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a) Umkehrschluss

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Bei der Lösung eines Rechtsfalls kommt es vor, dass die Anwendung des Gesetzes zu einem eindeutigen Ergebnis führt, das aber das Gericht für unpassend oder ungerecht hält. Oft ist es so, dass ein konkreter Fall eine Besonderheit aufweist, die im Gesetz keine Berücksichtigung gefunden hat, obwohl sie nach Einschätzung des Gerichts eine andere Wertung der Interessen nahe legt als bei den übrigen unter die Norm fallenden Sachverhalten. Muss dann das Gericht aufgrund seiner Bindung an das Gesetz die nach seiner Meinung unpassende Entscheidung fällen?

Grundsätzlich ist das zu bejahen. Wenn der Gesetzgeber im Zusammenhang mit einer allgemeinen Regel für eine besondere Fallkonstellation keine abweichende Lösung vorsieht, dann bedeutet das gewöhnlich, dass er das so will. Indem das Gesetz die Entscheidungsmaßstäbe für einen Konflikt festlegt, scheidet es andere Gesichtspunkte als irrelevant aus. Um dem in der Gesetzesanwendung Rechnung zu tragen, arbeiten wir mit einem Umkehrschluss (argumentum e contrario): Weil das Gesetz die Voraussetzungen für eine Rechtswirkung so und nicht anders festgelegt hat, sind andere denkbare Gesichtspunkte für die Entscheidung bedeutungslos.

Beispiele:

1) Nach § 104 Nr 1 ist geschäftsunfähig, wer das siebte Lebensjahr noch nicht vollendet hat; Folge ist, dass diese Person keine Rechtsgeschäfte wirksam abschließen kann (§ 105 I). Angenommen, es handelt sich in einen konkreten Fall um ein besonders aufgewecktes, hochbegabtes Kind von sechs Jahren, das kognitiv sogar einen durchschnittlichen 8-Jährigen übertrifft; gilt hier nicht eine Ausnahme von § 104? Der Umkehrschluss lautet: Weil das Gesetz die besondere Begabung oder Entwicklung eines Kindes nicht als Kriterium herangezogen hat, kommt es nicht darauf, sondern allein auf das Lebensalter an. 2) Nach § 1601 sind Verwandte in gerader Linie im Fall der Bedürftigkeit verpflichtet einander Unterhalt zu gewähren. Nach § 1589 S. 1 sind solche Personen in gerader Linie miteinander verwandt, deren eine von der anderen abstammt. Ein Kind lebt nach dem Tod seines Vaters mit seiner Mutter und deren neuen Ehemann zusammen. Ist der Ehemann als „Stiefvater“ nach § 1601 zum Unterhalt des Kindes verpflichtet, wenn sich zwischen ihnen ein psychisches Kind-Vater-Verhältnis entwickelt hat? Der Umkehrschluss lautet: Weil das Gesetz die gesetzliche Unterhaltspflicht an die Abstammung anknüpft, erklärt es das Vorhandensein eines bloß psychischen Verhältnisses für irrelevant. Aus § 1601 ist der Stiefvater also nicht verpflichtet.

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