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Als Marie nach der Schicht aus dem Krankenhaus trat, stand die Herbstsonne schon tief am Horizont. Bald würde die Abenddämmerung einsetzen und das Tal mit einem weichen Schleier aus Licht überziehen. Die Luft war frisch und ein bisschen feucht. Marie schauderte. Bei all der Aufregung am Morgen und ihrem eiligen Aufbruch zum Sonnhof hatte sie ihre Jacke zu Hause vergessen. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg ins Dorf. Sie wollte ihre Eltern besuchen. Gabriele und Werner liebten ihre einzige Tochter abgöttisch. Wenn es nach den beiden gegangen wäre, wäre Marie nie aus dem Haus gezogen. Aber sie hatte immer Sehnsucht nach der einsamen Berghütte gehabt und war dorthin zurückgekehrt, sobald sie volljährig war. Gleichzeitig waren ihre Eltern ihr sehr wichtig, und Marie besuchte sie mindestens einmal in der Woche. Der Fahrtwind blies ihr ins Gesicht, doch Marie trat so fest in die Pedale, dass ihr bald warm wurde. Sie entschied sich, nicht durch das Dorf zu fahren, sondern den längeren Weg zu nehmen, der im Halbkreis außen herum führte. Trotzdem dauerte es keine zehn Minuten, bis sie das Rad vor dem Haus ihrer Eltern abstellte.

Wie immer stand die Tür offen. Marie betrat die gemütliche Stube und streifte ihre Schuhe ab. Aus der Küche hörte sie das vertraute Klappern von Kochlöffeln, Pfannen und Töpfen. Es roch verführerisch nach frischen Kartoffeln und würzigem Fleisch. Maries Magen begann zu knurren. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit der schnellen Brotzeit in ihrer Pause im Krankenhaus nichts gegessen hatte.

„Haalloo“, rief sie. Der Kopf ihrer Mutter erschien in der Küchentür.

Gabriele strahlte sie an und empfing sie mit einer zärtlichen Umarmung. Dann winkte sie Marie in die Küche. Gabriele war dreiundfünfzig, sah aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Die kurz geschnittenen dunklen Haare ließen ihr Gesicht beinahe jugendlich wirken. Auch ihr Körper zeigte fast keine Anzeichen ihres Alters. Sie trug eine helle Hose und einen bunt gemusterten Pullover, der perfekt zu ihren strahlend grünen Augen passte. Schon als Kind hatte Marie ihre Mutter schön gefunden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen im Dorf hatte sie Spaß an moderner Kleidung, achtete immer auf ihre Frisur und ging nie ungeschminkt aus dem Haus.

Sehnsüchtig blickte Marie auf den gedeckten Tisch in der Wohnküche. Sie hob einen Topfdeckel an und ließ sich den heißen Duft in die Nase steigen.

„Mmmmhhm, was gibt’s denn?“

Gabriele nahm Marie den Deckel aus der Hand und schob sie auf den Tisch zu. „Setz dich erst mal hin. Es gibt Rouladen mit Kartoffelbrei. Wir können gleich essen, wenn Papa kommt.“

Kurz darauf erklangen Schritte im Flur. Maries Vater Werner betrat die Küche. Als Marie sah, wie er Gabriele zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange drückte, wurde ihr warm ums Herz. So muss es sein, wenn zwei Menschen wirklich zusammengehören, dachte sie unwillkürlich.

Werner bemerkte Marie und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Hallo, Marie, schön, dich zu sehen.“ Er grinste. „Ich hab schon geglaubt, Gabriele kocht heute extra für mich besonders gut. Dabei kommt unsere Kleine zum Essen.“

Natürlich hatten Gabriele und Werner schon erfahren, was mit Max passiert war. Immerhin waren sie einige Jahre Nachbarn gewesen. Auch wenn die einen jetzt unten im Dorf wohnten und die anderen oben auf dem Hof: Nachrichten sprachen sich in Josefszell schnell herum. Vor allem, wenn es um Krankenwageneinsätze oder Ähnliches ging.

Beim Essen erzählte Marie ausführlich, was die Sanitäter gesagt hatten. Gabriele sah sie anerkennend an. „Da war Christl sicher froh, dass du da warst“, sagte sie.

Marie nickte. Dass vor allem Georg froh gewesen war, brauchte sie nicht zu erwähnen. Gabriele und Werner wussten nur zu gut, wie wichtig sie und Georg füreinander waren.

„Steht schon fest, wann Max wieder heimkann?“, fragte Werner.

