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6. Zwingende und nachgiebige Vorschriften (ius cogens – ius dispositivum)

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Bei einigen Vorschriften des Gesetzes ist angemerkt, dass die getroffene Regelung nicht durch Rechtsgeschäft abbedungen oder abgeändert werden kann oder dass entgegenstehende Vereinbarungen unwirksam sind (zB § 619). Bei den meisten Paragraphen des BGB findet sich ein solcher Zusatz indessen nicht. Daraus kann man erkennen, dass die Vorschriften des BGB und der anderen Zivilrechtsgesetze einen unterschiedlichen Geltungsanspruch erheben. Sie sind

entweder zwingend in dem Sinne, dass die Regelung durch Vereinbarung der Beteiligten nicht ausgeschaltet oder verändert werden kann,
oder nachgiebig (dispositiv); dann kann ihre Geltung für ein bestimmtes Rechtsverhältnis durch Vereinbarung unter den Beteiligten ausgeschlossen oder verändert werden.

In weitem Umfang haben die Vorschriften des BGB dispositiven Charakter, weil unserem Zivilrecht das Prinzip der Vertragsfreiheit zugrunde liegt (Rn 415). Diese Freiheit besteht indes nur bis zu einer bestimmten Grenze, welche durch die zwingenden Vorschriften abgesteckt wird.

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Man könnte fragen, ob sich das Gesetz nicht überhaupt auf zwingende Normen beschränken und alles Übrige den Vereinbarungen überlassen sollte. Das wäre aber nicht zweckmäßig. Die Vereinbarungen der Parteien sind häufig unvollständig, dh sie beziehen sich nicht auf alle Konflikte, die im vertraglich geregelten Rechtsverhältnis entstehen können. Die Vertragsparteien denken gewöhnlich an eine ordnungsgemäße Durchführung ihrer Vereinbarungen, nicht aber an Vertragsverletzungen oder an einen Streit über den Vertragsinhalt. Wer ein Buch kauft, denkt nicht daran, in dem gekauften Exemplar könnten 20 Seiten fehlen; er denkt daher auch nicht daran, für diesen Fall eine Vereinbarung mit dem Verkäufer zu treffen. Hinzu kommt, dass Leistungshindernisse in einem Schuldverhältnis eine juristisch komplizierte Materie bilden, in der sich juristische Laien gewöhnlich nicht auskennen. Die Störungen in einem Rechtsverhältnis können zudem so vielgestaltig sein, dass selbst juristisch ausgebildete Vertragspartner oft nicht an alle Möglichkeiten denken. Deshalb springt das Gesetz mit seinen nachgiebigen Vorschriften ein und bietet den Parteien ein Modell der Konfliktlösung an. Dieses Modell ist dann verbindlich, wenn und soweit die Parteien nicht ein anderes vereinbaren.

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Ist eine gesetzliche Vorschrift für einen Streitfall einschlägig, haben die Parteien aber etwas davon Abweichendes vereinbart, so hängt die Rechtslage davon ab, ob die Vorschrift zwingend ist oder nicht. Diese Frage zu entscheiden, ist oft nicht leicht. Indem das Gesetz den zwingenden Charakter bei einigen Normen ausdrücklich anmerkt, erklärt es nicht etwa alle anderen für dispositiv. Der zwingende Geltungsanspruch kann sich vielmehr auch aus dem Zweck der Vorschrift ergeben. Die Prüfung, ob eine gesetzliche Vorschrift zwingend oder dispositiv ist, erfolgt also in zwei Schritten:

Zunächst ist festzustellen, ob die zwingende Natur vom Gesetz selbst ausdrücklich angeordnet ist.
Wenn dies nicht der Fall ist, so ist zu prüfen, ob der Normzweck den zwingenden Charakter erfordert. Wird auch dies verneint, so ist die Norm dispositiv.

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Für die zwingende Natur einer Norm sprechen folgende Gesichtspunkte:

(1) Zwingend sind Vorschriften, die für die Rechtswirksamkeit einer Handlung eine bestimmte Form vorschreiben (Beispiel § 311b I iVm § 125 – Grundstücksgeschäfte). Das Formerfordernis dient dem Schutz der Beteiligten oder der Transparenz des rechtlichen Vorgangs für andere, die davon betroffen werden könnten.

(2) Zwingend sind Vorschriften, deren Sinn es gerade ist, die Vertragsfreiheit zu begrenzen, wie zB § 138 oder § 134.

(3) Zwingend sind die fundamentalen Vorschriften über die allgemeine Rechtsstellung einer Person. So kann niemand durch Vereinbarung seine Rechtsfähigkeit (§ 1) aufgeben. Durch Vereinbarung kann auch nicht die Altersgrenze für die Volljährigkeit (§ 2) verändert werden.

(4) Zwingend sind Vorschriften, die sich als Gewährung eines Mindestschutzes für den schwächeren oder eher gefährdeten Partner eines Rechtsverhältnisses begreifen lassen. Oft ist der zwingende Charakter in diesem Fall einseitig: Von der Rechtsnorm kann nicht zu Lasten, wohl aber zu Gunsten des schutzbedürftigen Teils abgewichen werden (ausdrückliche Bestimmungen dieser Art vor allem im Wohnungsmiet- und im Verbraucherschutzrecht, zB §§ 487, 563 V, 651m).

(5) Zwingend sind vielfach Vorschriften über die instrumentale Ausgestaltung von Rechten und Pflichten, insbesondere der mit räumlich-gegenständlichen Bestimmungsbefugnissen ausgestatteten Rechte an Gegenständen der Körperwelt (= Sachen, § 90). Auch bei Geltung der Vertragsfreiheit muss die Rechtsordnung ein in sich verständliches System bleiben, das möglichst klare Begriffe und Gestaltformen der Rechtsverhältnisse entwickelt. Das ist vielfach nur möglich, wenn die Ausgestaltung der möglichen Rechtsbeziehungen durch verbindliche Zuordnungstypen erfolgt. Daher sind zB die Strukturen und die Erwerbsgründe des Eigentums und anderer Sachenrechte zwingend geregelt. Hingegen haben die Regelungen der im besonderen Teil des Schuldrechts (§§ 433 ff) normierten Schuldvertragstypen in der Regel einen dispositiven Charakter.

Literatur:

F. Möslein, Dispositives Recht. Zwecke, Strukturen und Methoden, 2011.

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