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4. Die Abstraktheit des BGB
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Die Vorschriften des BGB weisen eine auffällige Abstraktheit auf, die es dem Juristen schwer, dem Laien oft unmöglich macht, den Gesetzestext zu verstehen. Dabei ist zu bedenken: Jedes Gesetz muss allgemein gehalten sein, da es typischerweise nicht für einen Fall, sondern für eine Vielzahl gleicher Fälle gelten will. Jedoch gibt es verschiedene Grade der Abstraktion.
Nehmen wir zB den Mietvertrag, den ein Student mit dem Eigentümer eines privaten Studentenheims über die Miete eines möblierten Zimmers schließt. Die gesetzliche Regelung eines Mietvertrags (§ 535) kann relativ konkret oder relativ abstrakt erfolgen. Denkbar wäre, dass das Gesetz
– | speziell die Miete von möblierten Zimmern in Wohnheimen |
– | oder allgemeiner: die Miete von möblierten Wohnräumen |
– | oder allgemeiner: die Miete von Wohnräumen |
– | oder allgemeiner: die Miete von Räumen |
– | oder allgemeiner: die Miete von Sachen (= körperlichen Gegenständen, § 90) |
– | oder allgemeiner: die Miete von beliebigen Gegenständen regelt. |
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Wofür sich der Gesetzgeber entscheidet, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Regelt er die Verhältnisse konkret, so wird das Gesetz umfangreich; es wird viele Wiederholungen geben. So werden die Rechtsprobleme für die Miete von möblierten Wohnheimzimmern und anderen möblierten Zimmern fast dieselben sein. Die Miete von möblierten und unmöblierten Wohnräumen wird vielfach die gleichen Rechtsfragen aufwerfen. Wählt das Gesetz die allgemeinste Regelung, so wird das Gesetz zwar kurz; aber die abstrakten Begriffe verdecken die Vielgestaltigkeit der normierten Realität und vernachlässigen deren spezifische Eigenarten und Probleme. Die Normen über die „Miete von Sachen“ betreffen dann die Wohnraummiete ebenso wie die Miete von Geschäftsräumen und in gleicher Weise die Miete von Automobilen, Produktionsmaschinen und Büchern. Gegenüber den realen Lebensverhältnissen werden die gesetzlichen Vorschriften auf diese Weise blass. Die Schöpfer des BGB neigten einer möglichst abstrakten Fassung der Normen zu. So wurde zum Beispiel das Mietrecht allgemein für die Miete von Sachen geregelt, während die Besonderheiten einzelner Mietgegenstände an verschiedenen Stellen durch besondere Vorschriften berücksichtigt wurden.
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Insgesamt ergibt sich folgender Aufbau:
– | Voran stehen allgemeine Regelungen für Mietverträge über Sachen (§§ 535–548), die gelten, sofern die folgenden Spezialvorschriften in Bezug auf bestimmte Mietgegenstände keine anderweitige Anordnung treffen. |
– | Ausführlich ist dann das Recht der Miete von Wohnräumen geregelt (§§ 549–577a). Innerhalb dieser Vorschriften wird dann aber bei einzelnen Rechtsfragen weiter differenziert (zB in § 549 II, III: Miete von Wohnraum zu vorübergehendem Gebrauch, Untervermietung von möblierten Wohnräumen, Vermietung von Wohnraum in Studenten- und Jugendwohnheimen, etc). |
– | Schließlich bringt das Gesetz weitere Regeln für „Mietverhältnisse über andere Sachen“ (§§ 578–580a), bei denen weiter zwischen den Mietgegenständen differenziert wird (Grundstücke, Räume, die keine Wohnräume sind, Schiffe, bewegliche Sachen, etc). |
Sehr übersichtlich ist das Ganze nicht. Will der wohnungssuchende Student nachsehen, welche Normen für die Anmietung eines Zimmers im Studentenwohnheim einschlägig sind, so wird er zunächst den Untertitel über die Wohnraummiete aufschlagen (§§ 549 ff). Aus § 549 III erfährt er aber, dass eine ganze Reihe von Mietvorschriften über Wohnraum für die Anmietung eines Zimmers im Wohnheim gerade nicht gelten. Andererseits sind auch die allgemeinen Vorschriften über die Miete beliebiger Sachen (§§ 535–548) einschlägig, soweit sie nicht durch die nachfolgenden Vorschriften über die Wohnraummiete verdrängt werden. Für die Miete eines Zimmers in einem Studentenwohnheim gilt also ein „Paragraphenmenü“, das man sich aus dem Gesetz sorgfältig zusammenstellen muss.
