Читать книгу Gipfelliebe Gesamtausgabe - Mariella Loos - Страница 23
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ОглавлениеAm nächsten Morgen schälte Marie sich nur ungern aus den Federn. Es war schon hell, als sie endgültig die Augen aufschlug. Ihr Schädel brummte, und sie hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Die Erinnerung an den gestrigen Abend schob sie weit von sich. Sie wollte sich nicht sofort die Laune verderben lassen.
Stattdessen tauchten andere Bilder in ihrem Kopf auf, und das war auch nicht viel besser. Ihr fiel wieder ein, wie sie gestern in Max’ Zimmer gestanden hatte. Spürte noch einmal Christls Umarmung und sah ihren verzweifelten Gesichtsausdruck. Und Georg sah sie. Immer wieder Georg. Seinen zu einer verächtlichen Linie zusammengezogenen Mund. Die Kälte in seinem Blick. Und die Wut in seiner Stimme. Er könne auf sie verzichten, hatte er behauptet. Wie gemein! Dazu hatte er kein Recht! Oder doch? Hatte sie ihn im Stich gelassen? Schon stiegen Marie die Tränen in die Augen. Nein, sie wollte nicht weinen! Sie musste stark sein.
Vielleicht würde es reichen, ein paar Tage nicht zum Hof zu gehen? Georg zu meiden, bis er sich beruhigt hatte? Noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste sie, dass das nicht funktionieren würde. Georg würde sich nicht beruhigen. Er hatte beschlossen, sie aus seinem Leben zu verbannen. Er würde ihr niemals verzeihen.
Ein weiterer unangenehmer Gedanke schlich sich aus der Tiefe ihres Herzens an die Oberfläche. Marie setzte sich auf und schob die Zehen langsam aus dem Bett, bis die nackten Fußsohlen den Boden berührten. Die Kälte kitzelte sie bis zu den Knien hinauf. Das war es! Boris! Normalerweise war es kein Problem, wenn sie mal ein paar Tage nicht zum Sonnhof kam. Georg kümmerte sich dann um das Pferd. Aber so, wie er sich zurzeit benahm, war sie sich auf einmal nicht mehr sicher. Würde er aus Ärger auf sie womöglich Boris vernachlässigen? Nein, das passte ganz und gar nicht zu Georg, der liebte seine Tiere. Andererseits: Ihr Freund war gerade nicht er selbst, sie konnte sich einfach nicht darauf verlassen, dass alles gut ging. Immerhin war sie für Boris verantwortlich, Max und Christl hatten ihn damals unter anderem übernommen, weil sie versprochen hatte, bei der Versorgung zu helfen.
Mit einem Satz sprang Marie aus dem Bett. Sie musste los. Sich um das Pferd kümmern. Sie stutzte. Was würde Georg wohl sagen, wenn sie einfach so auf dem Hof auftauchte? Er hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass er sie nicht mehr sehen wollte. Marie fasste sich an die Schläfen. Der Kopfschmerz wurde stärker. Sie öffnete das Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen, und eilte ins Bad.
Nach einer heißen Dusche und in frischen Kleidern gelang es Marie, ihre Gedanken zu ordnen. Sie würde sich nicht von Georg ins Bockshorn jagen lassen. Seit Jahren versorgte sie Boris. Das Tier war an sie gewöhnt und sie an das Tier. Georg hatte sich immer gefreut, wenn sie kam und er sich nicht kümmern musste. Warum sollte sie es sich jetzt von ihm verbieten lassen? „Schließlich hab ich nichts verbrochen!“, murmelte sie zu sich selbst. Sie warf sich eine Jacke über, schnappte sich ihr Rad und machte sich auf den Weg.
Kurz vor dem Hoftor beschlich Marie das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Manchmal spürte sie Dinge, bevor sie sie sah. Sie beeilte sich, auf das Anwesen zu gelangen. Als sie ihr Rad abstellte, entdeckte sie Christl. Die Bäuerin lief aufgeregt an ihr vorbei und schien sie nicht zu bemerken. Ihr Gesicht war rot angelaufen, und sie fuchtelte nervös mit den Armen.
Marie stellte sich ihr in den Weg. „Christl. Was ist los?“
Christl drehte sich um und starrte Marie an. Sie war so aufgeregt, dass sie nur schwer antworten konnte. „Der Georg … Ich weiß nicht, was er hat … Er hört nicht auf mich … Vielleicht kannst du …?“, stammelte sie.
