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3. Zivilrecht auf der Grundlage des Liberalismus

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Das seit 1.1.1900 gültige BGB ist in erheblichem Ausmaß vom politischen Systemmodell des Liberalismus geprägt, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland herrschend wurde. Der Liberalismus gehört zu den aus der Aufklärung entstandenen, auf Veränderung der Gesellschaft abzielenden Bestrebungen. Die soziale und rechtliche Wirklichkeit, die es zu überwinden galt, ist durch die Begriffe „Absolutismus“, „Polizeistaat“ und „Feudalismus“ gekennzeichnet.

Unter Absolutismus verstehen wir die Herrschaftsform der frühen Neuzeit (insbesondere des 17. und 18. Jh.). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die in einem Staate vorhandene politische Gewalt dem Prinzip nach einer einzigen Instanz – gewöhnlich dem Monarchen – zugerechnet und als rechtlich grenzenlos gedacht wird. Die „Untertanen“ sind verfassungsrechtlich Herrschaftsobjekte ohne eigene gegen den Herrscher gerichtete Rechtsposition. Als Staatsziel definierte der Absolutismus die „gute Policey“. Dieser Begriff meinte eine Staatsverwaltung, die dem Handeln der Individuen und ihrer Vereinigungen keinen Raum für freie Entfaltung ließ. Alle sozial relevanten Vorgänge waren obrigkeitlich gelenkt, kontrolliert und konzessioniert oder konnten es jedenfalls sein. Das klassische rechtstechnische Mittel des Polizeistaates bildet der Genehmigungsvorbehalt: Alle Rechtsvorgänge, sei es die Gründung von Vereinigungen, der Handel mit einer Ware, sogar die Eheschließung, konnten von einer obrigkeitlichen Genehmigung abhängig gemacht werden.

Feudalismus bezeichnet aus dem Mittelalter überkommene politisch-ökonomische Strukturen, nach denen politische Funktionen und privater Güterbesitz vermischt waren. So wurde zB die Gerichtsbarkeit nicht durch beamtete Richter ausgeübt; vielmehr gab es eine Vielzahl von Gerichtshoheiten, die den jeweiligen Trägern kraft Erbrechts zukamen und die sie an ihre Abkömmlinge weitergaben. Der gemischt wirtschaftlich-politische Charakter der Hoheitsbefugnisse erklärt, dass sie Gegenstand von Geschäften wie andere wirtschaftliche Objekte sein konnten. Sie wurden vor allem „verlehnt“ (feudum – Lehen). Im Lehnsverhältnis mischten sich (nach heutigen Begriffen) öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Elemente.

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Die für das Zivilrecht relevanten Grundpositionen des Liberalismus lassen sich wie folgt beschreiben:

(1) Der Staat ist um der einzelnen Staatsbürger willen da, nicht umgekehrt. Der Staat stellt sich dar als Vereinigung seiner Mitglieder zum Schutze der Rechte und der Sicherheit jedes Einzelnen. Zur Zeit der Aufklärung erfuhr dieser Gedanke eine plastische Anschaulichkeit in der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag: In der Menschheitsentwicklung gab es einmal einen Zustand ohne Staat (status naturalis, state of nature, Naturzustand). Dieser Zustand ist durch Unsicherheit gekennzeichnet: Bei Konflikten siegt der Mächtige über den Schwachen. Darum schließen sich die Menschen durch einen Vertrag zusammen, um nach vereinbarten Regeln friedlich miteinander zu leben: Sie schließen den Gesellschaftsvertrag (social contract, contrat social), mit dem der Staat gegründet wird. Der Staat hat demnach als einzigen Zweck den Schutz des Individuums, denn nur um dieses Schutzes willen war der Einzelne bereit, den Naturzustand mit dem „bürgerlichen“ zu vertauschen.

