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6. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft

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Die Gegenüberstellung von Gesetzgebung und Rechtsanwendung als Faktoren der Normbildung darf nicht vergessen machen, dass eine „dritte Kraft“ am Rechtsschöpfungsprozess beteiligt ist: die Rechtswissenschaft. Vorbei sind freilich die Zeiten, da das Rechtssystem hauptsächlich ein Produkt wissenschaftlicher Begriffs- und Systembildung war. So war die Lage nach der Rezeption des römischen und der Ausfaltung des „gemeinen Rechts“ (ius commune), als die Juraprofessoren, meist zugleich auch Richter, das Zivilrecht beherrschten. Auch im 19. Jahrhundert, als es in einigen Staaten bereits kodifiziertes Zivilrecht gab, war die normative Autorität der Rechtswissenschaft noch ungebrochen. Mit dem Inkrafttreten des BGB und einer explosionsartigen Vermehrung der Gesetzgebung im 20. Jahrhundert ergab sich ein Funktionswandel der Rechtswissenschaft.

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Soweit es um ihre Teilnahme der Wissenschaft an der Normbildung geht, stehen folgende Aufgaben im Vordergrund:

(1) Die Rechtswissenschaft hat an der Normenbildung in der Weise Anteil, dass sie die Mängel des geltenden Rechts aufdeckt und Reformbedürfnisse erkennt und formuliert. Die dazu nötige kritische Distanz zu den jeweils geltenden Rechtsvorschriften gewinnt die Rechtswissenschaft durch die Bildung von Rechtsbegriffen und Regeln, mit deren Hilfe die in der Realität gegebenen Sachprobleme adäquat erfasst und bewältigt werden können. Dazu bieten die Rechtstheorie (Rechtsphilosophie), die Rechtssoziologie und die Rechtsgeschichte unverzichtbare Grundlagen. Ein wesentliches Erkenntnismittel bietet auch die Rechtsvergleichung, die – wie die anderen genannten Fächer – deutlich macht, dass der Inhalt der aktuell geltenden Gesetze nicht selbstverständlich oder naturnotwendig ist, sondern aus kulturellen, nationalen und historischen Zusammenhängen, manchmal auch aus bloßen Zufällen erklärt werden kann. Zur notwendigen Erfassung der zu ordnenden Realität ist die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften (Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Naturwissenschaften) von großem Nutzen. Die Politik anerkennt die Mitwirkung der Rechtswissenschaft an der Normbildung zB durch Einladungen zu parlamentarischen Anhörungen und zur Teilnahme an Expertenkommissionen, die mit der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben betraut sind.

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(2) Die Rechtswissenschaft unterstützt auch die Rechtsprechung. Wenn auch letztlich die Gerichte entscheiden, so ist es doch hilfreich, wenn die Auslegungsmöglichkeiten der Rechtsvorschriften bereits in der wissenschaftlichen Literatur ausgelotet sind. Funktion der Wissenschaft ist es demnach auch, durch Interpretation der Gesetze und Erfassung der Konfliktlagen den Gerichten Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen und Entwürfe für Konfliktlösungen liefern. Die Rechtswissenschaft hat gegenüber der Gerichtsbarkeit gleichzeitig die kritische Aufgabe, die richterlichen Entscheidungen auf ihre innere Logik, Übereinstimmung mit dem Gesetz und sachliche Überzeugungskraft zu überprüfen. Die Gerichte sehen sich so einem Widerhall ihrer Rechtsfindung gegenüber, die auf ihre Rechtsauffassungen zurückwirkt.

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(3) Besonders dringende Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, dahin zu wirken, dass bei der immensen Masse des Rechtsstoffs ein einigermaßen stimmiges und logisches Rechtssystem erhalten bleibt. Unsere Rechtordnung ist in der Gefahr, durch ständig vermehrte Detailregelungen zerfasert zu werden, bis zu dem Punkt, dass niemand mehr den Überblick behalten kann. An der Wissenschaft liegt es, dafür zu sorgen, dass die verwendete Terminologie und die benutzten Rechtsfiguren im Einklang mit der allgemeinen Rechtssprache und rechtlichen Systematik bleiben. So besteht eine wesentliche Aufgabe der Wissenschaft darin, den gesamten Rechtsstoff in einen möglichst stimmigen System-, Begriffs- und Anschauungszusammenhang zu bringen (Dogmatik).

Literatur zur juristischen Methodenlehre:

C.-W. Canaris/K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995; C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983; W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bde, 1975–1977; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 11. Aufl. 2013; H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999; J. Schapp, Methodenlehre und System des Rechts, 2009. Zur Einführung: K. Adomeit/S. Hähnchen, Rechtstheorie für Studenten, 6. Aufl. 2012; F. Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Aufl. 2011; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005; 11. Aufl. bearb. Th. Würtenberger/D. Otto, 2010; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2013; M. Wienbracke, Juristische Methodenlehre, 2013; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012; B. Rüthers/Chr. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 8. Aufl. 2015; E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, 1, 62; B. Rüthers, Wozu auch noch Methodenlehre? JuS 2011, 865; Th. Wischmeyer, Der „Wille des Gesetzgebers, JZ 2015, 957.

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