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5. Zur Gesetzestechnik

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Für die Lösung von Rechtskonflikten ist bei kodifizierten Zivilrechten das Gesetz der Ausgangspunkt; aus ihm sind zunächst die Entscheidungskriterien zu erarbeiten. Der Streit, der zwischen den Personen des Zivilrechts entsteht, ist, wie gezeigt, ein Streit um Rechtswirkungen (Rechtsfolgen), hauptsächlich um Berechtigungen (subjektive Rechte), Pflichten und Risikozuweisungen, die sich aus bestimmten Ereignissen (Sachverhalten) ergeben sollen.

A behauptet, er könne auf Grund gewisser Geschehnisse von B etwas verlangen oder ihm gegenüber etwas tun (behauptete Rechtsfolge: eine Berechtigung)
A behauptet, B sei ihm gegenüber zu etwas verpflichtet (behauptete Rechtsfolge: eine Verpflichtung)
A behauptet, B habe ihm gegenüber die wirtschaftlichen Nachteile eines bestimmten Ereignisses zu tragen. (behauptete Rechtsfolge: die Zuweisung eines Risikos)

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Die Prüfung eines Begehrens beginnt damit, dass man Vorschriften sucht, aus denen sich – möglicherweise in Verbindung mit einem von den Beteiligten abgeschlossenen Rechtsgeschäft – die behauptete Rechtsfolge ergibt. Es muss sich also um Vorschriften handeln, die an bestimmte Voraussetzungen (Tatbestand) eine Rechtsfolge (zB einen Anspruch) knüpfen. Das sind die Rechtsnormen im eigentlichen Sinne; von ihnen hat jede Lösung eines Rechtsfalles auszugehen. Alle sonstigen Vorschriften eines Gesetzes lassen sich als bloße Ergänzungen zu diesen Normen begreifen.

Hat man derartige Rechtsnormen, welche die behauptete Rechtsfolge anordnen, aufgefunden, so besteht der zweite Schritt darin, sie auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden, dh zu prüfen, ob die im Normtatbestand festgelegten Voraussetzungen im konkreten Sachverhalt erfüllt sind (Subsumtion).

Es sind also folgende Schritte zu tun:

1. Man sucht die Normen auf, aus denen sich die streitige Rechtsfolge ergibt;
2. man überprüft, ob der jeweilige Tatbestand (Voraussetzungsteil dieser Normen) im Sachverhalt erfüllt ist.

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Nicht alle Vorschriften sind freilich derart strukturiert, dass sie eine Rechtsfolge in dem genannten Sinn anordnen. § 90 BGB beschränkt sich zB darauf, den Begriff der Sache zu definieren (Legaldefinition). § 104 bestimmt, welche Personen geschäftsunfähig sind, ohne erkennen zu lassen, welche Rechtsfolgen sich aus der Geschäftsunfähigkeit ergeben. Derartige Vorschriften, die keine Rechtsfolge anordnen, haben ergänzende Funktion zu den eigentlichen Rechtsnormen. Man kann versuchen, alle Elemente einer Rechtsregel vollständig in einen Paragraphen zu packen. Man wird dabei aber feststellen, dass der Paragraph dann häufig gewaltige Ausmaße annehmen würde. Das lässt sich verhindern, wenn man den normativen Stoff auf mehrere Vorschriften verteilt.

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Beispiele sollen das verdeutlichen. Die §§ 985, 986 behandeln den Anspruch des Eigentümers einer Sache gegen den Besitzer, dh gegen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt, auf Herausgabe. Grob gesagt soll der Eigentümer vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen können, außer wenn der Besitzer im Verhältnis zum Eigentümer ein Recht zum Besitz hat. Diesen einfachen Gedankengang hätte man ohne Schwierigkeit in einem Paragraphen regeln können. Warum hat man es nicht getan? Der etwas verwickelte Text des § 986 I zeigt, dass die Sache schwierig wird, wenn dem Eigentümer mehrere Besitzer gegenüberstehen. Folglich hat man den Normtatbestand in mehrere „Portionen“ zerlegt und auf zwei Paragraphen aufgeteilt. Dennoch handelt es sich um ein und dieselbe Rechtsnorm, um ein und dieselbe Rechtsfolge. § 986 I ist folglich in § 985 als Teil des Normtatbestandes hineinzulesen.

Aber auch wenn man § 986 zu § 985 hinzunimmt, ist der Normtatbestand noch nicht in sich vollständig. § 985 formuliert als Tatbestandselement, dass jemand „Eigentümer“ sein muss, um den Herausgabeanspruch zu haben. Bei der Gesetzesanwendung ist also zu prüfen, ob die Person, welche Herausgabe verlangt, Eigentümer ist. Darüber, wie man Eigentümer wird und wie man das Eigentum wieder verliert, schweigt sich § 985 aus. Es ist dies in ganz anderen Vorschriften geregelt (für bewegliche Sachen §§ 929 ff). Auch diese Regeln hätte das Gesetz in § 985 aufnehmen können. Dies wäre aber sehr unzweckmäßig gewesen. Denn auf diese Weise hätte § 985 einen gewaltigen Umfang angenommen und wäre unlesbar geworden. Ferner ist die Frage, wie man Eigentum erwirbt und verliert, nicht nur für den Anspruch aus § 985 von Bedeutung, sondern für viele andere Rechtsnormen. Das BGB hat daher den Weg gewählt, die Vorschriften über Eigentumserwerb und -verlust isoliert niederzulegen und gleichsam „vor die Klammer“ zu ziehen. Auch diese Vorschriften sind in den Normtatbestand des § 985 hineinzulesen. Das Wort „Eigentümer“ verweist also auf sämtliche Vorschriften des BGB, aus denen sich der Eigentumserwerb und -verlust ergibt: „Eigentümer“ ist derjenige, der nach den Regeln des BGB Eigentum erworben und es nicht wieder verloren hat. Die Bezeichnung „Eigentümer“ ist gleichsam nur eine Abkürzung. Das gleiche gilt für das Tatbestandsmerkmal „Besitzer“ (zu Besitzerwerb und -verlust siehe §§ 854 ff). Es gilt auch für das Normelement „zum Besitze berechtigt“ in § 986 I, weil sich erst aus anderen im BGB verteilten Regelungen ergibt, aus welchen Grund ein Nichteigentümer zum Besitz einer Sache berechtigt sein kann (zB als Mieter etc). Der Normtatbestand des § 985 wird also durch eine Reihe weiterer Vorschriften aufgefüllt.

