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4. Die Entwicklung des Zivilrechts im Zeitalter des Sozialstaats

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Die Postulate des Liberalismus wurden im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend durch die Gesetzgebung verwirklicht und prägten auch das BGB. Indes hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst gezeigt, dass das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte keineswegs automatisch zum sozialen Optimum führte und dass mit der Verwirklichung von Handlungs- und Eigentumsfreiheit allein die gesellschaftlichen Probleme nicht gelöst werden konnten. Die durch wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und beliebige Einsetzbarkeit des Eigentums entfesselten Kräfte erwiesen sich als Antriebe nicht für Harmonisierung, sondern für Polarisierung der Gesellschaft. Es bildete sich nicht, wie erträumt, eine Nation von Eigentümern, vielmehr ein Gegensatz zwischen den wenigen sozial Gesicherten und der Masse der im Elend lebenden Kleinbauern, Handwerker und Arbeiter. Schon die Gesetzgebungspolitik des zweiten deutschen Kaiserreiches (1871–1918) ist daher nicht mehr allein von liberalen Gedanken geprägt.

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Seit Ende des 19. Jh. erscholl allenthalben der Ruf nach einer Intervention des Staates in die gesellschaftlichen Abläufe. 1926 konnte der Nationalökonom J.M. Keynes das Ende des Laissez-faire verkünden. Das Ungenügen des liberalen Gesellschaftsmodells zeigte sich unter anderem in folgenden Zusammenhängen.

(1) Die Vertragsfreiheit droht sich auf wirtschaftlichem Gebiete selbst auszuhöhlen, wenn die Unternehmen durch Preisabsprachen und andere marktbeeinflussende Abreden (Kartelle) die Gesetzmäßigkeiten des wettbewerblichen Marktgeschehens ausschalten. Der gleiche Effekt kann dadurch erzielt werden, dass die Unternehmen auf der Anbieter- oder Nachfragerseite sich zu Konzernen oder sonstigen Unternehmensverbindungen zusammenschließen oder zu einer rechtlichen und wirtschaftlichen Einheit verschmelzen (Fusion). Auf diese Weise entstehen Formen der Marktbeherrschung durch ein Unternehmen oder einen Unternehmensverbund bis hin zum Monopol. Die heutige Situation ist durch zunehmende Konzentrationsbewegungen in der Wirtschaft gekennzeichnet. Dass die Kartelle und die zur Marktbeherrschung führenden Zusammenschlüsse die Vertragsfreiheit derjenigen Teilnehmer am Markt, die nicht entsprechend organisiert sind, beseitigen, wurde erst allmählich erkannt (grundsätzliche Erlaubtheit der Kartelle: RGZ 38, 155, 158). Der Gesetzgebung in erster Linie kam die Aufgabe zu, durch Beschränkungen der Vertragsfreiheit den Wettbewerb zu sichern (Kartellgesetzgebung, Anti-Trust-Gesetzgebung). Damit war die Illusion dahin, der Wettbewerb werde sich von Natur aus einstellen und einspielen, wenn nur der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehe. Die freie Konkurrenz wird heute vielmehr als ein Geschehen begriffen, das durch den Staat einen rechtlichen Rahmen und seine Absicherung erhält. Heute ist die Rechtslage hauptsächlich durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) bestimmt (Rn 28).

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(2) Wirtschaftskrisen, wie vor allem die Inflation der Jahre 1919 bis 1924 und der Zusammenbruch der Volkswirtschaften im Jahre 1929 oder auch die Bankenkrise von 2008 zeigen deutlich, dass es mit der Sicherung des Wettbewerbs nicht getan ist. Die seit 1920 vordringenden Lehren der Nationalökonomie verlangten vom Staat eine Globalsteuerung der Volkswirtschaften. Die besonderen Erfordernisse einer staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Kriegs- und Nachkriegszeiten verstärkten die Gewöhnung an staatliche Eingriffe und Einflüsse. Infolgedessen verschaffte sich der Staat im Laufe des 20. Jahrhunderts ein subtiles Instrumentarium für Einflussnahme auf die Wirtschaft, angefangen von Subventionen bis hin zur Außerkraftsetzung des Marktgeschehens durch Festlegung von Preisen oder Preisgrenzen. Die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bzw der Europäischen Union (EU) hat die Elemente der Wirtschaftsplanung weiter verstärkt.

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(3) Dass das sich völlig selbst überlassene freie Spiel der Kräfte keine annehmbaren Ergebnisse garantiert, wurde besonders schmerzlich im Bereich der Arbeitsverhältnisse deutlich. Der vom Liberalismus postulierte, von den Juristen verkündete „freie Arbeitsvertrag“ bildete in einer Zeit krassen Überangebots an Arbeitskräften das Instrument zu menschenunwürdiger Gestaltung der Löhne und Arbeitsverhältnisse. Die Vorstellung, dass der Unternehmer auf der einen, der einzelne Arbeiter auf der anderen Seite sich als freie Personen auf einer mittleren Linie ihrer Interessen vertraglich einigen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Die Gesetzgebung greift daher in den Angebot-Nachfrage-Mechanismus zu Gunsten der Arbeitnehmer ein, zB durch Vorschriften, die einen Mindestschutz gewähren (Kündigungsschutz, Mutterschutz etc).

