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Esti, denk nicht an früher, denk an das, was auf dich zukommt. Ich sollte mein Sparbuch auflösen, so schnell wie möglich. 10.000 Euro sind darauf gebucht, ich brauche das Geld dringend. Ich laufe zum Postamt. Die Halle ist voll mit wartenden Menschen. Die Angestellten bewegen sich wie in Zeitlupe.

Endlich bin ich an der Reihe. Bitte, ich möchte alle meine Ersparnisse ausbezahlt bekommen. Die Frau am Schalter schaut mich mit einem seltsamen Blick an, sie sagt, sie wisse nicht, ob genug Bares in der Kassa wäre. Warum behauptet sie das? Hat die Polizei bereits die Banken alarmiert? Umständlich kramt sie in ihren Laden herum. Endlich gibt sie mir die Scheine. Zehn Bündel zu jeweils zehn Hundertern. Ich stopfe sie in ein Seitenfach meiner Handtasche. Ich bebe vor Nervosität, ich bilde mir ein, dass mich alle Leute in dem Raum anstarren.

Nein, das darf nicht wahr sein. Ich habe keinen Pass dabei. Weder meinen mexikanischen, noch meinen spanischen. Sie liegen daheim, bei meinen anderen Dokumenten. Warum habe ich Daniela nicht gesagt, dass sie mir meine Papiere mitbringen soll? Wie konnte ich nur darauf vergessen? Jetzt ist sie nicht mehr in meiner Wohnung, und ich selbst traue mich nicht mehr dorthin. Da sind sicherlich auch schon Polizisten.

Danke, Gott. Ich sehe in einem Auto Sascha, einen meiner Stammkunden. Ich deute ihm, anzuhalten. Die Polizei sucht mich wegen eines Blödsinns, den Manfred gemacht hat, erkläre ich ihm schnell, ich brauche dringend meine Pässe, sie sind in einem Kästchen bei mir zuhause. Bitte, hol sie für mich. Er lässt mich in seinen Wagen einsteigen, fährt in die Nähe meiner Wohnung und parkt in einer Seitengasse. Wir sehen einander stumm an. Ahnt er die Wahrheit?

Sascha zieht den Autoschlüssel nicht ab. Wenn ich in 15 Minuten nicht da bin, sagt er, dann fahr los. Ich spüre, das Ganze ist verrückt. Ich bräuchte jemanden, der mir sagt, was ich tun soll. Die Zeit läuft, und die Blockade in meinem Kopf wird immer größer. Wozu brauche ich meine Pässe, wenn die Fahnder sowieso schon meinen Namen wissen? Kann ich Sascha trauen?

Wir mochten einander, vom ersten Moment an. Seit er vor sechs Jahren zu mir ins Geschäft kam, einen Eisbecher bestellte und wir, während er ihn langsam auslöffelte, zu plaudern anfingen. Wir redeten damals über nichts Besonderes, genauso wenig wie bei seinen vielen weiteren Besuchen im Lokal. Aber irgendwie fühlte ich mich immer wohl in seiner Nähe.

Sascha ist jünger als ich, Mitte zwanzig, 1,80 groß, sehr schlank, Kopf komplett rasiert. Er hat blaue Augen, markante Gesichtszüge, einen scharfen Verstand und einen speziellen Humor. Ich liebte es immer, mich mit ihm zu unterhalten. Ich bin mir sicher, dass er Tabletten nimmt, nicht ständig und nicht im Übermaß, aber seine Sucht ist ihm anzusehen. Sensible Menschen wie er geraten oft in diese Falle.

Als Manfred und ich vor vier Jahren, ich war noch mit Holger verheiratet, eine geheime Affäre anfingen, sah er uns einmal zusammen in einem Gastgarten sitzen. Sascha wusste sofort Bescheid. Meine Blicke hätten mich verraten, erzählte er mir später. Er sprach nie zu irgendjemandem über mein Verhältnis mit Manfred. Das rechne ich ihm bis heute hoch an.

