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5. Zivilrecht und Grundgesetz

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Nach dem Gesagten kommt der Staatsverfassung Bedeutung auch für das Zivilrecht zu. Dies ergibt sich bereits aus der Erkenntnis, dass die Zivilrechtsnormen nicht Schöpfungen „privaten“ Willens, sondern der für die Normbildung zuständigen Staatsorgane sind. Die Vorstellung, die Zivilrechtsnormen befänden sich außerhalb des Aussagebereichs der Verfassung, kann durch einfache Beispiele widerlegt werden. Ein Rechtssatz des Zivilrechts, der die Begründung eines Sklavenverhältnisses für gültig erklären würde, verstieße sowohl gegen die Menschenwürde (Art. 1 I GG) als auch gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG), auf deren Kern der Einzelne nicht verzichten kann. Ein Zivilrecht, das der freien Entfaltung der Persönlichkeit die rechtliche Absicherung verweigern würde, verletzte gleichfalls die Freiheitsgarantie aus Art. 2 I GG. Deshalb ergibt sich aus Art. 2 I GG nicht nur das Prinzip der Vertragsfreiheit als solches, sondern auch die Verpflichtung des Staates, den im Einklang mit der Rechtsordnung stehenden Verträgen zur Durchsetzung zu verhelfen. Das Grundrecht des Art. 5 I 1 GG würde durch eine Haftungsvorschrift verletzt, welche die Meinungsfreiheit generell bei den Vermögensinteressen anderer enden ließe. Die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I GG) könnte durch ein Zivilrecht verletzt werden, das die Vereinsbildung durch unangemessene Haftungsbestimmungen erschweren würde. Zivilrechtsnormen könnten verfassungsrechtliche Einrichtungsgarantien wie die des Eigentums und Erbrechts (Art. 14 I GG) verletzen, indem sie den genannten Instituten den zureichenden Schutz verweigern.

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Die Anforderungen, die das GG an das Zivilrecht stellt, sind aus dem Sinngehalt der Freiheitsrechte, der Einrichtungsgarantien und der Sozialstaatsklausel abzuleiten. Es geht darum, die Konfliktfelder zu ermitteln, über die das Grundgesetz mit seinen Rechtssätzen eine Aussage machen will. Die Freiheitsrechte umschreiben Bereiche existenzieller Selbstbestimmungsinteressen, die nicht gegen ihren Sinngehalt beschränkt werden sollen. Einrichtungsgarantien wie Art. 6 I, II und Art. 14 I GG verlangen ein Zivilrecht, das den mit ihrer Hilfe zugewiesenen Entfaltungs- und Schutzinteressen (zB dem Interesse der Eltern an der Erziehung ihres Kindes, Art. 6 II GG) zur Durchsetzung verhilft.

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Die grundsätzliche Bedeutung der Verfassung für das Zivilrecht bedeutet freilich nicht, dass die Zivilrechtsnormen im Detail aus der Verfassung abgeleitet werden könnten. Vielmehr umgrenzen die Aussagen der Verfassung den Spielraum für Gesetzgebung und Rechtsprechung. Innerhalb eines weiten Raumes stellen die Wertungsalternativen und rechtstechnischen Mittel, die sich für eine Konfliktlösung anbieten, weder die Freiheitsrechte noch die Institutsgarantien noch das Sozialstaatsprinzip in Frage. Der freiheitliche Sozialstaat bildet kein geschlossenes System, aus dem sich eine bestimmte Zivilrechtsordnung als einzig richtige ableiten ließe.

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Die Frage nach der Bedeutung des GG für das Zivilrecht wird vielfach unter dem Stichwort Drittwirkung der Grundrechte erörtert. Zur Zeit des klassischen Liberalismus, so wurde gesagt, hätten sich die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtet. Das GG habe demgegenüber die Funktion der Grundrechte erweitert und sie mit Schutzpositionen auch gegenüber Subjekten des Privatrechts, vor allem gegenüber zivilrechtlich organisierten sozialen Mächten (Unternehmen, Verbänden etc) ausgestattet.

Die Theorie der Drittwirkung wird in doppelter Gestalt vertreten. Die Theorie der unmittelbaren Drittwirkung (der Sache nach entwickelt von H.C. Nipperdey) behauptet, dass die Grundrechte „das Privatrecht“ oder „den Privatrechtsverkehr“ unmittelbar binden; Rechtsgeschäfte, die gegen die Grundrechte verstoßen, sind nach dieser Auffassung gemäß § 134 nichtig. Die Theorie von der mittelbaren Drittwirkung anerkennt ebenfalls die normative Bedeutung der Verfassung für „Privatrecht“ und „Privatrechtsverkehr“. Diese Bedeutung soll aber nicht darin liegen, dass die Privatpersonen in ihrem Verhältnis zueinander die Grundrechte unmittelbar zu beachten hätten. Vielmehr bringen die Grundrechte Wertentscheidungen zum Ausdruck, die bei der Handhabung und Interpretation der Zivilrechtsnormen zu berücksichtigen sind.