Marie griff Christl am Arm und versuchte, sie zu beruhigen. „Ist gut, das wird schon. Jetzt geh erst mal rein. Ich schau gleich nach ihm.“
„Da hinten.“ Christl deutete mit dem Arm auf die andere Seite des Hofs, in Richtung Scheune. Dann verzog sie sich ins Haus.
Marie spähte in die angezeigte Richtung, konnte aber nichts erkennen. Sie ging auf die Scheune zu und warf einen Blick hinein. Boris stand an seinem gewohnten Platz. Er drehte seinen Kopf, als er sie bemerkte. Marie lief zu ihm und tätschelte seinen Hals. „Hallo, mein Lieber.“ Sie drückte die Nase an sein weiches, warmes Fell. Kurz glaubte sie, eine Anspannung an dem Tier zu bemerken.
Im nächsten Moment drang ein Geräusch an Maries Ohr. Ein Knall, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Es kam von draußen. Durch das hintere Hoftor eilte Marie nach draußen, wo der Weg zur Straße führte. Da entdeckte sie Georg endlich. Er machte sich an einem Anhänger zu schaffen. Mit Wucht drückte er die Deichsel auf die Anhängerkupplung des Hofautos. Etwas schien kaputt zu sein. Immer wieder fiel die Deichsel mit einem Knall auf den Boden.
Marie marschierte auf Georg zu. Plötzlich drehte er sich zu ihr um, und sie erkannte mit Schrecken den feindseligen Ausdruck auf seinem Gesicht. „Was willst du?“, fauchte er sie an.
Marie schluckte. Sie wollte ihn nicht merken lassen, wie sehr sein Verhalten sie verletzte. „Ich wollte nach Boris sehen“, antwortete sie.
Georg richtete sich auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. „Brauchst du nicht mehr. Der kommt weg.“ Er deutete auf den Anhänger.
Erst jetzt wurde Marie bewusst, dass es sich um einen Pferdeanhänger handelte, den Georg an das Auto kuppeln wollte. Erschrocken wich sie zwei Schritte zurück. „Was? Wie meinst du das?“
„Hier ist kein Platz mehr für ein altes Pferd.“ Als Georg ihren schockierten Gesichtsausdruck bemerkte, schien er ein wenig Mitleid zu bekommen. Er ging auf sie zu und stemmte die Hände in die Hüften. „Hör zu, Marie. Die Zeiten hier ändern sich. Ich werde den Hof umbauen. Die Scheune brauch ich in Zukunft für etwas anderes.“
Immer noch hing Marie fassungslos an seinen Lippen. Georgs Stimme war jetzt etwas sanfter. Aber die Wut in seinen Worten war unverkennbar. „Jetzt schau doch nicht so. Du weißt schon lange, was ich vorhabe. Aber dir ist es doch eh egal, was hier wird.“
Marie unterbrach ihn. „Sag so was nicht! Es ist mir nicht egal. Das weißt du ganz genau! Du hättest mir wenigstens erzählen können, dass Boris wegmuss. Wo soll er überhaupt hin?“
„Der hat jetzt einen guten Platz, keine Sorge. Saskia hat sich drum gekümmert.“
Jetzt verlor Marie endgültig die Beherrschung. „Was? Und wer bitte ist Saskia?“
Georg starrte auf seine Schuhspitzen. Dann straffte er die Schultern und blickte Marie trotzig an. „Saskia ist meine neue Freundin. Du hast doch gewollt, dass ich eine Frau finde. Und jetzt hab ich eine.“
Marie bekam den Mund nicht mehr zu. „Was hast du?“
„Ich hab sie gestern kennengelernt“, erwiderte Georg. „Geht dich zwar nichts an. Aber sie ist nett und hübsch und hat mir die Augen geöffnet. Es ist höchste Zeit, dass ich hier was ändere. Hätte ich schon lang machen sollen.“ Georg drehte sich weg und versuchte erneut, den Pferdetransporter an das Auto zu hängen. Dann wandte er sich noch einmal zu Marie. „Und außerdem hat Saskia eine Pferdeallergie.“
Marie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Wie gelähmt stand sie da und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie ließ die Arme hängen und starrte Georg an. Im nächsten Augenblick hörte sie eine Stimme hinter sich und drehte sich langsam um.
„Was höre ich da? Allergie? Spricht hier jemand von mir?“ Eine junge, hübsche Frau war vor Marie aufgetaucht. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht. Allerdings war es alles andere als herzlich. „Ich bin Saskia. Und wer sind Sie?“
Marie erwachte aus ihrer Schockstarre. Sie fixierte die Frau wie eine Erscheinung. „M… Marie“, stammelte sie.
