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A. Überblick

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Obwohl die Strafprozessordnung bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland schon fast 70 Jahre lang in Kraft war, ist die ganz überwiegende Zahl der Änderungen an ihr in den nicht ganz 70 Jahren seitdem erfolgt. In der Zeit des Kaiserreichs wurde sie nur viermal, in der Weimarer Republik 15-mal und bis 1949 28-mal geändert, in der Bundesrepublik bis zum Ende der 18. Legislaturperiode 2017 205-mal, insgesamt 233-mal.[1] Viele Änderungen sind Folgeänderungen geringen Ausmaßes und ohne sachlichen Gehalt, dennoch sind auch die meisten inhaltlich bedeutsamen Modifikationen der StPO seit 1949 erfolgt. Allerdings ist die Gesamtreform, die schon kurz nach ihrem Inkrafttreten gefordert wurde, bis heute nicht verwirklicht worden, und es ist auch nicht absehbar, dass dies in näherer Zukunft geschehen könnte.

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Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 wurde eine Justizverfassung errichtet, die weitgehend dem Zustand der Weimarer Republik entsprach. Justizhoheit und die Justizverwaltung stehen wieder den Ländern zu, während dem Bund nur wenige Kompetenzen zukommen, so die konkurrierende Gesetzgebung für „das gerichtliche Verfahren“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), also auch für das Strafverfahren, sowie für die Errichtung oberer Bundesgerichte (Art. 96 GG). Bedeutung für das Strafverfahren kommt neben den in Art. 2 ff. GG gewährleisteten Grundrechten nunmehr insbesondere den verfassungskräftigen Justizgrundrechten (Art. 101 bis 104 GG) zu.

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Die seitdem vom Bundesgesetzgeber entfaltete, zunehmend regere Tätigkeit kann in den ersten drei Jahrzehnten in zeitliche Phasen unterteilt werden. Danach lassen sich nur noch einige thematische Entwicklungslinien aufzeigen, die parallel und unverbunden verlaufen. Übergreifende Ansätze fehlen, auch in Aufgabenstellung und Resultat der 2014 vom zuständigen Bundesminister einberufenen Expertenkommission. Im Überblick:

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Die vordringlichste Aufgabe nach Gründung der Bundesrepublik war die Wiederherstellung der während der Besatzungszeit zersplitterten Rechtseinheit und Erneuerung der rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafprozesses, die mit dem VereinhG 1950 begann und bis in die 1960er Jahre hinein bewältigt wurde. Nach der Phase der Konsolidierung begann die Anpassung des einfachen Verfahrensrechts an die Anforderungen aus der Verfassung und der inzwischen ratifizierten EMRK, wofür vor allem die sog. „kleine“ Strafprozessreform des StPÄG 1964 steht. Es folgt die Phase der mit einem Ausdruck von Baumann[2] sog. „Strafprozessreform in Raten“, d.h. dem Versuch einer Erneuerung des Verfahrensrechts durch mehrere umfangreiche Novellen, namentlich dem 1. StVRG, der sich bis in die 1980er Jahre hinzieht. In diesen Zeitraum fällt mit dem Ergänzungsgesetz 1974, dem Antiterrorismusgesetz 1976, dem Kontaktsperregesetz 1977 und dem StPÄG 1978 der Beginn der bis heute immer wieder aufscheinenden Entwicklungslinie der Terrorismusbekämpfung, die man mit Rieß als parallel verlaufende Phase der „reaktiven Krisenbewältigung“[3] begreifen kann und die auch Spuren im Strafprozessrecht hinterlässt.

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Anschließend beginnt ab 1979 eine bis heute andauernde Reihe von Novellen, die der Entlastung und Vereinfachung oder auch Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtrechtspflege dienen. Seit dem Ende der 1980er Jahre ist eine prägnante Einteilung der legislativen Aktivität in zeitliche Phasen kaum mehr möglich, vielmehr lassen sich einige wiederkehrende Themen benennen, wie flankierende Maßnahmen der Verbrechens„bekämpfungs“gesetzgebung durch Ausbau der Ermittlungseingriffe, Prozessökonomie (Entlastung, Vereinfachung, Beschleunigung), Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Datenschutzes, Stärkung der Rechte des mutmaßlichen „Opfers“ nebst Wiedergutmachungsmaßnahmen, Zeugenschutz sowie der Verfahrensbeendigung mit Zustimmung des Beschuldigten oder Angeklagten.

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Eine umfassende Reform der aus der Kaiserzeit stammenden Strafprozessordnung ist seit der Frühzeit der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein von Politik und Wissenschaft durchaus befürwortet worden. Ansätze dazu verliefen aber rasch erfolglos, unvollendet blieb ebenso die stattdessen geplante schrittweise Reform durch mehrere große Novellen. Eine amtliche Strafprozesskommission wurde erst 2014 einberufen, freilich mit engen Zeitvorgaben und ohne den Auftrag einer Gesamtreform. Die Vorstellungen, was an die Stelle des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Modells des reformierten Strafprozesses treten sollte, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Dachte man anfangs an Annäherungen an den Parteiprozess anglo-amerikanischer Prägung mit einer Zweiteilung der Hauptverhandlung, so trat später eine Neugestaltung des Gerichtsaufbaus und des Rechtsmittelsystems in den Vordergrund, dann eine Neugestaltung des Ermittlungsverfahrens. An die Stelle von Gesamtkonzepten sind seit längerem einzelne Themengebiete getreten. Zugleich stellte sich heraus, dass das Geschehen in deutschen Gerichtssälen immer weniger durch das Strafverfahrensrecht als durch informelle Praktiken bestimmt wird. Der wohl tiefgreifendste Eingriff in das Gefüge der StPO ist durch das Verständigungsgesetz 2009, das diese Praktiken kanalisieren soll, erfolgt, ohne dass die Tragweite im Gesetzgebungsverfahren adäquat reflektiert worden wäre. Die legislative Umsetzung eines Teils der Vorschläge der Expertenkommission von 2015 ist inzwischen durch eine Vielzahl punktueller Änderungen erfolgt.

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Im Folgenden wird ein zusammenfassender Abriss der einzelnen Phasen und wichtigsten Entwicklungslinien der Gesetzgebung gegeben. Eine umfassende Darstellung der Änderungsgeschichte der StPO im Detail wird nicht angestrebt;[4] eine Einbeziehung der zahlreichen amtlichen und privaten Reformentwürfe würde den Rahmen eines Kapitels sprengen.

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