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5. „Richterliche Rechtsfortbildung“
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Ob die juristische Methodenlehre ihre Aufgabe, die Bindung der Norminterpretation an das Gesetz zu gewährleisten, erfüllen kann, wird zunehmend zweifelhaft. Die Zivilgerichte bekennen sich zu ihrer normbildenden Funktion inzwischen ganz offen. Die Grenze, ab der das Prinzip der Gewaltenteilung überschritten ist, kann durch die Methodenlehre kaum exakt markiert werden. Unter den Auslegungsregeln ist das teleologische Element für die richterliche Einflussnahme auf die Normen besonders geeignet. Denn die Gesetzestexte geben üblicherweise ihren Zweck nicht selbst an. Die Zielsetzungen sind häufig in den Erläuterungen zu den Gesetzentwürfen formuliert oder dem Ablauf der parlamentarischen Beratungen zu entnehmen. Aber häufig wird das Gesetz in anderer Fassung beschlossen als zunächst entworfen, nicht selten bildet es das Resultat schwieriger Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat. Je komplexer die Gesetzgebungsgeschichte, desto undeutlicher meist die Zweckvorgabe. Es ist der Rechtsanwendung dann möglich, nach ihrem Verständnis dem Gesetz einen Zweck zu unterlegen, von dem aus die Norm dann interpretiert wird.
Hinzu kommt, dass sich die Gesetzesauslegung bei schon älteren Gesetzen von den konkreten Zweckerwägungen der Entstehungszeit lösen kann. Dies geschieht mit Hilfe der These, Erkenntnisziel der Gesetzesauslegung sei nicht der Wille des historischen Gesetzgebers (subjektive Theorie), sondern der Wille des Gesetzes (objektive Theorie). Dabei ist die Vorstellung maßgebend, das Gesetz entfalte, wenn es einmal in Kraft gesetzt ist, einen eigenen, von der Autorität des historischen Gesetzgebers sich ablösenden Regelungswillen. Folglich wird die Bedeutung der Gesetzesmaterialien umso leichter zurückgedrängt, je älter ein Gesetz geworden ist.
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Bei Anwendung der Lückentheorie (Rn 101) stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen man annehmen kann, der Gesetzgeber habe die Besonderheit einer Fallkonstellation unberücksichtigt lassen wollen (dann keine Lücke, Umkehrschluss) oder unwillentlich nicht bedacht (dann mögliche Lücke und Analogie). Die Rechtsprechung greift auf die Lückentheorie letztlich dann zurück, wenn sie ein vom Gesetz abweichendes Ergebnis für angemessen hält und methodisch nur so zum Ziele kommt. An feste Regeln zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Analogie lassen sich die Gerichte schwerlich binden. Darin liegt auch eine Gefahr für die Rechtssicherheit und das Prinzip der Gewaltenteilung.
Besondere Bedeutung für die Anwendung zivilrechtlicher Gesetze hat schließlich das Verständnis der im GG verbürgten Grundrechte als einer Wertordnung, die Gesetzgebung wie Rechtsprechung bindet (Rn 84). Aus dieser Warte lässt sich der Geltungsanspruch zivilrechtlicher Vorschriften entweder zurückweisen (verfassungswidriges Gesetz) oder relativieren („verfassungskonforme Auslegung“).
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So ergibt sich heute das Bild einer mit dem Gesetz verhältnismäßig frei umgehenden Rechtsprechung, die das Gesetz nicht nur interpretiert, sondern auch ergänzt und gelegentlich korrigiert. Ergänzung und Korrektur des Gesetzes werden als richterliche Rechtsfortbildung gerechtfertigt. Dabei werden meist die Elemente der juristischen Methodenlehre herangezogen. In manchen Entscheidungen lösen sich die Gerichte in einer bemerkenswert offenen Weise von einer geschlossenen Methodik.
Beispiel:
Bis zum Jahr 2009 war gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, ob ein Betreuer (§ 1896 I) einer gerichtlichen Genehmigung bedarf, wenn er im Namen des Betreuten die Einwilligung in eine lebenserhaltende ärztliche Maßnahme verweigern will („Sterbehilfe“). Das Erfordernis einer gerichtlichen Genehmigung hat der BGH mit folgender Begründung bejaht: „Die Fortbildung des Rechts ist eine Pflicht der obersten Gerichtshöfe des Bundes und wird ständig geübt ... Sie ergibt sich vorliegend aus einer Gesamtschau des Betreuungsrechts und dem unabweisbaren Bedürfnis, mit den Instrumenten dieses Rechts auch auf Fragen im Grenzbereich menschlichen Lebens und Sterbens für alle Betroffenen rechtlich verantwortbare Antworten zu finden“ (BGHZ 154, 205, 221). Letztlich wird die richterliche Normschöpfung aus dem Bedürfnis für eine bestimmte Regelung hergeleitet. Zum heutigen Rechtszustand vgl. § 1904 II.