Saskia musterte sie amüsiert. Sie war stark geschminkt und hatte die Haare mit einem rosa Band nach hinten gebunden. An den Füßen trug sie bunte Sneaker mit leuchtenden Schuhbändern. Sie trippelte auf Georg zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Wie nett. Du hast Besuch von einer Nachbarbäuerin?“
Georg antwortete nicht. Stattdessen zog er den Kopf ein Stück weiter zwischen die Schultern.
Saskia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Marie. „Na, dann werden wir uns in Zukunft wohl öfter begegnen. Ich hatte zufällig gerade Urlaub, und Georg hat mich eingeladen, ein paar Tage auf seinem Anwesen zu verbringen. Ich finde es wirklich sehr romantisch hier.“ Sie zwinkerte Marie zu.
Marie stand mit offenem Mund da und versuchte zu erfassen, was sie gerade gehört hatte.
Saskia ging einen Schritt auf Georg zu und hakte sich bei ihm unter. Georg starrte immer noch auf den Boden. Marie konnte sehen, wie er rot wurde und sich in Saskias Umklammerung wand. Offenbar war ihm unbehaglich zumute.
Aber Saskia schien das nicht aufzufallen, sie plapperte einfach weiter. „Sie haben bestimmt schon erfahren, was Georg und ich mit dem Hof vorhaben? Er hat mir gestern von seinen Plänen erzählt. Und ich finde seine Ideen sooooo schön. Aber er muss jetzt zupacken, sonst wird das nichts. Ich werde ihm helfen. Ich … Ha… Ha… Haaatschi!“ Saskia zog ein Taschentuch aus der Jacke und putzte sich ausgiebig die gepuderte Nase.
„Ach, es wird wirklich Zeit, dass das Pferd wegkommt.“ Saskia sah sich suchend um, dann zuckte sie die Schultern und ließ ihr gebrauchtes Taschentuch auf den Boden fallen. Als immer noch niemand antwortete, legte sie den Kopf zur Seite und klimperte mit den Augenlidern. „Gell, Georg?“
Einige Sekunden sagte keiner etwas. Saskia betrachtete Georg erwartungsvoll. Auch Marie starrte ihn an. Georg stand da wie vom Donner gerührt. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Arbeitshose vergraben und richtete den Blick auf einen Punkt zwischen den beiden Frauen. Seine Unfähigkeit, etwas zu tun, löste etwas in Marie aus. Sie wurde wütend. Sehr wütend! Schon immer hatte es sie auf die Palme gebracht, wenn Georg sich vor schwierigen Situationen drückte.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und machte ihrem Herzen Luft. „Hallo! Georg! Ist jemand zu Hause!“ Sie gab ihm keine Gelegenheit, zu antworten. Es fühlte sich gut an, all den Ärger rauszulassen, der sich in den vergangenen Tagen in ihr angestaut hatte. Als würde ein Vulkan in ihr ausbrechen, schossen die Worte wie Lava aus ihrem Mund. „Jetzt sag ich dir mal was. Dein ganzes Gejammere, von wegen, ich hätte dich im Stich gelassen, ist total verlogen. Schau dich doch selber an, was tust du denn, kaum dass Max nicht mehr lebt? Lachst dir eine Schnepfe aus der Stadt an und wirfst hier alles über den Haufen.“
Jetzt war es an Saskia, mit vor Staunen offenem Mund dazustehen.
Mittlerweile war Georg aus seiner Starre erwacht und räusperte sich, als würde ein Gedanke sich in seinem Gehirn formen und den Weg über seine Lippen suchen.
Doch Marie schrie einfach weiter. „Deine Mutter sitzt drinnen und heult sich die Seele aus dem Leib. Und du turtelst hier mit der angemalten Schreckschraube herum. Weißt du, was du bist? Ein verantwortungsloser Arsch bist du!“
Jetzt mischte sich Saskia ein. „Wie bitte? Ich weiß zwar nicht, was das sein soll, aber ich bin sicher keine Schnepfe. Erst recht keine Schreckschraube. Überhaupt: Wie reden Sie denn mit Georg?“
Marie funkelte sie böse an. „Ich red mit dem so, wie er es braucht. Und mit dir genauso. Schau dich doch mal an mit deinen gefärbten Haaren und deinen Ballettschuhen. Meinst du, so kann man hier oben leben? Gar nichts weißt du.“
Saskia sah hilfesuchend zu ihrem neuen Freund. „Georg?“
Der kam ihr zu Hilfe. „Marie, hör auf! Ich hab mir Saskia nicht angelacht. Du wolltest doch unbedingt, dass ich die Internet-Weiber treffe. Du hast doch selber jemanden an der Angel. Und jetzt tust du so, als hätte ich was verbrochen!“ Georg war richtig in Fahrt.