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Das Bundesverfassungsgericht hat sich der Sache nach der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung angenähert. Es sieht in den Grundrechten eine „objektive Wertordnung“ oder ein „Wertsystem“ errichtet, von dem Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung „Richtlinien und Impulse“ empfangen. So beeinflusst das GG „selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muss in seinem Geiste ausgelegt werden.“ (BVerfGE 7, 198, 205). Nach Auffassung des Gerichts entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte im Privatrecht insbesondere durch diejenigen Generalklauseln, die auf Maßstäbe außerhalb des Zivilrechts oder des Rechts überhaupt verweisen (zB „gute Sitten“ in § 826 BGB, BVerfGE 7, 198, 206). Das BVerfG spricht von einer Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht (zB BVerfG NJW 2002, 741, 742; NJW 2002, 3767, 3768; BVerfGE 112, 332 Rn 85). Diese Ausstrahlung bezieht sich nicht auf das privatrechtliche Handeln für sich gesehen, sondern auf die Anwendung des Rechts durch die Gerichte. Entscheidungen der Zivilgerichte können im Einzelfall gegen die Verfassung verstoßen, wenn sie Auslegungsfehler erkennen lassen, „die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen“ (BVerfGE 89, 214, 230).

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Die Lehre von der Drittwirkung oder Ausstrahlungswirkung der Grundrechte darf nicht zu der Fehlvorstellung verleiten, das rechtsgeschäftliche Handeln einer Privatperson sei generell an dieselben Regeln gebunden wie das Handeln von Hoheitsträgern – es wäre dies das Ende der Freiheit. Während zB ein Hoheitsträger die Bürger unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln hat, steht eine Privatperson in ihrem rechtsgeschäftlichen Verhalten keineswegs unter diesem Gebot. Es kann jemand mit dem einen Interessenten einen Vertrag schließen, während er das Angebot eines anderen ausschlägt, ohne dies sachlich begründen zu müssen. Ein Gläubiger kann dem einen Schuldner die Schuld erlassen, während er gegen den anderen vorgeht, ohne dass ein „sachlicher Grund“ für die Ungleichbehandlung vorliegen müsste. Doch hat diese Freiheit der Privatperson Grenzen, die sogleich sichtbar werden, wenn es um besonders anstößige Ungleichbehandlungen, insbesondere gegen Absätze II und III des Art. 3 GG geht (Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts, der Rasse, Abstammung, Religion usw).

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Darüber hinaus hat der deutsche Gesetzgeber im Jahre 2006 durch das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ vom 14.8.2006 (BGBl. I 1897) vier Richtlinien der EU (2000/43/EG, 2000/78/EG, 2002/73/EG, 2004/113/EG) in nationales Recht umgesetzt. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geht über die europäischen Vorgaben hinaus und greift tief in die Vertragsfreiheit ein. Das Gesetz verbietet Benachteiligungen wegen Rasse und ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Identität. Betroffen sind weite Bereiche, darunter auch der „Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“, soweit es um die Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse geht. Dem Verbot der Benachteiligung wegen der genannten Merkmale stehen erlaubte Bevorzugung („positive Maßnahmen“, § 5 AGG) und Ausnahmeregelungen (zB § 20 AGG) gegenüber, die letztlich ihrerseits Diskriminierungen gestatten. Das Gesetz bietet für Verstöße eigenständige zivilrechtliche Sanktionen (§ 21 AGG): 1) Der Benachteiligte kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. 2) Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann er auf Unterlassung klagen. 3) Bei einer Verletzung des Benachteiligungsverbots ist der Benachteiligende verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen, außer wenn er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat; auch für immaterielle Schäden kann eine angemessene Entschädigung in Geld verlangt werden.

Literatur zum Thema Grundrechte und Privatrecht:

W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960; L. Raiser, Grundgesetz und Privatrechtsordnung, Verhandlungen des 46. DJT, 1966, II B; C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184, 201; J. Schwabe, Grundrechte und Privatrecht, AcP 1985, 1; Chr. Hillgruber, Grundrechtsschutz im Privatrecht, AcP 191, 69; D. Medicus, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, AcP 192, 35; S. Oeter, Drittwirkung der Grundrechte und die Autonomie des Privatrechts, AöR 119 (1994), 529; C. Classen, Die Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), 65; C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999; M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; Th. Simon, „Grundrechtstotalitarismus“ oder „Selbstbehauptung des Zivilrechts“?, AcP 2004, 264; T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004; H. de Wall/R. Wagner, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, JA 2011, 734.

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