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(4) Im Arbeitsrecht bahnte sich ferner eine weitere, für das heutige Verständnis grundlegende Entwicklung an. Die Erkenntnis, dass der einzelne Arbeiter als Vertragspartner des ökonomisch mächtigen Unternehmers seine Interessen nicht zu verfolgen vermag, führte zur Bildung und schließlich zur rechtlichen Anerkennung der Arbeitnehmerorganisationen als Vertragspartner (Tarifvertrag) der Unternehmer oder Unternehmensverbände. Durch Verlagerung der Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen von einer individuellen auf eine kollektive Ebene wurde die liberale Vorstellung vom „freien Vertrag“ auf eine andere Ebene verschoben; Gewerkschaften und Unternehmerverbände bilden die „freien und gleichen“ Instanzen, die durch Vereinbarungen einen Interessenausgleich zu erzielen vermögen.

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Auch für andere Gebiete ist ein Zuwachs an gruppenbezogenem Denken auch für die moderne Entwicklung typisch. Die Bildung großer wirtschaftlicher Mächte einerseits und die Formierung der Gesellschaft in Interessengruppen wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Parteien, Berufsvereinigungen, Mieterbünden, Haus- und Grundbesitzervereinen andererseits ordnen sich nicht bruchlos in das klassische liberale Gesellschaftsmodell ein. Die Theorie des 19. Jahrhunderts war auf „den Einzelnen“ ausgerichtet und begriff die Gesellschaft als Gewebe von Individualbeziehungen. Die juristische Doktrin hatte demzufolge mit der Deutung von Vereinigungen große Schwierigkeiten (Rn 134). In dem Maße, in dem sich die Einzelnen zur Durchsetzung ihrer Interessen zusammenschlossen, wandelte sich die Beziehung „Staat – Einzelner“ zu einem Spannungsdreieck „Staat – Gruppe – Einzelner“. Zwischen Staat und Individuum schieben sich Zusammenschlüsse, die für den Einzelnen und seine Freiheit zwiespältige Wirkungen entfalten: Sie sichern und fördern seine Freiheit, indem sie seine Interessen kollektiv vertreten; sie bedrohen gleichzeitig seine Freiheit, indem sie ihn einem Gruppenreglement unterwerfen und damit neue Abhängigkeiten schaffen.

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(5) Von vornherein konnte das Eigentum seine ihm zugedachte Funktion als Garant der Freiheit für große Teile der Bevölkerung, nämlich die Fabrik- und Landarbeiter, nicht in erhofftem Maße erfüllen. Die wirtschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf auch mittlere Vermögen durch Kriegseinwirkungen und Inflationen stark getroffen wurden, verschärfte die Entwertung des Eigentums als Mittel sozialer Sicherung. Für die Mehrzahl der Menschen konnte das Eigentum das Problem der Existenzsicherung folglich nicht lösen. Als die soziale Frage als Frage nach den Lebensbedingungen der Arbeiter in das allgemeine Bewusstsein trat und in Sozialpolitik einmündete, erwiesen sich nicht so sehr die Programme der Eigentumsstreuung als das neu geschaffene System der Sozialleistungen (Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung) und die vermehrten Ausbildungschancen für jedermann als die entscheidenden Instrumente sozialer Sicherheit.

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(6) Sowohl die Notwendigkeit einer Absicherung des Wirtschaftsablaufs als auch das erwachte soziale Bewusstsein stellten an den Staat die Anforderung, seine Distanz zur „freien Gesellschaft“ aufzugeben und durch Gesetz und Verwaltungshandeln die gesellschaftlichen Vorgänge in gewissem Umfang zu steuern, zumindest aber in engeren Grenzen zu halten. Die Alternative zu revolutionären Programmen bestand in einem Sozialmodell, das die Elemente der Individualfreiheit und des Privateigentums zwar aufrechterhielt, aber den Zielen der Wohlfahrt für alle und der sozialen Gerechtigkeit unterordnete. Das Programm dieser Verbindung von Individualfreiheit mit gesellschaftlicher Solidarität ist mit dem Begriff des Sozialstaats gekennzeichnet. Bei aller Verschiedenheit der damit verbundenen Postulate erwies sich der Sozialstaatsbegriff als geeignet, den Rahmen für eine gesellschaftspolitische Verständigung von sozialistischen, konservativen und liberalen Kräften abzugeben. Das Sozialstaatspostulat ist daher in die Verfassung eingegangen (Art. 20 I GG „sozialer Bundesstaat“; Art. 28 I 1 GG „sozialer Rechtsstaat“).