Saskia zuckte zusammen. Aber Marie beachtete sie nicht weiter und baute sich stattdessen so nahe vor Georg auf, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. „Das ist wieder mal typisch. Du hast nichts kapiert. Gar nichts! Du glaubst, ich wollte mir einen Typen anlachen? Du bist doch noch viel bescheuerter, als ich dachte.“
„Hallo, kann ich auch mal etwas dazu sagen?“ Marie und Georg fuhren herum. Saskia stand neben ihnen. Sie wirkte zutiefst gekränkt. „Ich hör mir euer Geschrei nicht länger an“, schluchzte sie. „Hab ich mir doch gleich gedacht, dass hier auf dem Berg lauter Verrückte wohnen. Nur gut, dass ich das rechtzeitig gemerkt habe. Ich verschwinde. Werdet glücklich miteinander.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte ins Haus. Georg und Marie sahen ihr wortlos hinterher. Noch immer standen sie Schulter an Schulter.
Marie fing als Erste wieder an zu sprechen. „Und was wird jetzt aus dem Hof?“
Georg zuckte die Schultern. „Keine Ahnung.“
In dem Moment spürte Marie einen Stich in ihrer Brust. Zu sehen, wie verletzt Georg war, tat ihr weh. Hinter der Trauer und dem Schmerz spürte sie jedoch noch etwas. Eine Ahnung, die ganz allmählich zur Gewissheit wurde. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Ohne dass sie es bemerkt hatte, hatten ihre Gefühle für Georg sich verändert. Jetzt spürte sie es ganz deutlich. Da war mehr als freundschaftliche Zuneigung. Wie eine zarte Pflanze, die unter der Oberfläche wächst, hatte sich ein neues Gefühl den Weg nach oben gebahnt und wollte herauskommen. Aber es ging nicht. Sie selber hatte es verdorben. Hatte die Pflanze zertrampelt, bevor sie eine Chance hatte, zu wachsen und stark zu werden. Sie hatte ihren besten Freund verletzt und gleichzeitig ihre Chance auf die wahre Liebe zerstört. Wie gern hätte Marie das Rad zurückgedreht. Wenn das alles nicht passiert wäre, könnte sie ihn jetzt in den Arm nehmen und trösten. Sie sehnte sich danach, ihren Kopf an seiner Brust zu vergraben und sich einfach an ihn zu schmiegen. Nichts denken und sagen, nur zusammen sein. Aber diesen Wunschtraum machte Georg im nächsten Moment zunichte. Er ließ Marie stehen und marschierte Richtung Hofeingang. Im Gehen warf er ihr über die Schulter zu: „Das Pferd bleibt auf jeden Fall erst mal hier. Aber bild dir nicht ein, ich tu das für dich.“ Ohne sich zu verabschieden, verschwand Georg durch das Tor.
Marie stand noch einen Moment da, dann stapfte sie an der Mauer entlang um den Hof herum. Die Hoffnungslosigkeit lastete wie ein Stein auf ihren Schultern. Mutlos ließ sie den Kopf hängen.
Am vorderen Hofeingang hielt sie abrupt an. Fast wäre sie mit Saskia zusammengestoßen. Die Frau funkelte Marie böse an, während sie sich mühte, ihren Rollkoffer auf dem unbefestigten Weg hinter sich herzuziehen. Marie meinte zu hören, wie sie „scheiß Landleben“ vor sich hin fluchte. Sie sah Saskias bunter Gestalt nach, die sich mit dem ständig umkippenden Koffer an den holprigen Abstieg ins Tal machte. Wäre Marie nicht so traurig gewesen, hätte sie laut aufgelacht, so unfreiwillig komisch war dieses Bild.
Unschlüssig blickte Marie sich um. Georgs Worte klangen ihr noch in den Ohren und machten ihr das Herz schwer. Sie musste hier weg. Traurig schlich sie sich durch den Hofeingang und hob ihr Fahrrad vom Boden auf. Sie schob es nach draußen und konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, der ihr dabei in den Kopf schoss: Diesmal gehe ich für immer. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie sich auf den Sattel setzte und den Weg hinunterradelte, den sie seit ihrer Kindheit so oft genommen hatte, dass es ihr vorkam, als gehörte er zu ihr. So wie ihr Haus und dieser alte Hof. Und Georg. Sie schluchzte laut. Hier konnte sie keiner hören. Aber es war ihr auch egal.