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Im Haus des Sonnhofes saß Georg mit seiner Mutter in der Küche. Christl hatte aufgehört zu weinen, ihre Augen waren noch gerötet. Georg hatte zwei dampfende Tassen Kaffee auf den Tisch gestellt.

Christl trank einen Schluck. „Danke, das tut gut. Hol doch noch den Kuchen aus dem Ofen.“

Georg zog die Augenbrauen nach oben. Heute war Samstag. Kuchentag. Diese Gewohnheit hatten seine Eltern vor vielen Jahren eingeführt. Dass Christl so kurz nach Max’ Tod daran gedacht hatte!

Er schnitt für jeden ein großes Stück von dem noch warmen Marmorkuchen ab.

Als er den Teller vor Christl hinstellte, seufzte sie. „Ach Georg. Wenn doch der Papa noch hier wäre!“

Georg wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hatte seinen Vater geliebt. Auch wenn sie wenig miteinander geredet hatten. Sie hatten sich verstanden. Sein Vater war einfach immer da gewesen, ein selbstverständlicher und zuverlässiger Teil seines Lebens. Jetzt musste er ohne ihn zurechtkommen.

Georg legte seine Hand auf Christls. „Bestimmt schaut er uns von oben beim Kuchenessen zu.“

Ein Lächeln stahl sich auf Christls Gesicht. „Er ist doch noch nicht mal begraben. Das dauert noch, bis der uns aus dem Himmel zuschaut.“

Als Christl das bevorstehende Begräbnis erwähnte, verschlug es Georg den Appetit. Er legte sein Kinn in die aufgestützten Hände und starrte an seiner Mutter vorbei ins Leere. Er hasste Beerdigungen! Davor drückte er sich, so oft es ging. Aber jetzt musste er nicht nur teilnehmen, er musste auch gemeinsam mit Christl die Vorbereitungen treffen. Und das nach dem Streit mit Marie, der ihm viel mehr zusetzte, als er zugeben wollte.

Seine Mutter schien ihm die Gedanken an der Nasenspitze abzulesen. „Du hilfst mir doch, gell?“ Sie sah ihn besorgt an. „Oder hast du jetzt keine Zeit wegen …“, sie umklammerte ihren Kaffeebecher noch etwas fester, „… also wegen deiner Pläne … ich meine, mit der Frau.“

Georg runzelte die Stirn. „Saskia? Die ist weg. Der hat es hier oben nicht gefallen. Sie ist zurück in die Stadt.“

„Und was ist mit Boris? Und der Scheune?“ Christls Stimme klang erleichtert, aber noch schwang eine Spur Unsicherheit darin mit.

Georg schüttelte den Kopf. „Das Pferd bleibt erst mal da. Ich denke, das war voreilig von mir. Tut mir leid, Mama.“

Jetzt legte Christl ihre Hand auf Georgs. Sie blickte ihren Sohn liebevoll an. „Ich bin froh, dass du das gemerkt hast. Und bei mir musst du dich nicht entschuldigen.“

Georg hob fragend die Augenbrauen. „Bei wem dann? Bei Saskia?“

Jetzt lachte Christl. „Du bist deinem Vater zu ähnlich! Wenn man dich nicht mit dem Kopf drauf stößt, siehst du das Offensichtliche nie“, erwiderte sie. „Das mit Saskia muss dir nicht leidtun. Der hast du nichts getan. Sie hat einfach nicht gepasst. Ich bin froh, dass ihr das so schnell entdeckt habt.“

Georg steckte sich das letzte Stück Kuchen in den Mund und schob den Teller von sich weg. „Du hast recht. Ich hab gleich gedacht, im Internet finde ich nicht die Richtige. Aber ich wollte halt so dringend eine Frau in meinem Leben. Und Marie hat gesagt …“ Er brach ab und schaute nachdenklich ins Leere.

Christl musterte ihn. „Und Marie …?“, fragte sie dann und holte Georg damit aus seinen Gedanken.

Er stellte seinen Kaffeebecher mit Schwung auf den Tisch. „Was soll mit Marie sein? Die hat jemanden kennengelernt und ist seitdem nicht mehr ansprechbar. Grad war sie da und hat mich angeschrien. Dass ich nichts verstehe. Ich versteh auch nichts, keine Ahnung, was mit ihr los ist. Auf jeden Fall hab ich ihr gesagt, dass das Pferd erst mal bei uns bleibt.“

Christl seufzte erleichtert. „Das ist gut. Dann kommt sie bestimmt bald wieder. Und sonst bleibt vorläufig alles beim Alten?“, fragte sie.

„Ja. Wegen mir schon.“

„Darauf essen wir noch ein Stück Kuchen“, beschloss Christl.

Zehn Minuten später wollte Georg aufstehen.

„Also, dann bring ich den Anhänger zurück, den hab ich von Markus ausgeliehen.“

Christl fasste ihn am Arm. „Warte. Ich will dich noch was fragen. Was Wichtiges.“

Georg setzte sich wieder. „Hat es mit der Beerdigung zu tun?“

Christl schüttelte den Kopf. „Nein. Im Gegenteil. Es hat etwas mit dem Leben zu tun.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Mit deinem Leben.“

Georg lehnte sich zurück, während seine Mutter weitersprach.

