Читать книгу Schusslinie - Manfred Bomm - Страница 13
Kapitel 9
Оглавление»Das Hirn förmlich rausgeschossen«, konstatierte Mike Linkohr, der junge Kriminalist. In aller Eile waren im Lehrsaal des Geislinger Polizeireviers die logistischen Voraussetzungen für eine Sonderkommission geschaffen worden: Weiße Tische wurden zusammengerückt, Computerkabel in vorgesehene Steckverbindungen gestöpselt.
Ein knappes Dutzend Kriminalisten, einige davon aus der Kreisstadt Göppingen herbeordert, studierte die ersten Erkenntnisse der Spurensicherung. Nachdem Kripochef Helmut Bruhn die Einrichtung einer Sonderkommission beschlossen hatte, war sofort klar gewesen, wer sie leiten würde: Natürlich Häberle.
»Sie machen das«, hatte Bruhn noch am Tatort geknurrt. Daraufhin entschied Häberle, dass ihm Linkohr zur Seite stehen sollte. Dieser hatte das Zeug, ein erfahrener Kriminalist zu werden. Ob es Linkohr mit seiner Freude an der Arbeit aber schaffen würde, die Karriere-Leiter nach oben zu steigen, das stand auf einem ganz anderen Blatt, dachte Häberle. In diesem Land waren längst nicht mehr die Praktiker gefragt, sondern die allgegenwärtigen Schwätzer und Bürokraten, die es trefflich verstanden, sich nach oben zu drängen.
Irgendwie musste er auch jetzt wieder daran denken, als ihm Bruhn gegenüber saß, der den jungen Kollegen überhaupt nicht zu akzeptieren schien. Linkohr hatte auf dem viereckigen Tisch des kleinen Besprechungszimmers bereits seine Notizen ausgebreitet.
»Was sagt die Gerichtsmedizin?«, wollte der oberste Kripochef wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Die Todesursache ist klar – einen Schuss aus allernächster Nähe in die rechte Gesichtshälfte, einen weiteren rechts seitlich in die Brust«, antwortete Häberle.
»Zeitpunkt?«
»Vermutlich um Mitternacht.«
»Und die Patronenhülsen und Projektile sind überhaupt nicht zu finden?«, fragte Bruhn mit einem Unterton, der darauf schließen ließ, dass er den Kollegen der Spurensicherung absolute Unfähigkeit unterstellte.
Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Es war Schrot«, stellte er sachlich fest und vermied den Hinweis, dass dies doch bereits am Tatort ersichtlich gewesen sei. Dann fügte er hinzu: »Es waren zwei Schüsse – wir müssen’s also mit einer zweiläufigen Waffe zu tun haben.«
Bruhn tat so, als interessiere ihn dies nicht. Die drei Männer schwiegen sich an.
»Zeit hat er vermutlich gehabt«, wagte Linkohr einzuwerfen, »die Gegend hinter der ehemaligen Firma Hebel dort ist nachts ein Gott verlassnes Eck. Schon gar bei diesem Wetter.«
»Absuchen lassen«, befahl Bruhn kurz und wandte sich wieder Häberle zu: »Und zur Identität gibt es keine Anhaltspunkte?«
Der Kommissar holte tief Luft. Wie oft musste er es noch wiederholen? Er tat es geduldig: »Nein, überhaupt nichts. Keine Papiere, kein Handy, kein Schlüssel, kein Geldbeutel. Nichts. Nur einen Ehering mit eingraviertem Datum – Achter-achter achtundachtzig. Ohne Initialen.«
»Interessantes Datum. Aber alles andere könnte durchaus auf Raubmord schließen lassen«, konstatierte Bruhn und fügte hinzu, woran er dachte: »Drogenhandel, ein geplatztes Dealergeschäft. Das würde auch für den abgelegenen Tatort sprechen. Wie war das denn neulich …?« Er überlegte. »Anfang des Jahres war doch diese Sache mit einer Dortmunder ›Drogen-Connection‹ – hab ich das richtig in Erinnerung?« Jetzt blickte er wider Erwarten Hilfe suchend zu Linkohr, der die Geislinger Szene kennen musste.
