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4. Zur Gesetzesanwendung: Subsumtion und Rechtsfindung

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Die verbindliche Interessenwertung und ihre Umsetzung in Rechtswirkungen (Rechtsfolgen) sind näher zu betrachten. Als Beispiel diene § 12. Die für unseren Fall 1 bedeutsamen Teile des Textes lauten, wie oben erläutert:

Wird das Recht zum Gebrauch eines Namens dadurch verletzt, dass ein anderer unbefugt den gleichen Namen gebraucht, und sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Berechtigte auf Unterlassung klagen.

In diesem Text kann man eine ähnliche Zweiteilung wie im Text des Falles 1 entdecken.

Der Beispielstext zerfällt in die Schilderung eines historischen Geschehens (Sachverhalt) einerseits („Anton Wimmerl sieht ...“) und die Frage nach einer Rechtsfolge andererseits („Bobo möchte ...“).

Auch der Normtext umschreibt in seinem ersten Teil ein Geschehen („Wird das Recht ...“) und knüpft im zweiten Teil daran die Anordnung einer Rechtsfolge („... so kann der Berechtigte ...“).

Den Voraussetzungsteil einer Norm nennen wir Tatbestand. Der Tatbestand enthält im Gegensatz zum Sachverhalt nicht die Beschreibung eines einmalig-historischen Geschehens, sondern ein in abstrakten Merkmalen erfasstes Geschehensprogramm, das in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen erfüllt werden kann. Denn der Zweck der Norm ist nicht die Entscheidung bloß eines Einzelfalles, sondern einer unbestimmten Vielzahl gleich gelagerter Fälle.

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Das Gericht hat folglich zu untersuchen, ob der zur Entscheidung stehende Sachverhalt den Tatbestand der Norm erfüllt, dh ob die abstrakt formulierten Geschehensmerkmale des Tatbestands sich im konkret-historischen Geschehen des Sachverhalts wieder finden. Es findet ein einfaches Schlussverfahren statt, etwa nach folgendem Vorbild:

Obersatz Untersatz Schlussfolgerung
Wer zur Kirche geht, ist fromm. Josef Maier geht oft zur Kirche. Also ist Josef Maier fromm.

Auf unser Beispiel übertragen sieht das Schema wie folgt aus:

Obersatz Untersatz Schlussfolgerung
Wenn jemand das Recht zum Gebrauch eines Namens eines anderen dadurch verletzt, dass er unbefugt den gleichen Namen gebraucht, und wenn weitere Beeinträchtigungen zu besorgen sind, dann kann der Berechtigte auf Unterlassung klagen. W hat das Recht zum Gebrauch des Namens des B verletzt, indem er dessen Namen unbefugt benutzte, und es besteht Wiederholungsgefahr. Also hat B gegen W Anspruch auf Unterlassung des unbefugten Namensgebrauchs.
Den Obersatz bildet die vorgefundene Rechtsnorm (hier § 12 BGB), die in Tatbestand (linke Spalte) und abstrakt angeordnete Rechtsfolge (rechte Spalte) zerfällt. Untersatz ist der Lebenssachverhalt, den der Richter zu beurteilen hat. Als Schlussfolgerung kann der Richter dann die konkrete Rechtsfolge ermitteln.

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Das Schwierigste dabei ist die Bildung des Untersatzes, dh die Feststellung, ob sich die abstrakten Merkmale des Tatbestandes im konkreten Sachverhalt wieder finden. Zu diesem Zwecke muss jede einzelne Tatbestandsvoraussetzung auf ihre Verwirklichung im Sachverhalt untersucht werden.

In unserem Fall ist also genau zu prüfen:

1) Gebraucht W den Namen des B?

2) und zwar unbefugt?

3) Wird dadurch das Recht des B an diesem Namen verletzt?

4) Besteht Wiederholungsgefahr?

Wenn wir alle diese Fragen bejahen, dann tritt die von B gewünschte Rechtsfolge ein.