Marie zuckte mit den Schultern. Sie hatte versucht, Georg anzurufen, aber er war nicht ans Telefon gegangen. „Ein paar Tage wird’s schon dauern. Und dann muss er sich zu Hause bestimmt noch schonen.“

„Max hat sich noch nie geschont“, antwortete Gabriele, „der wird jetzt nicht damit anfangen.“

Damit hatte ihre Mutter sicher recht.

Nach dem Essen stand Werner auf und reckte sich. „Ich geh noch ein bisschen raus. Wer kommt mit?“

Gabriele winkte ab. „Geht ihr zwei ruhig. Ich bin müde, und mir ist es draußen zu kalt.“ Sie griff nach ihrer Strickjacke, die über einer Stuhllehne hing, und hielt sie Marie hin. Dankbar hüllte Marie sich in die weiche Wolle und folgte ihrem Vater nach draußen.

Inzwischen war es dunkel geworden. Nur die Bergspitzen schimmerten noch in den letzten Strahlen der Abendsonne. Marie hakte sich bei ihrem Vater unter, und sie schlugen den Weg ins Dorfinnere ein. Die Fenster der Nachbarhäuser waren beleuchtet. Vereinzelt konnte man Menschen erkennen, die sich hinter den Glasscheiben bewegten. Auf der Straße war es ruhig. Marie kam es vor, als hätten die Berge alle Laute des Dorfes verschluckt. Nur ihre Schritte auf dem Weg waren leise zu vernehmen.

Sie kamen an der Kirche vorbei und folgten dem Weg an der Friedhofsmauer entlang.

Als sie das Tor zum Kirchhof passierten, überkamen Marie die Erinnerungen. Als Kinder hatten sie und Georg hier viele Stunden verbracht. Marie lächelte in sich hinein, als sie an den kleinen Georg dachte. Die anderen Mädchen hatten ihn langweilig gefunden. Aber sie liebte seine Gesellschaft. Immer hatte er aufmerksam zugehört, wenn sie aus der Schule erzählte. Und nie hatte er über ihre verrückten Ideen gelacht.

„Und sonst?“

Werners Frage riss Marie aus ihren Gedanken. Sie lächelte. Ihr Vater war kein Freund von großen Worten. Aber sein Gesicht und seine Körpersprache reichten meist aus, um Marie zu verstehen zu geben, was er sagen wollte.

„Was willst du wissen?“, fragte Marie.

Werner zuckte leicht mit den Schultern. „Alles.“

„Du meinst, wie es mir geht?“

Werner antwortete nicht.

„Und warum ich immer noch keinen Mann habe, oder?“

Jetzt lächelte Werner. „Tut mir leid, wenn ich dir zu nahe trete, aber Mama und ich machen uns eben Gedanken.“

„Ist schon in Ordnung“, antwortete Marie.

Schon immer hatten Gabriele und Werner viel Zeit damit verbracht, sich um sie zu sorgen. Bei Marie zu Hause war es anders als bei vielen Familien in der Gegend, bei denen die Kinder neben Arbeit und Alltag einfach mitliefen. Im Hause Weber war die einzige Tochter immer an erster Stelle gestanden. Daran hatte auch ihr Auszug nicht viel geändert. Meist hatte Marie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern genossen, manchmal war es ihr auf die Nerven gegangen, ständig unter Beobachtung zu stehen. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt.

Liebevoll drückte Werner ihren Arm, und Marie sprach weiter. „Also, mir geht es gut. Meine Arbeit gefällt mir. Auf dem Berg fühle ich mich wohl, wie immer. Ich habe einen wunderbaren besten Freund und liebe Eltern. Mehr brauche ich nicht.“

Ihr Vater starrte auf den Boden. Offensichtlich reichte ihm die Antwort nicht.

„Ich werde schon noch den Richtigen treffen. Macht euch keine Sorgen. Im Moment ist in meinem Leben gar kein Platz für einen Mann. Außerdem müsste der dann zu mir auf den Berg ziehen. Ich werde auf keinen Fall woanders hingehen.“

Werner räusperte sich und dachte kurz nach. „Natürlich sind wir froh, dass du dich wohlfühlst. Aber wir wissen, dass das Leben hier nicht immer einfach ist. Bevor du dich endgültig dafür entscheidest, solltest du dir sicher sein.“

Marie zuckte leicht. Daher wehte der Wind. Ihre Eltern machten sich nicht nur Gedanken über einen fehlenden Mann. Hier ging es um das große Ganze. Um Maries Zukunft und alles, was dazu gehörte. Oder auch nicht. „Du meinst, so wie du und Mama?“, fragte sie.