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(2) Mit dem Vertragsschluss geht der Einzelne nicht im Staate auf. Vielmehr stehen dem Menschen von Natur aus bestimmte aus seiner Persönlichkeit erwachsende Rechte zu (Menschenrechte), die er durch den Gesellschaftsvertrag keineswegs verliert. Nach der liberalen Deutung des Gesellschaftsvertrags ist die Staatstätigkeit gerade dadurch definiert, dass sie die angeborenen Rechte schützt und verwirklicht. Staatszweck nach der liberalen Theorie ist die im Naturzustand gefährdete Realisierung der Individualfreiheit. Jede Staatstätigkeit, die nicht diesem Ziel dient, verletzt den Gesellschaftsvertrag. Zwar geht der Staatsbürger im Sozialkontrakt auch Verpflichtungen ein; es kann in einer Gemeinschaft keine totale Handlungsfreiheit geben, jeder hat die Rechte des anderen zu achten. Die bürgerliche Freiheit eines Menschen im Staate ist daher durch die bürgerliche Freiheit aller anderen begrenzt; insofern tritt der Mensch im Gesellschaftsvertrag einen Teil seiner natürlichen Freiheit ab. Dieser Freiheitsverzicht steht jedoch unter der Bedingung, dass der Freiheitskern unversehrt erhalten bleibt. Mit dieser Anschauung gelang es der liberalen Theorie, das Individuum mit einer unverzichtbaren Freiheitsposition gegen den Staat auszustatten. Auf dieser Vorstellung basieren die Grundrechte des Menschen, die sich seit der Virginia Bill of Rights (1776) und der revolutionären Verfassung Frankreichs von 1791 in den Staatsverfassungen finden.

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(3) Die liberale Freiheit stellt sich ganz wesentlich als Freiheit des Eigentums dar. Grundlegend ist die Lehre von John Locke (1632–1704; Two Treatises of Government, 1690). Nach ihm gibt es schon im Naturzustand Eigentum einzelner Menschen an den Sachgütern. Es entsteht dadurch, dass der Mensch auf die Sachgüter Arbeit verwendet. Denn jeder Mensch hat ursprünglich ein Eigentum an der eigenen Person und an seiner Arbeit. Verwendet jemand Arbeit auf einen Gegenstand, gräbt er also Bodenschätze aus oder pflügt er ein Grundstück, so vermischt er seine Person mit dem Gegenstand, und also wird auch der Gegenstand sein Eigen. Der Gesellschaftsvertrag wird nun keineswegs unter Verzicht auf das Eigentum geschlossen; vielmehr wird der Staat gerade dazu gegründet, um das Eigentum zu schützen. Dieser Lehre war eine große Tragweite beschieden. Wenn das Sacheigentum auf das persönliche Recht jedes Menschen an sich selbst und seiner Arbeit gegründet ist, erscheint es nicht als bloß äußerliche Habe, sondern als Entfaltungsbereich der Persönlichkeit. Wird der Inbegriff der Menschenrechte als Freiheit definiert, so fallen Freiheit und Eigentum zusammen. „Freiheit und Eigentum“ wird die Parole des Liberalismus. Das auf die Freiheit des Menschen gegründete Eigentum wurde von der französischen Nationalversammlung für heilig erklärt („un droit inviolable et sacré“) und von dem deutschen Liberalen Carl v. Rotteck als Persönlichkeitsrecht gedeutet. In der Konsequenz der Verbindung von Freiheit und Eigentum liegt es, dass die Grundrechtskataloge der Verfassungen die Garantie des Privateigentums gegen staatlichen Zugriff als ein zentrales Freiheitsrecht enthalten (Art. 14 GG).

