Eigendynamik, deren Folgen unvorhersehbar wären.
Er blieb trotzdem hart. »Heut Abend um zehn«, sagte er mit fester Stimme, »und meinetwegen bring den Pit mit. Ich erwarte euch bei mir draußen.« Jano kannte Nullenbruchs nahezu fertig gestelltes Firmengebäude am Stadtrand. Gerade war zwar der Innenausbau erst in vollem Gange, doch hatte Nullenbruch bereits bei seinem letzten Besuch vor vier Monaten das Chefbüro provisorisch einrichten können. Damals hatten sie – er und Jano – die Sektkorken knallen lassen und ihre gemeinsame geschäftliche Zukunft besiegelt. Dass sie sich einmal unter ganz anderen Vorzeichen treffen würden, hätte er nie für möglich gehalten.
»Und lass mich ja nicht warten«, drohte Nullenbruch und verschwand aus dem Büro. Jano schaute auf seine Armbanduhr. Es war 18.30 Uhr.