Ist der Untersatz gebildet, so steht das Ergebnis unausweichlich fest. Entweder der Sachverhalt erfüllt den Tatbestand, dann ist die Rechtsfolge zu bejahen. Oder der Sachverhalt erfüllt den Tatbestand nicht, dann ist die Rechtsfolge zu verneinen. Die Prüfung, ob sich in einem Sachverhalt die Elemente eines Normtatbestandes wieder finden, nennt man Subsumtion: Der Sachverhalt wird unter den Tatbestand subsumiert.

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Über die Subsumtion sind einige Fehlvorstellungen im Umlauf:

(1) In der Subsumtion wird gelegentlich etwas Naiv-Simples gesehen, das mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Das ist ein Missverständnis. Die Aufgabe der Streitbewältigung ist rational nur so möglich, dass der jeweilige Konflikt aus seiner Vereinzelung gelöst und im Zusammenhang mit vielen als möglich vorausgesehenen gleichen oder ähnlichen Konflikten bewertet wird. Aus solchen Wertungen werden allgemeine Regeln gebildet, nach denen der Einzelkonflikt entschieden wird. Die Fallentscheidung nach vorgegebenen Regeln ist ein Kernstück juristischer Arbeit und bildet keinen Gegensatz zur rechtswissenschaftlichen Forschung. Denn wissenschaftliche Aussagen sind den Rechtssätzen darin ähnlich, dass sie allgemein sind, dh sich auf eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten beziehen. Auch in der Wissenschaft muss also der Blick zwischen den zu bewältigenden Einzelfällen und der Theoriebildung hin und her wandern. Auch hier muss also „subsumiert“ werden, wenn die Tragweite einer theoretischen Aussage richtig eingeschätzt werden soll.

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(2) Es besteht ferner die irrige Vorstellung, dass die juristische Tätigkeit allein in der Subsumtion bestehe und dass die Subsumtion ein der mathematischen Schlussfolgerung wesensgleicher Vorgang sei. Das Bild von der juristischen Tätigkeit sähe dann so aus: Im Rechtssatz, gewöhnlich also im Gesetz, ist dem Juristen eine klare und unzweifelhafte Prämisse vorgegeben. Die Subsumtion ist eine bloße Angelegenheit der Logik. Es kann daher nur eine richtige Lösung geben, die durch bloße Anwendung der Denkgesetze erreicht wird. Dem ist aber nicht so.

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Fall 2:

Anton (A) und Berta (B) haben sich die Ehe versprochen und wollen bald heiraten. Die Eltern der B haben für die beiden eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer als Hochzeitsgeschenk gebucht. Kurz vor der Hochzeit erfährt A, B habe sich, bevor sie ihn kennen lernte, mit einer großen Zahl von Männern eingelassen und es „ganz toll getrieben“. A schreibt B, er müsse zu seinem Bedauern von der Eheschließung Abstand nehmen.

B‘s Eltern erwachsen Unkosten von 200 €, weil das Reisebüro vertragsgemäß bei kurzfristiger Absage der Reise einen gewissen Prozentsatz der Reisekosten als Ausfallentschädigung verlangt (vgl § 651i II 2, 3).

B‘s Eltern verlangen von A Zahlung von 200 €.

Es wird eine Rechtsfolge behauptet (Anspruch der Eltern gegen A). Also werden wir einen Rechtssatz suchen, aus dem sich die Rechtsfolge ergibt. Einschlägig ist § 1298 I 1. Danach hat ein Verlobter, der vom Verlöbnis zurücktritt, gewissen Personen (ua den Eltern des anderen Verlobten) den Schaden zu ersetzen, der ihnen dadurch entstanden ist, dass sie in Erwartung der Ehe Aufwendungen gemacht haben oder Verbindlichkeiten eingegangen sind. Nach § 1298 III besteht die Ersatzpflicht nicht, wenn ein wichtiger Grund für den Rücktritt vorliegt. Der Sachverhalt ist unter den Normtatbestand zu subsumieren. Es ist also zu prüfen, ob die einzelnen Tatbestandselemente im Sachverhalt wiederzufinden sind.