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Die Forderung nach freiem Eigentum berührt das Zivilrecht unmittelbar. Die Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts lehnte es freilich ab, den politisch-verfassungsrechtlichen Begriff des Eigentums unverändert zu übernehmen; vielmehr bezogen die Juristen gemäß ihrer wissenschaftlichen Tradition das Eigentum auf körperliche Gegenstände (Sachen, § 90 BGB). Seitdem gibt es zwei Rechtsbegriffe des Eigentums, nämlich

den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff (Art. 14 I GG), der nach heutiger Interpretation (zumindest) alle Vermögensrechte des Privatrechts umgreift;
den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff, der die Innehabung der vollen Bestimmungsgewalt über einen körperlichen Gegenstand (Sache) meint.

Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff und -schutz ist demnach wesentlich weiter gefasst als der zivilrechtliche.

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Der Einfluss des Liberalismus auf die Eigentumsregelung des Zivilrechts zeigt sich in der Struktur des Eigentums. Die Idee vom „freien Eigentum“ verlangte seine Ausgestaltung als ein Recht, das dem Inhaber die prinzipiell uneingeschränkte „Herrschaft“ über den Gegenstand einräumt. Der seine Persönlichkeit im Eigentum entfaltende Eigentümer muss nach dieser Vorstellung rechtlich im Stande sein, mit der Sache „nach Belieben“ zu verfahren (§ 903 BGB), einschließlich ihrer Zerstörung (ausdrücklich § 362 österr. ABGB). Die Freiheit der Nutzung schließt die Befugnis ein, das Eigentum an Produktionsgütern (Boden und Kapital) zum Zwecke persönlicher Gewinnerzielung einzusetzen. Eigentumsfreiheit versteht sich auch als Befugnis, das Eigentum beliebig an andere zu veräußern. Demzufolge wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Grundeigentum von seinen im Feudalrecht wurzelnden Bindungen befreit und in ein Markt- und Tauschobjekt gleich den beweglichen Sachen verwandelt.

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(4) Die Idee der individuellen Freiheit äußert sich nicht nur in der Freiheit des Eigentums, sondern generell in der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung: Freiheit des Handels und Gewerbes, des Tauschverkehrs, der Güterproduktion und der Arbeitsverhältnisse. Die Begrenzung des Staatszwecks auf Schutz und Sicherung der Individualfreiheit wendet sich gegen dirigistische Steuerung der sozialen Vorgänge. Die gesellschaftlichen Prozesse sollen vielmehr durch das freie und spontane Handeln der Bürger bewirkt werden. Der Umstand, dass ein Vorgang das öffentliche Interesse berührt oder das gemeine Wohl beeinflusst, begründet nach dieser Vorstellung allein noch keine Eingriffsbefugnisse der staatlichen Bürokratie. Dem Staat wird vielmehr die Gesellschaft als lebender Organismus gegenübergestellt, bestehend aus einem Gewirre individueller Aktionen, die wie durch wunderbare Hand gelenkt das Gemeinwohl herstellen. Die Gesellschaft, nicht der Staat bewältigt in erster Linie die sozialen Aufgaben; an die Stelle der Allzuständigkeit des Staates tritt die Primärzuständigkeit der freien Bürgergesellschaft. Der liberale Glaube an eine natürliche Harmonie in den Dingen mündete in die Vorstellung, dass das selbstbezogene Handeln der Einzelnen zugleich das soziale Optimum herstelle (Laissez faire, laisser passer, le monde va de lui même). Zivilrechtlicher Ausdruck des geschilderten Wirtschaftsmodells ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit: Jeder soll mit jedem, der sich dazu bereit findet, Verträge beliebigen Inhalts rechtmäßig und bindend schließen können.