Es schien sie Überwindung zu kosten. „Wir haben nie viel geredet, Papa, du und ich. Meistens brauchten wir das auch nicht. Aber jetzt will ich mit dir reden. Es wird dir komisch vorkommen, was ich dir zu sagen habe. Bitte hör mir trotzdem zu.“ Sie atmete geräuschvoll aus. „Es wird ein bisschen dauern.“

„Jetzt bin ich aber neugierig“, sagte Georg.

„Wie war dein Leben?“, fragte Christl.

Georg starrte sie erstaunt an. Er konnte mit der Frage nichts anfangen.

Christl ließ nicht locker. „Ich meine, dein Leben bisher. Gefällt es dir hier? Bist du glücklich?“

Georg fuhr sich durch die Haare. Dann schob er den leeren Teller vor sich mehrmals hin und her. Er war es nicht gewohnt, über solche Dinge zu sprechen. Er starrte auf den Tisch, als fände er dort die Antwort. War er glücklich? Im Moment war er aufgewühlt und verletzt. Weniger durch Saskias Weggang als durch Maries Worte. Er war ratlos und fühlte sich leer. Aber das war es nicht, was seine Mutter gemeint hatte. Sie wollte wissen, wie es bisher für ihn war. War er glücklich? Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

Als er endlich das Wort ergriff, sah er Christl in die Augen. „Seit ich denken kann, bin ich hier auf dem Hof. Ich mag unser Haus, die Arbeit, die Tiere. Ich fühl mich wohl in den Bergen. Also, ja, ich mag mein Leben.“ Er sah Christl forschend an.

Die Antwort schien ihr nicht zu reichen.

„Du und Papa, ihr wart gute Eltern. Ist es das, was du hören willst?“

Christl wiegte den Kopf hin und her. „Ich will nur wissen, was du denkst und fühlst. Wir haben uns große Mühe gegeben, aus dir einen anständigen Menschen zu machen. Wir wollten immer, dass es dir gut geht.“

„Das weiß ich“, erwiderte Georg, „ich bin euch auch dankbar dafür. Aber warum fragst du mich all diese Sachen?“

Christl zögerte. „Weil Max tot ist. Und du bist erwachsen. Hier beginnt ein neuer Abschnitt in unserem Leben. Ab jetzt bist du selber für dein Glück verantwortlich.“

Schweigend ließ Georg die Worte seiner Mutter auf sich wirken.

„Manchmal ist es schwer, die richtige Wahl zu treffen. Ich weiß das. Mehrmals in meinem Leben stand ich vor schwierigen Entscheidungen. Die wichtigste war, deinen Vater zu heiraten.“

Georg sah sie überrascht an. „Was? Du warst dir nicht sicher?“

„Nein, am Anfang nicht“, sagte Christl. „Ich hatte Glück. In meiner Jugend war es nicht selbstverständlich, dass eine Frau ihren Mann selbst aussuchen durfte. Meine Eltern haben es mir erlaubt.“ Sie machte eine Pause. „Die freie Entscheidung war ein Geschenk. Aber es war auch schwer, weil ich oft Angst hatte, das Falsche zu tun.“

Georg nickte. „Ja, das geht mir auch so.“

„Das ist mir klar“, erwiderte Christl, „ich sehe doch, wie du dich quälst.“

Georg fuhr sich durch die Haare. „Aber du hast es geschafft, stimmt’s? Du hast richtig entschieden.“

Christl lächelte. „Auf jeden Fall.“ Sie drückte Georgs Hand. „Sonst säßen wir zwei heute nicht hier.“ Ihr Blick wurde nachdenklich.

„Weißt du, was ich oft bedauert hab?“, fuhr sie schließlich fort. „Dass meine Mutter gestorben ist, bevor du auf die Welt kamst. Ich bin sicher, du hättest sie gerngehabt. Und sie hätte dir so viele Sachen beibringen können.“

„Was meinst du?“

„Ich meine Sachen, die du von mir nicht lernst. Deine Oma war eine sehr sensible Frau. Sie hat oft gelitten, weil sie für das harte Leben hier in den Bergen nicht geschaffen war. Sie war eine Künstlerin. Eine Denkerin.“ Christl zögerte. „Eines habe ich von ihr gelernt. Das hat mir oft geholfen. Und jetzt will ich es dir zeigen. Es ist eine Hilfe für unser ganzes Leben.“

Georg hatte aufgehört, den Teller vor sich herumzuschieben. Stattdessen musterte er seine Mutter mit zunehmendem Erstaunen. Er hatte sie noch nie so sprechen hören. Er spürte einen Kloß in seinem Hals, als er sagte: „Ich wusste gar nicht, dass Oma so war. Du hast nie von ihr erzählt.“

Christl nickte. „Das hätte ich vielleicht tun sollen. Aber wenn du magst, zeige ich dir jetzt, was sie mir beigebracht hat.“

Georg nickte.

