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2. Zur Langlebigkeit der Zivilgesetzbücher

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Die Langzeitstrukturen des Zivilrechts erklären das hohe Alter der heute noch einschlägigen Zivilgesetzbücher. Der französische Code Civil gilt seit 1804, das österreichische ABGB seit 1811, natürlich mit einigen im Laufe der Zeit vorgenommenen Änderungen. Das BGB stand seit dem 1.1.1900 über 100 Jahre lang größtenteils unverändert in Geltung, sieht man von dem besonders labilen Familienrecht einmal ab. Erst das „Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts“ vom 26.11.2001 veränderte ein Kernstück des BGB grundlegend.

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Jedenfalls ist erstaunlich, dass das BGB, ein Produkt des zweiten deutschen Kaiserreichs, auch in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, bis 1.1.1976 auch in der DDR und schließlich in der Bundesrepublik gegolten hat. Wie soll ein Zivilgesetzbuch in so verschiedenen Gesellschaften anwendbar gewesen sein? Grund dafür ist unter anderem, dass das rechtstechnische Instrumentarium insofern politisch neutral ist, als es für beliebige Konfliktlösungen und Wertungen eingesetzt werden kann. Dabei ist folgendes entscheidend geworden: Bereits im römischen Reich der Antike ist eine großartige Rechtswissenschaft entstanden, welche die Ausbildung der zivilrechtlichen Begriffe und Rechtsfiguren so weit vorangetrieben hat, dass die folgenden Zeiten geistig davon leben konnten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellte sich die Zivilrechtswissenschaft überwiegend als Wissenschaft vom römischen Recht dar, deren Begriffe und Rechtstechniken sie fortführte, weiter entfaltete und ausfeilte. Dieses von der Rechtswissenschaft geschaffene Instrumentarium erweist sich als fähig, unterschiedlichen sozialen Ordnungen zu dienen.

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Auf der genannten Tradition des Zivilrechts beruht es auch, dass man zu der Zeit, als die großen Gesetzbücher geschaffen wurden, regelmäßig nicht den Versuch eines Gesamtgesetzbuchs gemacht hat, in dem Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Strafrecht und Zivilrecht vereinigt und in ihren gegenseitigen Bezügen erkennbar gewesen wären (anders nur das preußische Allgemeine Landrecht von 1794). Vielmehr wurden gesonderte Zivilgesetzbücher ausgearbeitet, die vom öffentlichen Recht und dem konkreten politischen Zustand des Gemeinwesens abstrahieren und so der Anpassung an politische Veränderungen in besonderem Maß fähig sind. Eine derart „abstrakte“ Zivilrechtsordnung legt zB keineswegs erschöpfend fest, welche Verträge verboten sind; sie überlässt dies dem öffentlichen Recht und regelt nur die zivilrechtlichen Folgen für den Fall, dass ein Vertrag verbotswidrig abgeschlossen wird (§ 134 BGB). Will man also wissen, welche Verträge erlaubt sind, so wird man aus dem Zivilgesetzbuch verhältnismäßig wenig erfahren. Gerade die Ausschaltung des unsteten öffentlichen Rechts bedingt die Langlebigkeit der Zivilgesetzbücher durch die Zeiten hindurch.

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Ihre Langlebigkeit bezahlen die Zivilgesetzbücher freilich mit einem wachsenden Substanzverlust. Je weiter sich ein Gesetzbuch von den Bedingungen seiner Entstehungszeit entfernt, je rascher sich die Verhältnisse wandeln, auf die es angewendet werden soll, desto mehr sind Gerichtsbarkeit und Wissenschaft gezwungen, die gesetzlichen Normen durch Interpretation umzugestalten. Das Gewicht der „Gesetzesanwender“ steigt dann gegenüber der Autorität des Gesetzes. Unter diesem Aspekt führen Gesetzesreformen den Gesetzbüchern wieder neue Autorität und Kraft zu – auch hier gilt es, eine kluge Linie zwischen Kontinuität und Gesetzesänderung zu wahren.

Einführung in das Zivilrecht

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