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(5) Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung bildet nur einen Ausschnitt aus einem umfassenden Recht jedes Einzelnen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 I GG), das in Gestalt besonderer Freiheiten (zB Glaubens- und Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit) weiter ausgeprägt wird. Persönliche und wirtschaftliche Entfaltung sind dabei nicht als getrennte Bereiche konzipiert. Auch das Eigentum als das Vorbild der wirtschaftlich nutzbaren Rechte wird als Bereich von persönlicher Freiheitsverwirklichung gedacht. Dem entspricht eine auch durch das Zivilrecht abzusichernde, allgemeine Handlungsfreiheit („Privatautonomie“), die im Prinzip ihre Grenze am Freiheitsraum der anderen Mitglieder der Gesellschaft findet. Sie schließt das Recht der Einzelnen ein, sich ohne obrigkeitliche Erlaubnis zu Vereinigungen rechtswirksam zusammenzuschließen (Vereinigungsfreiheit) und umfasst das Recht der Vereinigungen, ihre Angelegenheiten ohne staatliche Intervention zu regeln („Vereinsautonomie“).

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(6) Der Gedanke, dass Eigentum und wirtschaftliche Betätigung prinzipiell in den Entfaltungsbereich des Einzelnen und der „freien“ Gesellschaft gehören, verlangt nach Regelungen, die bewirken, dass das Vermögen einer Person nach ihrem Tode nicht dem Staat anheim fällt, sondern auf andere Privatpersonen übergeht. Nur durch ein solches Erbrecht kann sich das politische System des Liberalismus ständig reproduzieren. Deshalb tritt neben die Garantie des Eigentums in den Verfassungen die Gewährleistung des Erbrechts (Art. 14 I GG). Zur Garantie des Erbrechts gehört auch die freie Bestimmung einer Person darüber, wer ihr Vermögen erben soll (Testierfreiheit).

Bei Ausgestaltung des Erbrechts versuchen die modernen Zivilrechte allerdings, familiäre Bindung und Testierfreiheit in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen. Nach dem BGB sind der Ehegatte und die Verwandten nach einer bestimmten Ordnung zur Erbfolge berufen (gesetzliches Erbrecht); der Erblasser kann aber durch Verfügung von Todes wegen (zB Testament) über das Schicksal seines Vermögens nach dem Tode beliebige anderweitige Bestimmungen treffen. Wird auf diese Weise der Ehegatte oder werden gewisse nähere Verwandte von der Erbfolge ausgeschlossen, so erhalten sie einen Anspruch auf den Pflichtteil gegen den (die) Erben (§ 2303 BGB); der Pflichtteil besteht aus der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils. Einen Pflichtteilsanspruch hat auch der eingetragene Lebenspartner des Erblassers (§ 10 VI LPartG). Zur rechtspolitischen Begründung des Erbrechts A. Dutta, Warum Erbrecht?, 2014.

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(7) Dem Gedanken der individuellen Freiheit steht der Grundsatz der Rechtsgleichheit zur Seite. Er bedeutet insbesondere, dass alle Bürger die gleichen Freiheitsrechte genießen und den Gesetzen in gleicher Weise unterworfen sind. Nach diesem Gesellschaftsmodell kann es keine „Stände“, dh Bevölkerungsschichten mit gemindertem (Sklaven, Hörige) oder erhöhtem (Adel) Freiheitsstatus geben. Deshalb wurde der Adel als Rechtsstatus abgeschafft (Art. 109 Abs. 3 S. 1 Weimarer Reichsverfassung). Gleiche Rechte bedeuten allerdings nicht die Gleichheit des Vermögens. Denn obwohl jeder die gleiche Freiheit genießt, können die Menschen je nach ihren Fähigkeiten unterschiedlichen Gebrauch davon machen. Die quantitative Gleichheit des Eigentums gehört daher nicht zu den liberalen Postulaten. Es genügt, wenn für alle gleiche Regeln gelten, nach denen sich Erwerb und Verlust von Gütern vollzieht. Die Beschränkung des Gleichheitsgedankens auf die Rechtsgleichheit kann allerdings zu sozialen Problemlagen führen, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung faktisch keine Chance hat, Vermögen zu erwerben und so die Gleichheitsverheißung nur auf dem Papier steht.

Relativ spät hat die Gleichberechtigung der Geschlechter erfolgreichen Eingang in die Menschen- und Bürgerrechtsbewegung gefunden, siehe Rn 118.

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