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Martin Luther liest die Bibel

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Da Martin Luther Doktor der Theologie war und Studenten unterrichten musste, beschäftigte er sich schon von Berufs wegen intensiv mit der Bibel. Aber er suchte darin auch nach Antworten auf seine eigenen Fragen und Zweifel. Denn woher sollten Gottes Antworten kommen, wenn nicht aus seinem Wort?

Im Jahre 1545, ein Jahr vor seinem Tod, beschrieb Luther den Moment, als er plötzlich verstand, was es der Bibel zufolge mit der Vergebung der Sünden auf sich hatte. Hier ging es um einen Vers aus dem Brief des Paulus an die Römer und wir lassen einmal Luther selbst zu Wort kommen (drei Punkte markieren jeweils Auslassung von mir):

 Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel (Vers 17) war mir bisher dabei im Wege: »Die Gerechtigkeit Gottes wird darin (im Evangelium) offenbart.« Ich haßte nämlich dieses Wort »Gerechtigkeit Gottes«, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war … nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.

 Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich haßte ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte … So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an; ich dürstete glühend zu wissen, was Paulus wolle.

 Da erbarmte sich Gott meiner. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (im Evangelium) offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart … durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht.

 Mit so großem Haß, wie ich zuvor das Wort »Gerechtigkeit Gottes« gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dies Wort als das allerliebste hoch. So ist mir diese Stelle des Paulus in der Tat die Pforte des Paradieses gewesen.

 (aus: Martin Luther: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Band 2, herausgegeben von Kurt Aland. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1983)

Luther verstand nun, dass »Sünde« nicht einfach nur schlechte Taten wie Diebstahl, Lüge oder Habgier bedeutete. »Sünde« bedeutet, dass der Mensch sich im Grunde seines Wesens ganz von Gott abgewandt hat. Die Beziehung zu Gott ist grundlegend gestört. Und diese Beziehung kann kein Mensch von sich aus wieder heilen (in Luthers Worten »vor Gott gerecht werden«). Das kann nur Gott schenken. Luther wurde klar, wann »genug« ist: Es ist immer genug, wenn der Mensch nur glaubt. Wenn der Mensch nur an die Erlösung durch das Opfer Jesu glaubt, ist er »gerechtfertigt«. Und das nennt Luther dann »allein aus Gnade«.

Dass Gottes Gnade ein Geschenk ist, bedeutet natürlich nicht, dass ein Christ nicht Gutes tun soll. Aber »gute Werke« sind die Folge der Liebe zu Gott. Aus Dankbarkeit für die Errettung und die Liebe Gottes möchte der Gläubige so leben, wie es Gott gefällt (also zum Beispiel die Gebote halten). Für die Erlösung des Menschen bewirken die guten Werke allerdings rein gar nichts.

Luther erzählte in seinem Lebensrückblick die ganze Geschichte zwar wie ein plötzliches Ereignis, aber aus seinen Schriften wird auch deutlich, dass sich sein Denken eher schrittweise zu diesem »allein aus Glauben« und »allein aus Gnade« entwickelte. Wirklich klar und zur festen Überzeugung wurde ihm seine Sicht von Glaube und Gnade wohl erst in den Monaten nach dem Anschlag der 95 Thesen in Wittenberg. Als er an die Öffentlichkeit trat, wollte er eigentlich nur auf den Missbrauch von Ablass und Buße hinweisen. Wahrscheinlich dachte er über den Ablassmissbrauch sogar noch: »Wenn das der Papst wüsste!«

Schon im September 1517 veröffentlichte Luther 97 Thesen (also Aussagen oder Behauptungen), die als Grundlage für eine Diskussion dienen. Sie können angefochten und auch verteidigt werden. Am Ende der 97. These schrieb Luther:

  »Damit wollen wir nichts sagen und glauben auch nichts gesagt zu haben, was der katholischen Kirche und den Kirchenämtern nicht entspräche.«

Den Moment, in dem sich Luthers Glauben und Denken vollständig änderte, nennt man auch seinen »reformatorischen Durchbruch«, der Moment, den er im Zitat beschrieb, wird auch sein »Turmerlebnis« genannt.

Luther wollte also keinen wirklichen Streit und keine neue Kirche gründen. Denn er liebte die Kirche heiß und innig. Er wollte nur »Reformation« im einfachen Sinne des Wortes: »Wiederherstellung, Erneuerung« bedeutet das lateinische Wort eigentlich. Nur: Niemand beachtete dieses erste Diskussionspapier. Mit seiner nächsten Aktion aber erregte Luther eine Aufmerksamkeit, mit der er niemals gerechnet hatte.

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