Werner kam aus einem Dorf in der Nähe von Josefszell. Für seine landwirtschaftliche Lehre war er in die nächstgrößere Stadt gezogen und hatte dort Gabriele kennengelernt. Sie war in der Stadt aufgewachsen und arbeitete als Kindergärtnerin. Nach kurzer Zeit hatten die beiden sich verliebt. Sie hatten geheiratet und Gabriele war mit Werner auf den Berg gezogen. Doch ihre Mutter war lange sehr unglücklich gewesen, das wusste Marie. Gabriele konnte sich an die Einsamkeit nicht gewöhnen. Auch die Arbeit als Bergbäuerin bereitete ihr keine Freude. Deswegen hatten die beiden den Betrieb aufgegeben und waren nach Josefszell gegangen. Seitdem arbeitete Werner als Landmaschinenmechaniker und Gabriele als Kindergärtnerin, wie früher.

Werner nickte. „Wir haben uns gemeinsam für das Leben hier entschieden. Aber es war lange Zeit sehr schwer für deine Mutter.“ Er zögerte kurz. „Und für mich.“

Marie schaute ihn fragend an. „Aber jetzt ist es doch gut, oder?“

Werner nickte wieder. „Ja, aber wir mussten beide kämpfen. Und Kompromisse schließen. Sie hat das Leben in der Stadt aufgegeben, ich meinen Hof. Anders hätten wir nicht zusammenleben können.“

Sie gingen ein paar Schritte, ohne zu sprechen, dann fuhr Werner fort: „Du musst dir gut überlegen, wie wichtig das Leben in den Bergen für dich ist.“ Er machte eine kurze Pause, wie um seinen Worten noch mehr Bedeutung zu verleihen. „Würdest du dafür auf einen Mann verzichten? Oder wärst du nicht doch bereit, für den Richtigen von hier wegzuziehen?“

Marie antwortete nicht.

Auf dem Rückweg schwiegen Vater und Tochter. Marie hing ihren Gedanken nach und war froh, dass ihr Vater sie gewähren ließ. Im Gegensatz zu Werner und Gabriele war sie noch nie länger von zu Hause weg gewesen. Marie kannte nur das Leben auf dem Land. Manchmal war es einsam. Sie hatte wenige Freunde und war oft in ihrem Häuschen allein. Doch ihr fehlten die Kontakte nicht. Früher hatte sie sich eine Zeit lang nach Abenteuer und Abwechslung gesehnt, wollte in die Stadt ziehen und verrückte Leute kennenlernen. Aber im Moment war sie hier glücklich. Ihre Arbeit im Krankenhaus erfüllte sie und forderte sie heraus. Bisherige Bekanntschaften mit Männern konnte sie an einer Hand abzählen. Da waren ein paar Schwärmereien in der Schulzeit gewesen. Und dann ihr ehemaliger Chef, der Oberarzt. Marie hatte sich in ihn verliebt und war selbst überrascht gewesen, dass auch er an ihr Interesse hatte. Allerdings war seine Begeisterung schnell abgekühlt, als die neue OP-Schwester aus der Stadt kam. Ihre Beziehung hatte nur ein paar Wochen gedauert. Eine Zeit lang hatte Marie darunter gelitten. Aber das war lange her. Sicher würde irgendwann der Tag kommen, an dem sie sich eine Veränderung wünschte. Aber ob sie dann ihr geliebtes Tal verlassen würde? Verpasste sie hier oben etwas? Verbaute sie sich womöglich ihr Leben, weil sie sich in ihrem kleinen Haus einigelte und nicht unter Leute ging? War es das, wovor ihre Eltern Angst hatten?

Als sie das Haus ihrer Eltern erreichten, wusste Marie immer noch keine Antworten auf all die Fragen, die das Gespräch mit ihrem Vater ausgelöst hatte. Vielleicht sollte sie mit Georg sprechen? Ihr Freund hatte ihr mit seiner geradlinigen Art schon oft geholfen, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

An der Tür verabschiedete sie sich von ihrem Vater. „Danke, dass du mit mir gesprochen hast. Ich werde darüber nachdenken, ganz bestimmt. Aber bitte zerbrecht euch nicht den Kopf über meine Zukunft, ja? Sag das auch Mama.“ Sie küsste ihren Vater auf die Wange und machte sich auf den Weg nach Hause.

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