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1. Gesetzesanwendung und Normenbildung

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Wie gezeigt (Rn 19) ist in unserer vom Gesetzesrecht geprägten Rechtsordnung das Gesetz der Ausgangspunkt für die zivilrechtlichen Entscheidungen. Das Gesetz enthält aber die Wertungsmaßstäbe nicht vollständig und ist demzufolge als Rechtsnorm noch unfertig. Die Rechtsprechung und die ihr zur Seite stehende Wissenschaft wirken daher an der Rechtsnormenbildung mit. Durch Rechtsanwendung und Interpretation geben sie den gesetzlichen Bestimmungen eine deutlichere Gestalt. Bei der Anwendung von Gesetzen ergibt sich die Rechtsnorm als Obersatz erst aus einem Zusammenwirken von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft.

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Die Auffassungen vom Verhältnis von Gesetzgebung und Gesetzesauslegung waren im Verlauf der Geschichte einem erheblichen Wandel unterworfen. Aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus stammt die Vorstellung, den Gerichten stehe – zumindest in aller Regel – überhaupt keine Teilnahme an der Rechtsnormenbildung zu. Danach sind die Konfliktentscheidungen im Gesetz schon vollständig enthalten und brauchen folglich dem Gesetz nur entnommen zu werden (Gesetzespositivismus). Diese Auffassung steht im Zusammenhang mit der Schaffung systematischer Gesetzbücher seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rn 24), mit denen man glaubte, ein für alle Bürger verständliches Recht schaffen zu können. Dabei fürchteten die Verfasser der Gesetzeswerke, die Rechtsgelehrten und Gerichte könnten ihre Bemühungen um vernünftige und klare Regeln durch beliebige Auslegung zunichtemachen. Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) war daher sowohl der Autorität der Juraprofessoren als auch der Rechtsschöpfung durch Richter abgeneigt: „Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Aussprüche der Richter, soll, bei künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden“ (Einleitung § 6); der Richter soll sich an das Gesetz halten und Zweifel über den Sinn des Gesetzes von einer Gesetzeskommission beurteilen lassen (§§ 47, 48). Eine derartige Deutung des Verhältnisses von Gesetz und Richter war auch auf demokratische Systeme übertragbar: Die auf demokratische Weise zustande gekommenen Gesetze lassen sich als Ausdruck des Volkswillens begreifen, an dem ein beamtetes Richtertum nichts zu deuteln hat. Die Idealvorstellung von unzweideutigen Gesetzen, die für alle künftig vorkommenden Fälle eine klare Regelung enthalten, erwies sich indes als Illusion. Die Wirklichkeit ist immer vielfältiger, als der planende Geist sich ausdenken kann; sie ist zudem steten und raschen Veränderungen unterworfen, mit denen die Gesetzgebung nicht immer Schritt hält. Deshalb ließ sich der Gesetzespositivismus nicht halten. Doch war es dann nötig, Regeln zu entwickeln, die den Umgang der Gesetzesinterpreten mit dem Gesetz an methodische Regeln binden, um eine willkürliche Handhabung zu verhindern.

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