»Ja, stimmt«, antwortete der junge Kriminalist eifrig, »da sind welche angereist und haben Schulden eingetrieben – auf ziemlich brutale Weise. Einige Jugendliche aus dem hiesigen Raum wurden entführt und verprügelt. Aber einen der Täter haben wir geschnappt. Er sitzt im Ruhrgebiet in U-Haft. «
Bruhn winkte ab. »Ich bin mir fast sicher, dass wieder so etwas dahinter steckt.«
Häberle zeigte sich zurückhaltender. »Was mich stutzig macht, ist, dass der Tote offenbar ohne Auto unterwegs war. Ringsrum haben die Kollegen kein ›herrenloses‹ Auto aufspüren können. Die Erfahrung zeigt, dass Drogenhändler nicht gerade zu Fuß unterwegs sind. Und der Bahnhof ist von da draußen ein ganz schönes Stück weit weg.«
»Das ist für mich kein Argument«, erklärte Bruhn energisch, »überhaupt keins. Die Täter waren zu zweit – und einer von denen ist mit dem Wagen des Opfers davon.«
Häberle musste insgeheim zugeben, dass der Chef Recht haben konnte. Erst voriges Jahr hatten sie ein ähnliches Problem gehabt, als in dieser Höhle, die bezeichnenderweise ›Mordloch‹ hieß, eine Leiche gefunden worden war.
»Gibt’s Erkenntnisse zum Alter?«, wollte Bruhn wissen, worauf sich Linkohr angesprochen fühlte. »Zwischen 40 und 50, sagen die Ulmer.« Er meinte damit die zuständige Gerichtsmedizin im nahen Ulm.
Bruhn blickte nervös auf seine Armbanduhr, als habe er Angst, die wertvolle Zeit laufe ihm davon. »Wie gehn wir vor?«, wollte er wissen.
»Wir müssen so schnell wie möglich rauskriegen, wer der Tote ist«, antwortete Häberle, als ob sich der Chef dies nicht selbst hätte denken können. »Allerdings haben wir da ein echtes Problem. Wir wissen alle, wie fürchterlich der Kopf aussieht. Daraus wird sich beim besten Willen keine Rekonstruktion des Gesichts mehr machen lassen.«
»Aber eine Beschreibung muss raus«, forderte Bruhn. Er vermied es, das Wort ›Medien‹ in den Mund zu nehmen. In seinen Augen wurde alles aufgebauscht, übertrieben und die Journalisten mischten sich in die Ermittlungen ein. Von dieser Meinung rückte er nur dann ab, wenn in seltenen Fällen Fernsehkameras auf ihn selbst gerichtet wurden und er ein kurzes, knappes und wohl formuliertes Statement zu einem überörtlich bedeutsamen Verbrechen abgeben durfte. Dann ließ er sogar den Pressesprecher nicht zu Wort kommen, auf den er normalerweise alles abzuwälzen pflegte.
»Wir werden zunächst an die Rundfunkstationen gehen«, erklärte Häberle ruhig, »und dann dafür sorgen, dass die Zeitungen morgen drüber berichten. Irgendwo wird dieser Mensch ja vermisst werden.«
»Halten Sie mir aber den Sander vom Leib«, knurrte Bruhn. Dieser Lokaljournalist, der seit Langem im ganzen Kreis Göppingen sein Unwesen trieb, war ihm zuwider, vor allem aber suspekt, weil dieser Zeitungsmensch Gott und die Welt kannte und man sich nie sicher sein konnte, was dessen Beziehungen auszulösen vermochten.
Häberle grinste. Er hatte solche Probleme nie gehabt. Weder mit Sander, noch mit irgendeinem anderen Journalisten. »Der Oberstaatsanwalt wird zu einer Pressekonferenz kommen«, erklärte er, »um vier.«
Bruhn sagte nichts dazu. Er würde es Häberle überlassen. Erst ein aufgeklärter Fall erschien ihm wichtig genug, selbst als Kripochef vor die Kameras zu treten, falls denn welche da sein sollten. Er erhob sich, um das Gespräch für beendet zu erklären. »Eines noch«, sagte er, während er sich bereits der Tür zuwandte. »ich befürchte, wir haben’s hier mit Profis zu tun. Das sieht nicht nach einer Herzschmerz-Beziehungstat aus, sondern nach der Arbeit eines Killers.«
Häberle und Linkohr waren auch aufgestanden, als ihr Chef den Raum wortlos verließ und die Tür, wie üblich zum Zeichen größter Autorität, kräftig ins Schloss warf. Der Kommissar musste unweigerlich an einen der wenigen ungeklärten Morde im Landkreis Göppingen denken. Denn der Fall wies tatsächlich seltsame Parallelen zu einem Verbrechen auf, das an einem Oktoberabend des Jahres 1989 beim Göppinger Tennisclub verübt worden war. Bis heute konnte nicht geklärt werden, wer damals auf dem dunklen Parkplatz einen 50-jährigen Geschäftsmann erschossen hat. Aus allernächster Nähe. Genau wie jetzt.
