Читать книгу Meine zwei Leben - Martina Prewein - Страница 20
8
ОглавлениеIch bin am Westbahnhof angekommen. Ich gehe in die riesige Halle, kaufe im erstbesten Geschäft eine Mozzarella-Tomaten-Ciabatta und eine Flasche stilles Mineralwasser. Ich esse und trinke schnell, nehme eine Vitamintablette für Schwangere. Am Infostand erkundige ich mich nach Zügen ins Ausland. Alle fahren von Meidling ab. Aber genau dorthin darf ich auf keinen Fall. Da kenne ich so viele Leute, da ist mein Eissalon, da ist meine Wohnung, da ist die Polizei.
Wohin soll ich? Bevor ich darüber nachdenke, muss ich dringend mein Aussehen verändern. Ich gehe die wenigen Meter vom Westbahnhof zur inneren Mariahilferstraße, ich kaufe in einem Geschäft eine große, dunkle Brille. Beim Bezahlen zittern meine Hände, der Optiker schaut mich mit prüfendem Blick an. Warum schaffe ich es nicht, mich unauffällig zu benehmen?
Mit den Sonnenbrillen, die beinahe mein halbes Gesicht bedecken, fühle ich mich ein wenig sicherer, ich wage mich sogar in ein Einkaufszentrum. Minirock und Stöckelschuhe sind keine geeignete Kleidung für eine Flucht. Ich probiere eine schwarze Cargo, Größe 34, an. Sie passt. Nein, ich nehme lieber eine 36. Denn ich werde bald zunehmen. Ich bin schwanger. Ich ziehe die viel zu weite Hose über, ich bitte die Verkäuferin, das Etikett rauszuschneiden. Jetzt brauche ich noch dringend bequeme Schuhe, ich entscheide mich für dunkle Wildleder-Sneakers. Ich lasse sie ebenfalls gleich an.
Es ist fast 17 Uhr und ich bin immer noch in Wien. Esti, das geht gar nicht. Esti, du musst endlich eine Entscheidung treffen. Wieder setze ich mich in ein Taxi. Nach Erdberg, zum Busbahnhof.
Der Fahrer hat das Radio an. Die Nachrichten beginnen. Erstmeldung: In einem Keller in Wien-Meidling wurden bei Bauarbeiten zwei zerstückelte Männerleichen gefunden. Ich höre nicht, was der Sprecher sonst noch sagt. Alles um mich dreht sich. Ich glaube, ich werde verrückt.
In Erdberg erkundige ich mich nach dem nächsten Bus raus aus Österreich. Hat der Kundenbetreuer die Nachrichten gehört? Was wurde im Radio noch gesagt? Dass nach einer Frau, die mit mexikanischen Papieren unterwegs ist, gefahndet wird? Der nächste Bus fährt nach Ungarn. Und der übernächste? Nach Rumänien. Und die anderen? Alle gehen nach Osteuropa. Okay, ein Ticket nach Ungarn. Ihren Pass, bitte. Wie? Ich habe meinen Pass nicht dabei. Dann können Sie den Bus nicht nehmen, an der Grenze wird es eine Ausweiskontrolle geben.
Ich setze mich wieder in ein Taxi, wieder entsteht ein neuer Plan in meinem Gehirn. Ich habe meinen Bus nach Villach verpasst und muss noch heute dorthin, erzähle ich dem Fahrer. Das wird teuer. Wie viel? Er denkt nach. Im Radio laufen abermals die Nachrichten. Nein, bitte hör nicht hin. Na komm, mein Chauffeur, plaudere mit mir.
Natürlich, die erste Meldung handelt vom Leichenfund in Meidling. Ich bete zu Gott, dass ich in dem Bericht nicht erwähnt werde. Der Taxifahrer dreht leiser, er greift nach seinem Handy und telefoniert in türkischer Sprache. Ich verstehe ihn nicht. Mit wem redet er, was sagt er?
Ich muss nach Kärnten, das ist die einzige Chance. Von dort ist es nicht weit nach Italien. Dort wird es nicht schwierig sein, unterzutauchen. Ich kann die Sprache, ich bin oft dort gewesen. Mit Manfred. Bei Eismessen, bei Eisseminaren, um einen Bio-Eis-Salon zu besichtigen. Eis, Eis, Eis. Eis herzustellen, war meine Leidenschaft, mein Lokal mein Baby – mein Kindersatz.