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„Nein!“

Marie saß aufrecht im Bett und drückte das Telefon so fest gegen ihr Ohr, dass es schmerzte. Aber sie kümmerte sich nicht weiter darum. Zu sehr war sie beschäftigt, das eben Gehörte zu verstehen.

„Marie, bist du noch dran?“, fragte ihre Mutter. „Beruhig dich erst einmal.“

Maries Herz klopfte wie verrückt, und ihr Atem ging so schnell, dass sie kaum ein verständliches Wort herausbrachte. Von beruhigen konnte keine Rede sein. „Ja, ja. Wann war das?“ Mit dem Handy immer noch am Ohr war sie aufgestanden und versuchte hektisch, sich ihre Hose überzuziehen, während sie ihrer Mutter lauschte.

Gabriele erzählte ihr, wie sie am Morgen einen ihrer frühen Spaziergänge gemacht hatte und dabei beim Sonnhof vorbeigekommen war. „Ich habe Blaulicht gesehen. Im Hof standen zwei Krankenwagen, aber die Sanitäter wollten mich nicht ins Haus lassen“, fuhr sie fort. „Ich weiß nicht mehr, wann das genau war. Vielleicht so um sechs“, stammelte sie noch. „Ich bin gleich heim und hab dich angerufen. Was ist denn los?“

Marie schluckte. Wenn die Sanitäter ihre Mutter nicht hineingelassen hatten, konnte das nur eines bedeuten. Jemand auf dem Hof lag im Sterben oder war schon tot.

Marie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie ließ das Telefon fallen und rannte ins Bad. Im nächsten Moment stieg die Übelkeit in ihr hoch, und sie erbrach den Inhalt ihres Magens in die Toilette. Noch zweimal musste sie sich übergeben. Dann stand sie zittrig auf und wusch sich mit schnellen Handgriffen Gesicht und Hände. Das Handy lag immer noch auf dem Boden und blinkte sie vorwurfsvoll an. Marie ließ es liegen. Stattdessen warf sie sich Pullover und Jacke über, stieg in ihre Schuhe und war mit wenigen Schritten aus der Tür.

Der Weg zum Hof kam ihr ewig vor, auch wenn sie so fest in die Pedale trat, dass ihre Reifen den Schotter in hohen Bögen auf die Wiese schleuderten. Völlig außer Atem steuerte sie durch das Eingangstor. Der Hof war leer und fast gespenstisch ruhig. Marie warf ihr Fahrrad auf den Boden und rannte auf den Eingang des Wohnhauses zu. Einen kurzen Moment blieb sie stehen. Zu groß war die Angst vor dem, was sie drinnen erwartete. Sie spannte die Schultern an und trat über die Schwelle. Im selben Augenblick traf sie die Gewissheit wie ein Schlag. Sie war lange genug Krankenschwester, um zu spüren, wenn ein Toter in der Nähe war. Hier im Haus lag eine Leiche. Einer der drei Hofbewohner war gestorben. Marie musste sich an der Wand festhalten, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Angst drückte ihr die Brust zusammen. Was, wenn Georg tot war?

Sie hörte ein Rascheln von oben. Gedämpfte Stimmen drangen ihr entgegen. Marie hielt den Atem an, um festzustellen, wem sie gehörten. Zuerst nahm sie Christls Stimme wahr. Ihr Weinen wurde von jemand anderem unterbrochen. Es klang nach einem Mann. Maries Herz tat einen Sprung. Das war Georg.

„Gott sei Dank!“ Hatte sie das gedacht oder ausgesprochen? Mit zittrigen Beinen nahm Marie eine Treppenstufe nach der anderen. Oben angekommen folgte sie den Stimmen zum elterlichen Schlafzimmer. Durch die geöffnete Tür fiel ihr Blick direkt auf das Bett. Max lag mit geschlossenen Augen auf seinem Kissen. Er war blass. Sein Gesicht trug einen entspannten Ausdruck, den Marie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Eine Maske des Friedens, schoss es ihr durch den Kopf.