Sascha ist okay, rede ich mir ein. Er hat einen guten Charakter. Ich hoffe, ich täusche mich nicht in ihm. Denn ich habe mich ja schon so oft in Männern getäuscht.

Meinen ersten Freund lernte ich mit 17 kennen. Er war zwei Jahre älter als ich, hatte brünette Haare, wunderschöne braune Augen, eine tolle Figur. Ich verliebte mich in ihn sofort, als ich ihn in einem Restaurant am Strand von Barcelona kennenlernte. Jahrelang war ich mit ihm zusammen.

Ich hätte schon von Beginn unserer Beziehung an begreifen müssen, dass er mich nicht liebte. Weil er sich weigerte, mich seiner Familie vorzustellen. Weil er mich nur zu sich nachhause mitnahm, wenn niemand da war. Weil er lieber auf Partys ging, als mit mir alleine Zeit zu verbringen.

Doch ich übersah alle Warnsignale und gab mich meinen Träumen hin. In meiner Vorstellung blieb mein Freund ein Mann, der es ernst mit mir meinte, der mich nach Abschluss meines Studiums heiraten und Kinder mit mir haben würde.

Dann stand ich da, mit meinem Diplom in der Hand, und ich sagte zu ihm, dass unsere Zukunft jetzt beginnen könne. Er verstand nicht, wovon ich sprach. Ich erklärte ihm, was passieren sollte. Ich redete von einer Hochzeit in Weiß und davon, dass wir uns schnell eine eigene kleine Bleibe suchen sollten. Davon, dass es nun an der Zeit wäre, seine Familie kennenzulernen und dass meine Eltern ihn sicherlich als Schwiegersohn akzeptieren würden. Esti, da hast du aber gehörig etwas missverstanden, meinte er, und machte mit mir Schluss.

Mein Vater und meine Mutter hatten leider Recht behalten. Sie hatten viel früher als ich begriffen, dass mein Freund nie an einer ernsthaften Verbindung mit mir interessiert war. Weil er aus einer besseren sozialen Schicht als ich stammte und das Leben nur als ein einziges großes Spiel sah. Aber ich hatte ihre Überzeugungsversuche abgewehrt, so lange Zeit, und mich weiter meinen Illusionen hingegeben. Bis ich die Rechnung präsentiert bekam.

Nach dem Ende der Beziehung fiel ich in ein tiefes seelisches Loch. Ich konnte kaum noch schlafen oder essen, ich verlor mich total. Da passierte es zum ersten Mal in meinem Leben. Etwas Fremdes, etwas Böses übernahm die Kontrolle über mich. Es war, als würde ein Regisseur in meinem Gehirn Platz nehmen und damit beginnen, meine Gedanken zu steuern.

Ich überlegte, meinen Ex-Freund umzubringen, die Bremsschläuche seines Autos oder die Therme in seiner Wohnung zu manipulieren. Immer, wenn ich solche Ideen hatte, war es, als würde ich in meinem eigenen Auto am Beifahrersitz angeschnallt sitzen, während jemand anderer den Wagen lenkte. Letztendlich schaffte ich es, einen Fuß aufs Bremspedal zu setzen und es ganz fest durchzudrücken. Ich tat meinem Ex-Freund nichts an. Es gelang mir, meine Vernichtungsfantasien zu bezwingen. Und ich war froh, als meine Eltern mich fragten: Esti, willst du den Sommer in Deutschland verbringen und dort bei einer Gastfamilie als Au-Pair-Mädchen arbeiten? Du weißt, wir haben Freunde in Bayern, sie würden dich mit offenen Armen empfangen. Meine Familie hatte offensichtlich begriffen, dass ich Ablenkung brauchte. Ja, natürlich möchte ich für eine Weile weg aus Spanien. Wann geht der nächste Flug nach München?

Meine zwei Leben

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