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Allgemein gesprochen ist das BGB – von einigen Partien wie dem viel belachten Bienenrecht (§§ 961–964) abgesehen – im Bestreben nach Abstraktion sehr weit gegangen. Das Gesetzbuch bemüht sich, durch Bildung von Oberbegriffen alle Verhältnisse zu erfassen und Regelungslücken zu vermeiden. Der Preis dafür besteht in der Unverständlichkeit für Laien und im Verschwinden der normierten sozialen Verhältnisse aus dem Blickfeld. Das BGB verwendet eine dem Nichtjuristen fremd anmutende Kunstsprache, welche die ohnehin empfundene Kluft zwischen „juristischem Denken“ und „gesundem Menschenverstand“ vertieft. Man muss freilich bedenken, dass die juristische Terminologie sich notwendig in gewissem Grade von der Alltagssprache entfernt. Gerade in einer Zivilisation, deren Lebensprobleme durch die ökonomisch-technische Entfaltung immer verwickelter werden, ist das Projekt eines allgemein verständlichen Gesetzbuchs, aus dem jedermann unschwer Recht und Unrecht entnehmen kann, eine Utopie. Gesetze und Rechtswissenschaft bedürfen, um die Problemkerne einer Unzahl von Einzelkonflikten herauszuarbeiten und miteinander vergleichbar zu machen, einer in sich möglichst stimmigen Terminologie, die mit der Umgangssprache gar nicht identisch sein kann. Die Frage ist nur, wie weit sich diese Terminologie davon entfernen muss. Ein Zurück zu einer volkstümlichen Gesetzessprache scheint heute als Illusion. Die heutige Gesetzgebung treibt das Auseinanderklaffen von natürlichem Wortsinn und rechtstechnischer Begrifflichkeit sehr viel weiter als einst das BGB und auch viel weiter als nötig.
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Die abstrakte Gesetzessprache bildet für die Juristen eine Versuchung, die juristischen Konstruktionen mit der Wirklichkeit zu verwechseln und über der Gesetzeslogik die Lebensverhältnisse, um die es geht, zu vergessen. Das hat den Juristenstand dem Vorwurf der Weltfremdheit und Beschränktheit ausgesetzt, der vielfach berechtigt war und ist. „Der königliche Landgerichtsrat Alois Eschenberger war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstande. Er kümmerte sich nicht um das Wesen der Dinge, sondern ausschließlich darum, unter welchen rechtlichen Begriff dieselben zu subsumieren waren.“ Diese von Ludwig Thoma geschilderte Haltung wird durch das BGB gefördert, gerade weil es in seiner begrifflichen Perfektion gut gelungen ist. Es ist kein guter Jurist, der nicht auch Freude am intellektuellen Spiel mit der kunstvollen Verzahnung der Rechtsfiguren und -normen empfindet. Nur wird das Spielen auf der technischen Klaviatur des BGB allzu leicht zum Selbstzweck. Darüber wird nicht selten die Anschauung der Lebensverhältnisse, auf die das Gesetz angewendet wird, vernachlässigt und der eigentliche Sinn der Rechtsregeln vergessen.
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Die Begriffshöhe des BGB macht es schwierig, das dahinterstehende politische Konzept, das Gesellschaftsmodell und darüber hinaus das Menschenbild des Gesetzbuchs zu erkennen. Es ist zu bedenken, dass das Gesetzbuch aus sehr unterschiedlichen Traditionen gespeist wird (römisches Recht, Rechtsdenken der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, sozialstaatliche Vorstellungen des 20. Jahrhunderts). In vielem lässt die ursprüngliche Fassung des BGB den Geist seiner Entstehungszeit erkennen; es war für die Bedürfnisse des geschäftetreibenden Bürgertums konzipiert, wie das Zurücktreten des Personenrechts hinter die wirtschaftlichen Bezüge erkennen lässt. Durch zahlreiche Reformen und richterliche Rechtsfortbildung, vor allem auch durch den Einfluss des Grundgesetzes auf das Privatrecht (Rn 80) hat sich der Charakter des Gesetzbuchs im Laufe der Zeit wesentlich gewandelt.
Literatur:
Materialien zur Entstehung des BGB: Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Amtliche Ausgabe, 5 Bde., 1888; Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 7 Bde., 1897–1899; B. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 5 Bde., 1899; Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, 6 Bde., 1890–1891; H.H. Jakobs/W. Schubert (Hg.), Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 14 Bde., 1978–1991; W. Schubert (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs, 1986. Unter den zeitgenössischen Kritikern ragen hervor: O. v. Gierke, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 2. Aufl. 1889; A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1908. Zur Geschichte des BGB: M. Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, bisher Bd.1–3, 2003–2013; M. Martinek/P.L. Sellier (Hg.), 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, 1999; U. Falk/H. Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, 2000; H. Schulte-Nölke, Die schwere Geburt des Bürgerlichen Gesetzbuchs, NJW 1996, 1705 ff; D. Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 2000, 325 ff.