»Ich befürchte, dass die Sache verdammt schwierig wird.« Irgendwie kam ihm plötzlich die Dienstaufsichtsbeschwerde in den Sinn, die gegen ihn lief – wegen eines anderen großen Falls, den er vor eineinhalb Jahren auf ziemlich unkonventionelle Weise in Lugano gelöst hatte und wo letztlich doch gewisse Zweifel bestehen geblieben waren. Aber das war eine andere Geschichte …
Martin Striebel und Rainer Kromer hatten im Hotel ›Slovan‹ vergangene Nacht unruhig geschlafen. Nach dem Frühstück waren sie durch die breite Hauptstraße geschlendert und nun um die Mittagszeit saßen sie vor einem Straßencafé, tranken Pils und stellten zufrieden fest, dass sich die Damen in der Slowakei ziemlich freizügig gaben. Aber das war den beiden Männern auch schon bei ihren vorausgegangenen Besuchen im Sommerhalbjahr aufgefallen – und auch gestern Abend hatten die Sekretärinnen, sofern es denn welche waren, nicht mit ihren weiblichen Reizen gegeizt.
Die Bistrotischchen dieses Straßencafés waren gut besetzt, auf der Straße bummelten jede Menge Menschen, Tauben segelten im Tiefflug über die Fußgängerzone. Von dem strahlend blauen Himmel brannte die Mittagssonne.
Mehrfach hatten die beiden Männer bereits die Gespräche mit Jano und dessen amerikanischem Schwager diskutiert – lange noch in der Nacht und dann beim Frühstück wieder. Matthias, den sie noch angerufen hatten, war ziemlich aufgebracht gewesen und nun wild entschlossen, klare Verhältnisse zu schaffen.
Unschlüssig waren Striebel und Kromer allerdings gewesen, ob sie auch die anderen verständigen und damit beunruhigen sollten.
»Wir sollten die Gäule nicht allzu scheu machen«, hatte Martin Striebel mit hochrotem Kopf gemahnt, doch je mehr er darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien es ihm, möglichst allen reinen Wein einzuschenken. Schließlich war es auch er selbst gewesen, der sie ermuntert hatte, diesem Jano zu vertrauen. Sein jüngerer Freund Rainer Kromer nahm einen kräftigen Schluck aus dem Pilsglas. Striebel überlegte und entschied sich dann doch zu einem Telefonat. Er griff zu seinem winzigen Handy, das er im Hemdentäschchen stecken hatte. »Ich ruf ihn an«, erklärte er und meinte jenen Mann, zu dem sie seit Langem keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Gerade ihn, der nicht in ihrer Nähe wohnte, wollten sie fairerweise informieren. Vielleicht hatte jetzt auch der Frühschoppen in der heißen Sommersonne zu diesem Gesinnungswandel beigetragen.
Kromer betrachtete die frisch sanierten Fassaden der Altstadthäuser, die sich beidseits der breiten Fußgängerzone aneinander reihten. Striebel wählte unterdessen mit geübten Griffen aus dem Adressbuch des Handys die gewünschte Nummer. Der Ruf ging ab. Vier-, fünfmal. Er überlegte, wie er es formulieren sollte, um nicht gleich Panik und Hektik auszulösen. Endlich knackte es in der Leitung. »Ja?«, hörte er eine Frauenstimme und war einigermaßen überrascht. Er zögerte für einen Augenblick. »Wer ist dort?«, fragte er vorsichtshalber nach. Viel zu laut.
Doch statt einer Antwort wurde das Gespräch unterbrochen.
Striebel stutzte. »Aufgelegt«, stellte er fest, was auch seinen Freund irritierte. »Versuch’s nochmal. Vielleicht bist du unterbrochen worden, weil die Leitungen überlastet sind.«
Striebel drückte erneut einige Tasten – doch jetzt kam die automatische Ansage, wonach der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar sei. »Verstehst du das?«, fragte Striebel und steckte sein Handy wieder ein. Sein Freund schwieg, weshalb er sich selbst resignierend die Antwort gab: »Langsam versteh ich hier überhaupt nichts mehr. Das darfst mir glaub’n.«
Plötzlich war da ein Schatten. Eine Person hatte sich aus der Menschenmenge, die an dem Straßencafé geschäftig vorbeiflutete, ihrem Bistrotischchen genähert. Im gleichen Moment schreckte ein lautes »Hi« die beiden Deutschen auf. Sie blinzelten – und waren für einen kurzen Moment erstaunt und verwirrt gleichermaßen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Und Martin Striebel fiel sofort ein, was er gerade erst gesagt hatte – dass er so langsam überhaupt nichts mehr verstand.