Читать книгу Meine zwei Leben - Martina Prewein - Страница 7
1
ОглавлениеEs ist der 25. Mai 2011. Ich habe einen Termin bei meinem Gynäkologen. Pünktlich um zehn Uhr morgens treffe ich in seiner Ordination auf der Meidlinger Hauptstraße ein. Ich melde mich bei der Sprechstundenhilfe an und nehme im Wartezimmer Platz. Ich bin völlig ruhig, nicht aufgeregt, nicht angespannt. Es soll ja bloß eine Routinekontrolle sein. Harnabgabe, Abstrich, Ultraschall.
Ich blättere Klatschzeitschriften durch, ein Artikel über das englische Königshaus interessiert mich besonders. Noch bevor ich den Bericht über Prinzessin Kate bis zum Ende durchlesen kann, werde ich aufgerufen. Ich mache in einer Kabine meinen Unterkörper frei, setze mich auf den Behandlungsstuhl. Die Untersuchung beginnt. Nichts ist anders als schon dutzende Male davor. Und jetzt, wie aus dem Nichts, dieser Satz: Frau Carranza, Sie sind schwanger.
Ja, schon, irgendwie hatte ich in den Tagen davor gespürt, dass etwas anders sein, dass mein Wunsch, Mutter zu werden, endlich in Erfüllung gehen könnte. Aber wirklich geglaubt hatte ich daran nicht. Oder doch?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ich kann kaum noch klar denken. Ich sitze da, in dem Zimmer mit den weißen Wänden, und fühle mich wie in Watte. Der Frauenarzt redet und redet, ich schaffe es kaum, seinen Worten zu folgen. Frau Carranza, Sie sind schwanger. Ich fühle mich wie in einem Rausch. Ist es wahr? Werde ich wirklich ein Baby bekommen?
Seit ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ich von nichts anderem geträumt, mir tausende Male ausgemalt, wie es wäre, Mutter zu sein. Meine Puppen, meine vielen Puppen, ich versorgte sie, als wären sie meine Kinder. Ich habe sie gewickelt, umgezogen, ihnen Fläschchen an den Mund gehalten, sie in Wiegen gelegt und geschaukelt. Ein Teil meines Zimmers, damals, in Mexiko, in dem Staat, in dem ich geboren wurde, gehörte nur ihnen. Bis diese bösartigen Männer in Uniformen in unser Haus eindrangen, mit Waffen in den Händen, und mir meine Babys wegnahmen, auf ihnen herumtrampelten, bis ihre Köpfe kaputtgingen.
Die Erinnerungen an diesen Tag sind mit einem Mal so stark. Tränen schießen in meine Augen. Ich spüre die schützenden Hände meiner Mutter, sie sagt, dass ich mich nicht fürchten muss und dass alles gut wird. Die Typen sind nach ihrer Zerstörungsaktion auch ziemlich schnell abgezogen. Erzählen Sie Ihrem Mann genau, was heute passiert ist, sagten sie meiner Mutter zum Abschied.
Nach diesem Überfall wurde vieles besser. Endlich sah mein Vater ein, dass wir nicht länger in unserer Heimat bleiben konnten, dass er sich dort als regimekritischer Journalist Feinde, zu mächtige und zu gefährliche Feinde gemacht hatte.
Ich war fünf, als wir nach Spanien auswanderten. Dort hatten wir nicht mehr um unser Leben zu fürchten. Dafür gab es neue Probleme. Meine Eltern mussten bei null anfangen. Finanziell ging es ihnen schlecht. Wir lebten nun nicht mehr in einem Haus mit vielen Zimmern und einem riesigen Garten, sondern in einer winzigen Wohnung in Barcelona.
Mein Vater arbeitete Tag und Nacht als freier Redakteur, von zuhause aus, doch kaum noch an den großen politischen Storys. Die Chefs von Frauenzeitschriften und Esoterikmagazinen waren jetzt seine Auftraggeber. Er musste jeden Auftrag annehmen, den er kriegen konnte. Die Stimmung war deshalb meistens nicht gut daheim. Er verlangte absolute Ruhe, wenn er schrieb, an Geschichten, die ihn eigentlich nicht interessierten und für ihn eine Plage waren. Ich gewöhnte mich rasch daran, still zu sein und in Fantasiewelten zu flüchten.
Mit sieben bekam ich einen Bruder. Es machte mir Spaß, ihn zu füttern, mit ihm zu spielen, ihn im Kinderwagen spazieren zu fahren. Von da an wollte ich mich nicht mehr mit meinen Puppen beschäftigen, sie waren ja in Wahrheit seelenlos. Er war ein kleiner Mensch, der echte Bedürfnisse hatte. Es tat mir gut, ihn umsorgen zu dürfen, ihn in meinen Armen zu halten, ihn zu liebkosen, für ihn Brei oder Kompott zuzubereiten.
Ich war ungefähr zehn, als ich meine Eltern fragte: Wann, glaubt ihr, bin ich alt genug, um zu heiraten und Babys zu bekommen? Noch lange nicht, sagten sie. Esti, du bist intelligent, du bist eine Vorzugsschülerin, du wirst einmal Karriere machen und erst danach darfst du über eine Familiengründung nachdenken. Ich habe mich ihren Wünschen gefügt, nach der Matura in Rekordzeit ein Wirtschaftsstudium durchgezogen, die Erfüllung meiner Wünsche auf später verschoben. Nur, das Später wurde immer nur noch später.
Jetzt bin ich im Später angekommen. Mit 32. Frau Carranza, Sie sind schwanger. Ich verstehe mich nicht. Warum schreie ich nicht vor Freude? Warum weine ich nicht vor Glück? Warum kann ich den Moment nicht genießen? Wieso ist er nicht so, wie ich ihn in Gedanken durchgespielt habe, so oft schon? Alles ist viel zu schnell passiert. Die Untersuchung. Die Urinabgabe. Der Test. Gleich zwei blaue Streifen, dann eine Blutabnahme und die Anweisung, am Montag wiederzukommen.
Benebelt gehe ich durch den Warteraum zum Ausgang der Praxis. Ich stoße mit einer Frau zusammen, mit noch einer. Ich höre lautes Kindergeschrei. Ein Mann hält mir die Türe auf, er versucht, mit mir zu flirten. Ich will nur noch weg von hier. Alles ist so hektisch.
Endlich bin ich draußen aus der Ordination. Ich fühle mich schwindelig, muss mich kurz auf eine Bank setzen. Fünfzig Meter entfernt hat eine Bekannte, eine Polin, ein Gasthaus, ich möchte jetzt schnell dorthin.
Hallo, sage ich zu ihr, als ich in dem Lokal ankomme. Ich bin nicht fähig, mehr von mir zu geben. Still setze ich mich an die Theke. Ich sollte eine Bestellung aufgeben. Bitte ein Redbull. Nein, doch einen Gespritzten. Nein, einen Espresso. Auch nicht. Ein Soda-Zitron, bitte mit frischer Zitrone. Frau Carranza, Sie sind schwanger.
Ein junger Mann mit blondem Haar betritt das Wirtshaus, er geht zu der Polin und küsst sie auf beide Wangen. Dein Sohn? Ja. In dieser Sekunde weiß ich, dass ich einen Buben erwarte. Endlich beginne ich zu begreifen. Mein Kleines ist schon in mir. Ab jetzt werde ich dich mit meinem Leben beschützen, mein Chiquitin.