Ihm zur Seite saßen sein Sohn und seine Frau. Christl hielt Max’ Hand und weinte leise. Georg hatte die Arme verschränkt und starrte ausdruckslos auf seine Eltern. Offenbar wusste er nicht, was er sagen sollte, um seine Mutter zu trösten.

Als Marie durch die Tür trat, hob Georg den Kopf und drehte sein Gesicht zu ihr. Er schien einen Moment zu brauchen, um aus seinen Gedanken aufzutauchen. Fast so, als müsste er darüber nachdenken, wer vor ihm stand. Dann verdunkelte sich sein Blick. Sein Mund wurde schmal, und er ballte die Hände zu Fäusten. Kurz glaubte Marie, er würde aufstehen und sie begrüßen. Aber Georg blieb sitzen und funkelte sie böse an. Maries Mund wurde trocken. Nur schwer kamen ihr die Worte über die Lippen. „Georg. Es tut mir leid.“

Georg antwortete nicht. Dafür stand Christl auf und nahm Maries Hände in ihre. Marie stiegen die Tränen in die Augen, als sie in das rotgeweinte Gesicht von Georgs Mutter sah. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. Christl umarmte sie, dann setzte sie sich wieder neben ihren Mann.

Marie wandte sich zu Georg. „Du hast mich angerufen“, stammelte sie. „Entschuldige. Ich …“

Sie brach ab. Georgs Augen waren kalt und seine Stimme scharf, als er zu sprechen begann.

„Hör auf. Nicht hier drin.“ Er stand auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Als sie außer Hörweite waren, drehte er sich um.

Zu gerne hätte Marie ihn berührt, ihn in den Arm genommen. Aber seine Haltung war eindeutig: Fass mich nicht an, schien sie zu sagen. „Ich hab dich angerufen, weil ich deine Hilfe brauchte“, zischte er. „Mein Vater ist zusammengebrochen. Er wollte keinen Krankenwagen. Nur du solltest kommen. Aber du warst nicht da. Den ganzen Nachmittag. Verdammt, Marie, wo warst du?“

Jetzt konnte Marie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie rannen ihr über das Gesicht und hinterließen einen nassen Fleck auf ihrem Hemd. „Es tut mir leid“, schluchzte sie schließlich. „Es tut mir so unendlich leid. Ich war …“ Sie konnte nicht weiterreden, so sehr wurde sie von Weinen geschüttelt.

Georg starrte auf den Boden. Warum nahm er sie nicht in den Arm? Stattdessen entfernte er sich noch einen Schritt weiter und spuckte ihr seine Worte förmlich vor die Füße. „Weißt du was? Ich will gar nicht hören, wo du warst. Weil es mir egal ist.“

Entsetzt starrte Marie ihn an. Georg schimpfte weiter. „Meinst du, ich hab keine Ahnung, was los ist? Du hast nur deinen Spaß im Kopf. Dieser Wichtigtuer, mit dem du dich triffst. Verdammt, Marie, ich dachte, wir sind Freunde.“

Marie schluckte so heftig, dass ihr der Hals wehtat.

„Auf so eine Freundin pfeif ich. Du bist abgehauen und hast uns hier sitzen lassen.“

Marie schüttelte den Kopf. „Nein, hab ich nicht …“ Doch sie wusste, dass sie nichts tun oder sagen konnte, was Georg besänftigen würde. Sie fühlte sich schuldig. Sie war nicht da gewesen. Max war gestorben, während sie Bilder im Museum betrachtet und Pasta gegessen hatte. Wenn sie nur die Zeit zurückdrehen könnte!

Georg warf ihr einen letzten vernichtenden Blick zu. Dann drehte er sich um und ließ sie stehen.

Gipfelliebe Gesamtausgabe

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