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Ganz ähnlich verhält es sich mit der Rechtsnorm des § 433. Ihr Tatbestand setzt voraus, dass ein Kaufvertrag vorliegt. § 433 schweigt sich aber darüber aus, wie ein solcher Vertrag zustande kommt. Der Grund ist wiederum gesetzestechnischer Art. Der Kaufvertrag kommt zustande wie eine Vielzahl anderer Verträge. Also wird man nicht bei jedem einzelnen Vertragstyp das Zustandekommen des Vertrags regeln, sondern wiederum die einschlägigen Vorschriften vor die Klammer ziehen. Daher regelt das BGB in §§ 145–157 allgemein das Zustandekommen von Verträgen.

Aber nicht genug damit: Nicht alle Probleme, die beim Abschluss von Verträgen auftreten können, sind in den §§ 145–157 geregelt. Das BGB kennt vielmehr einen weiteren Oberbegriff, der Verträge und andere Vorgänge zusammenfasst, in denen eine Rechtsfolge durch darauf gerichtete Erklärungen ausgelöst wird: das Rechtsgeschäft. So ist zB die Kündigung eines Mietverhältnisses kein Vertrag; sie ist aber gleich dem Vertrag ein Rechtsgeschäft, weil kraft einer hierauf gerichteten Erklärung eine Rechtsfolge (hier: Auflösung des Mietverhältnisses) bewirkt wird. Da bei Rechtsgeschäften aller Art ähnliche Probleme auftreten, enthält das BGB allgemeine Regeln über das Rechtsgeschäft, die auch für Verträge und daher auch für den Kaufvertrag gelten.

Der wesentliche, aber nicht einzige Bestandteil der Rechtsgeschäfte ist die Erklärung einer oder mehrerer Personen. Daher hat das BGB in §§ 116 ff spezielle Regeln für Willenserklärungen geschaffen, die für jede rechtsgeschäftliche Erklärung, also auch für Vertragsangebot und Vertragsannahme, also auch für Kaufangebot und Kaufannahme gelten.

Schema:
Kaufvertrag: §§ 433 ff
= Vertrag: §§ 145 ff
= Rechtsgeschäft: §§ 104 ff, 158 ff
– insoweit dieses aus Willenserklärungen besteht: §§ 116 ff

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Das Gesetz bedient sich mithin einer ausgefeilten Verweisungstechnik. In einer gesetzlichen Vorschrift verwendete Begriffe bilden oft eine Art Signatur für einen Zusammenhang von Vorschriften, die an anderer Stelle des Gesetzes geregelt sind und mit Hilfe der Verweisung in beliebige Rechtsnormen hereingeholt werden können. Vor allem im ersten Buch des BGB (Allgemeiner Teil) sind Normelemente, die auf den verschiedensten Feldern des Zivilrechts vorkommen, vorab geregelt und „vor die Klammer gezogen“ und müssen dann in die Anwendung der spezielleren Normen mit hinein genommen werden.

Beispiel:

Verwendet eine Anspruchsnorm wie § 985 den Terminus „Besitzer“. so wäre es falsch, einen Begriff des Besitzers aus dem Wortsinn in der Alltagssprache zu entwickeln. Wer „Besitzer“ ist, kann nur aus den gesetzlichen Regeln des Besitzerwerbs und -verlusts hergeleitet werden (§§ 854 ff): Besitzer ist derjenige, der den Besitz an der Sache nach diesen Regeln erworben und nicht wieder verloren hat. In Zweifelsfragen sind darüber hinaus alle Vorschriften in die Beurteilung einzubeziehen, in denen „Besitz“ oder „Besitzer“ eine Rolle spielen. Denn an den Besitz werden Rechtsfolgen geknüpft (zB in den §§ 861, 862, 985, 1007), die auf die Handhabung des Besitzbegriffs zurückwirken.

Häufig kommt es vor, dass ein und derselbe gesetzliche Terminus in diversen Vorschriften eine unterschiedliche Bedeutungen erhält. Die Juristen drücken dies durch die Redewendung „im Sinne des“ aus: Eigentum „im Sinne des BGB“ ist etwas anderes als Eigentum „im Sinne des Grundgesetzes“, Freiheit „im Sinne des § 823 I BGB“ etwas anderes als Freiheit „im Sinne des § 960 BGB“, und so fort.

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