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3. Die Rechtsnorm als Entscheidungsprogramm

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Angenommen nun, in Fall 1 (Rn 3) sind die prozessrechtlichen Vorschriften beachtet; angenommen ferner, dass der geschilderte Sachverhalt zwischen des Parteien unstreitig ist und daher vom Gericht als wahr akzeptiert wird. Es entsteht dann die Frage, nach welchen Maßstäben der Streit beurteilt werden soll.

Die Maßstäbe finden sich in den Normen des Zivilrechts. Die Funktion dieser Normen ist näher zu betrachten. Unschwer lässt sich feststellen, dass die Parteien des Rechtsstreits unterschiedliche Interessen verfolgen. B möchte seine persönliche Identität wahren, die durch die Verbindung von Name und Person gegeben ist: er möchte vermeiden, dass ein anderer sich sein Ansehen und seine Leistungen durch irreführenden Namensgebrauch zu Nutze macht; er möchte auch Minderungen seines Ansehens vorbeugen, die aus unbedachten Äußerungen und Handlungen des W entstehen könnten. W möchte sein – ihm nun einmal eigenes – Aussehen dazu nutzen, um auch einmal die Freuden des Prominentendaseins zu genießen und gesellschaftliche Bedeutung zu gewinnen. Die Entscheidung kann gar nicht anders fallen als auf Grund einer Wertung der auseinander strebenden Interessen. Zu diesem Zweck wird das Gericht nicht einfach nach Sympathie für die eine oder andere Partei entscheiden dürfen. Es muss vielmehr eine überparteiliche Wertungsebene aufsuchen, auf der die beiderseitigen Interessen vergleichbar und gegeneinander abwägbar werden.

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Diese überparteiliche Wertung könnte das angerufene Gericht selbst vornehmen, indem es die Interessen von B und W analysiert und abwägt und auf dieser Grundlage schließlich entscheidet. Der Blick nur auf den Einzelfall hat freilich Nachteile: Es gibt viele Gerichte und unzählige Fälle, und es entsteht leicht die Gefahr, dass die einzelnen Konflikte nach unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen entschieden werden. Es muss eine allgemeine Regel gebildet werden, die es ermöglicht, dass alle gleich gelagerten Fälle gleich entschieden werden. Eine solche Regel nennen wir Rechtsnorm. Durch sie wird eine bestimmte Bewertung der durch die Norm erfassten Fälle verbindlich. Die Zivilrechtsordnung bildet als Summe von Rechtsnormen ein System von verbindlich gemachten Interessenwertungen.

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Für die Entscheidung in Fall 1 enthält § 12 die einschlägige Rechtsnorm. Sie lautet:

„Wird das Recht zum Gebrauch eines Namens dem Berechtigten von einem anderen bestritten oder wird das Interesse des Berechtigten dadurch verletzt, dass ein anderer unbefugt den gleichen Namen gebraucht, so kann der Berechtigte von dem anderen Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann er auf Unterlassung klagen.“

Bei genauem Hinsehen beschäftigt sich die Norm mit zwei verschiedenen Fallgruppen, nämlich 1) der Namensbestreitung und 2) der unbefugten Namensführung, außerdem mit zwei verschiedenen Rechtsfolgen, nämlich a) dem Anspruch auf Beseitigung von Beeinträchtigungen (Satz 1) und b) dem Anspruch auf Unterlassung künftiger Beeinträchtigungen (Satz 2), der an eine zusätzliche Voraussetzung geknüpft ist. Wenn wir die Normteile herausfiltern, die unseren Fall betreffen – nämlich 2) und b) – so lässt sich die für unseren Fall maßgebliche Regel auf folgenden Satz reduzieren:

Wird das Recht zum Gebrauch eines Namens dadurch verletzt, dass ein anderer unbefugt den gleichen Namen gebraucht, und sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Berechtigte auf Unterlassung klagen.

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Man wird bemerken, dass in § 12 von „Wertung“ und „Interesse“ nicht die Rede ist. Vielmehr weist das Gesetz rechtliche Befugnisse zu. Diesen Zuweisungen liegt jedoch die Wertung von Interessen zu Grunde. Das Namensrecht als Rechtseinrichtung ist das Resultat einer Interessenwertung, bei der die Interessen des Trägers eines Namens gegenüber den Interessen anderer abgegrenzt werden. Allgemein gesagt: Die Rechtsnormen machen Interessenwertungen verbindlich, indem sie anordnen, dass unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Rechtfolgen eintreten.

Unter „Interesse“ verstehen wir in diesem Zusammenhang die subjektive Beziehung einer Person zu einem von ihr begehrten Gegenstand oder Zustand („ich habe ein Interesse daran, eine Sache zu benutzen, in Ruhe zu leben“, etc). Grundlegend für den Rückbezug des Zivilrechts auf Interessen: Jhering, Geist des römischen Rechts, III §§ 60, 61; ferner die Vertreter der sog. Interessenjurisprudenz wie Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1. Der Terminus „Interesse“ kommt auch als Gesetzesbegriff vor und hat dann unterschiedliche Bedeutungen. Im BGB steht „Interesse“ vorwiegend als Bezeichnung des Umfangs von Schadenersatz („Vertrauensinteresse“ – „Erfüllungsinteresse“, Rn 595).

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Die Rechtsnormen beziehen sich infolgedessen auf gedachte (vorausgesehene) Interessenkonflikte und versuchen für diese Konflikte eine verbindliche Entscheidung zu treffen. Die in der Rechtsnorm vorgenommene Wertung hat freilich nicht nur die Interessen der streitbeteiligten Personen (Individualinteressen) im Blickfeld. Die Personen, die in Streit miteinander geraten, leben nicht für sich allein, sondern in der eng verflochtenen, eine große Menschenzahl umfassenden Gesellschaft. Die Gesellschaft trägt kulturell, ökonomisch und politisch bestimmte Strukturen. Die Zivilrechtsnormen müssen so gestaltet sein, dass sie nicht nur einen bestmöglichen Ausgleich der Individualinteressen erstreben; vielmehr muss ihre Summe – zugleich mit der Summe der übrigen Rechtsnormen – ein funktionierendes Ganzes ergeben. Bei der Ausgestaltung der Zivilrechtsnormen sind daher auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die öffentlichen Interessen zu berücksichtigen.

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