Christl stand auf, holte eine Kerze aus dem Wohnzimmer, zündete sie an und stellte sie auf den Küchentisch. Sie setzte sich und griff nach Georgs Händen. „Schau dir die Flamme gut an. Sie ist wie ein Gedanke. Ihr Schein flackert hin und her. Jeder Luftzug bringt sie durcheinander und lässt sie wackeln.“ Christl ließ Georgs Hände los und blies leicht auf die Kerze. Die Flamme wurde größer und zuckte unruhig. „Sie ist durcheinander. So wie wir, wenn wir nicht wissen, was richtig und was falsch ist.“

Georg richtete all seine Aufmerksamkeit auf die Flamme. Die Kerze hörte auf zu flackern und brannte wieder gleichmäßig.

„Aber irgendwann hört es auf“, erklärte Christl. „Dann weiß die Flamme, was sie will, und brennt ruhig und stark. Siehst du?“

Georg antwortete nicht. Seine Mutter so reden zu hören, war sonderbar. Ihre Gefühle behielt sie meist für sich. Jetzt war sie ungewohnt ernst und wirkte fremd auf ihn.

Nach einer Weile räusperte Georg sich. „Was willst du mir sagen? Ich bin doch keine Kerze.“

Christl ließ sich durch den Einwurf nicht aus der Ruhe bringen. „Ich will dir sagen, dass du den geeigneten Moment erwischen musst, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Einer davon ist jetzt. Wenn du magst, helfe ich dir.“

Immer noch war Georg leicht verunsichert von Christls Benehmen. Doch er würde auf jeden Fall tun, was sie vorschlug. Er nickte zustimmend. Christl machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr.

„Schließ die Augen. Entspann dich. Versuch, an nichts zu denken.“

Georg senkte die Lider. Er hörte das Atmen seiner Mutter und das leise Flackern der Kerze. Aus dem Stall drangen gedämpfte Laute in die Stube.

„Die Geräusche sind ganz normal“, sagte Christl. „Du brauchst nicht auf sie zu hören. Sie kommen und gehen. Genau wie deine Gedanken.“

Eine Weile schwieg Christl. Georg spürte, wie er ruhiger wurde. Allmählich entspannte sich sein Körper, und ein Schleier senkte sich über seine Sinne. Sein Kopf fühlte sich leer an, frei. Wie kurz vor dem Einschlafen.

„Jetzt stell dir vor, du wirst älter“, begann Christl wieder. „Immer älter. Erst einen Tag. Dann ein paar Wochen. Irgendwann kommt Weihnachten. Dann das neue Jahr.“ Sie sprach sehr langsam, sodass Georg ihren Worten mühelos folgen konnte.

„Du feierst deinen nächsten Geburtstag. Und schließlich vergeht noch ein Jahr.“

Georg sah die Abfolge der Jahreszeiten vor seinem geistigen Auge. Mittendrin war er selber, der jedes Jahr ein bisschen älter wurde.

Christl ließ ihm genug Zeit, bevor sie weiterredete. „Jetzt sind fünf Jahre verstrichen. Es waren fünf gute Jahre. Du bist glücklich. Du lebst das Leben, das du leben willst.“

Georg spürte ein warmes Gefühl im Bauch und lauschte der Stimme seiner Mutter.

„Und jetzt schau genau hin. Wo bist du? Was machst du?“

Georg kniff die Augen fester zusammen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Tatsächlich! Er konnte sich sehen. Mitten auf dem Hof. Er saß auf der Bank und wandte sich zur Scheune.

„Jetzt entdeckst du jemanden“, sagte Christl. „Schau dir genau an, wer das ist.“

Georg befahl seinem Traum-Ich, aufzustehen und zur Scheune zu gehen. Da war jemand. Als er näher kam, konnte er die Umrisse erkennen. Dann nahm die Person Gestalt an.

Georg riss die Augen auf. „Marie!“, hauchte er. „Da war Marie!“

Christl betrachtete ihren Sohn mit eindringlicher Miene. Dann lächelte sie. „Wirklich? Wer hätte das gedacht!“

Georg schüttelte sich. Das war zu verrückt! Jetzt wusste er, was zu tun war. Schon einmal hatte er so eine Ahnung gehabt, als er das Treffen mit Barbara abgebrochen hatte. Aber jetzt war es keine Ahnung, jetzt war es reines, glasklares Wissen. Er spürte es mit einer Heftigkeit, die ihn fast erdrückte. Er musste zu Marie. Er musste seine Freundin zurückgewinnen. Er brauchte sie, denn ohne sie würde sein Leben niemals glücklich sein.

Er sprang auf und rannte zur Tür. „Jetzt verstehe ich, was du mit mir besprechen wolltest!“, rief er Christl zu. „Ich muss los.“ Als er schon im Türrahmen stand, drehte er sich noch einmal um.

Er kam zurück und umarmte seine Mutter fest. „Danke, Mama.“

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