Tatbestand Sachverhalt
1. Es hat ein Verlöbnis bestanden. A und B haben sich die Ehe versprochen.
2. Ein Verlobter ist vom Verlöbnis zurückgetreten. A erklärt B, dass er sie nicht heiraten werde.
3. Gewisse Personen (hier: Eltern des anderen Verlobten) haben Aufwendungen gemacht oder sind Verbindlichkeiten eingegangen. Die Eltern der B haben eine Schiffsreise gebucht und sich zur Zahlung verpflichtet.
4. Dies geschah in Erwartung der Ehe. Die Schiffsreise sollte als Hochzeitsgeschenk dienen.
5. Aus dem Rücktritt ist ein Schaden entstanden. Die Eltern haben nutzlos 200 € bezahlt.
6. Es liegt kein wichtiger Grund für den Rücktritt vor. ?

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Beim zuletzt genannten Tatbestandselement stockt die bis dahin flüssige Subsumtion. Denn die Frage, ob für A ein wichtiger Grund zum Rücktritt vom Verlöbnis vorlag, ist nicht einfach zu beurteilen. Es lassen sich Argumente dafür und dagegen vorbringen. Letztlich geht es um Grundanschauungen über Moral und über die Stellung der Frau in Ehe und Gesellschaft. Man kann den wichtigen Grund bejahen oder auch verneinen.

Einerseits könnte man sagen: Das Leben der B vor der Verlobung geht A nichts an, zu jener Zeit war sie „frei“. Auch musste B ihm bei der Verlobung darüber nichts sagen. A muss es genügen, wenn sich B seit der Verlobung der eingegangenen Bindung gemäß verhält.

Andererseits könnte man meinen: Der Umgang seiner Braut mit Männern vor der Verlobungszeit gibt A einen wichtigen Rücktrittsgrund, wenn darin eine erotische Labilität sichtbar wird, die auch für die geplante Ehe nichts Gutes verheißt. B hätte A über ihr Vorleben aufklären müssen. Ihr Schweigen über ihr Vorleben gibt A hinreichenden Anlass, von der geplanten Eheschließung Abstand zu nehmen.

Die Gründe pro und contra lassen sich weiter ausfalten.

Wir sehen daraus: Der Normtatbestand des § 1298 enthält die Konfliktlösung für unseren Fall nur unvollständig. Die Prämisse wird in einem ganz entscheidenden Punkt unscharf. Denn was ein wichtiger Grund ist und was nicht, kann den Worten „wichtiger Grund“ selbst nicht entnommen werden, sondern ergibt sich aus Anschauungen außerhalb des Gesetzestextes.

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Was man Gesetzesanwendung nennt, besteht also nicht nur aus der Subsumtion der Sachverhalte unter das Gesetz, sondern auch in der Mitwirkung des Gesetzesanwenders an der Rechtssatzbildung selbst. Das streitentscheidende Gericht richtet die Prämisse zu (Josef Esser), es konturiert die Rechtsnorm, um ihr dann den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt zu unterwerfen. „Gesetzesanwendung“ ist somit zugleich Teilnahme an der Rechtsnormenbildung.

Gesetz und Rechtsnorm sind folglich nicht dasselbe. In unserer Rechtskultur werden die Rechtsnormen zwar in erster Linie durch die Gesetzgebung festgelegt. Aber erst in der Anwendung durch die Gerichte erhalten sie ihre deutlichere Gestalt. Gesetzesanwendung ist demzufolge keine bloße Schlussfolgerung, sondern darüber hinaus Ausbildung von Wertungen, die das Gesetz präzisieren. Da man aber mit unterschiedlichen Gründen unterschiedlich werten kann, gibt es für einen Konflikt fast nie nur eine richtige Lösung, soweit das Gesetz für unterschiedliche Ausdeutungen Raum lässt.

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