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Die Verschmelzung von Sozialstaatsidee mit Elementen des Liberalismus bedeutet im Prinzip: Freiheit der individuellen Betätigung, Wettbewerbswirtschaft und Freiheit des Eigentums bleiben dem Grundsatz nach aufrechterhalten; diese Freiheiten treten aber in ein permanentes Spannungsverhältnis zu den sozialpolitischen Zielen des Staates und erfahren von daher Steuerungen und Begrenzungen. Demzufolge erhalten die Freiheitsrechte, wo ihr Gebrauch mit den sozialstaatlichen Zielen kollidieren kann, Schranken, die in ihr Wesen hineindefiniert werden. Die Freiheit des Vertrags und Eigentums wird nicht zunächst einmal isoliert gedacht und sodann begrenzt, sondern versteht sich von vorneherein nach Maßgabe sozialstaatlicher Ordnung. Besonders deutlich wird dies beim Eigentum. Der Staat bestimmt durch seine Gesetze, welche Inhalte und welche Befugnisse mit dem Eigentum verbunden sind und wo die Grenzen liegen. „Es ist also nicht wahr, dass das Eigentum seiner ‚Idee‘ nach die absolute Verfügungsgewalt in sich schlösse. Ein Eigentum in solcher Gestalt kann die Gesellschaft nicht dulden und hat sie nie geduldet – die ‚Idee des Eigentums‘ kann nichts mit sich bringen, was mit der ‚Idee der Gesellschaft‘ in Widerspruch steht“ (Jhering, Der Zweck im Recht, 2. Aufl. 1884, 523). Eine solche Auffassung öffnet das Privateigentum den gesellschaftlichen Anforderungen; seitdem sind Eigentumsfreiheit und soziale Bindung dem Eigentumsbegriff inhärent und bedingen seine innere Spannung.

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(7) Die Entwicklung vom liberalen zum freiheitlich-sozialen Staat und die Erkenntnis, dass in Privatrechtsverhältnissen soziale Macht ausgeübt werden kann, blieben nicht ohne Einfluss auf den Inhalt des Zivilrechts. Die Verwirklichung des Sozialstaats geschieht freilich primär durch öffentlich-rechtliche Regelungen. Daher dringt das öffentliche Recht, für den klassischen Liberalismus lediglich ein Zaun an der Peripherie des sozialen Geschehens, mächtig auf Kosten des Zivilrechts vor. Im Sozialstaat erhält das Zivilrecht einen gegenüber früher geminderten Stellenwert. Es steht nicht isoliert, sondern normiert das soziale Geschehen im Zusammenspiel mit weit reichenden öffentlich-rechtlichen Normen. Gerade deshalb ist es die Aufgabe des Zivilrechts, innerhalb einer verzahnten Gesamtrechtsordnung seine Ziele zu verfolgen, nämlich die Freiheit des Einzelnen zu sichern und die geeigneten Regeln für die Ausübung der Vertrags- und Vereinigungsfreiheit, für Schutz und Ausübung erworbener Rechte, für die Freiheit des Eigentums und für die Unantastbarkeit des persönlichen Entfaltungsbereichs zu bilden.

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(8) Zu den Einwirkungen des sozialen Verständnisses auf das Zivilrecht gehört auch, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Gedanke des Schutzes des Schwächeren als ein Gestaltungselement zunehmende Bedeutung erlangte. Die Vorstellung von der Gleichheit der Individuen beim Abschluss von Verträgen widerspricht einer Wirklichkeit, in der mächtige Unternehmen und Verbände dem Einzelnen die Bedingungen diktieren können, unter denen ihm der Erwerb der für das Leben benötigten Güter möglich ist. Häufig sind Geschäftspraktiken darauf angelegt, den geschäftlich unerfahrenen oder nicht hinreichend informierten Partner zu seinem Nachteil zu überrumpeln oder sonst seine Schwächen auszunutzen. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben Instrumente entwickelt, die einer solchen Ausnutzung von Überlegenheit entgegenwirken sollen. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Verbraucherschutzgesetzgebung erlangt (Rn 814). Der Gedanke des Schutzes des Schwächeren hat unsere Begriffe von Privatautonomie und Vertragsfreiheit modifiziert.

Literatur zur Theorie des Zivilrechts:

O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889; K. Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, 1929 (Wiederabdruck 1965); W. Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, 1; A. Egger, Vom individualistischen zum sozialen Zivilrecht, in: Ausgewählte Schriften und Abhandlungen, 1957, I, 209; F. v. Hippel, Zum Aufbau und Sinnwandel unseres Privatrechts, 1957; G. Radbruch, Vom individualistischen zum sozialen Recht, in: Der Mensch im Recht, 1957, 35; F. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953; L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, 1971; J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 2002; W.R. Bub/R. Knieper/R. Metz, Zivilrecht im Sozialstaat, 2005; M. Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014; St. Grundmann/Hans-W. Micklitz/M. Renner, Privatrechtstheorie, 2015.

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