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Mein Adretter Blauer Stuhl

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Morgen

Ich nehme an, dass es nicht einmal in meinem innersten Selbst wirklich etwas Besonderes gibt unter all dem, was ich zusammengrübele, erfahre und fühle.

Meine einziges entscheidendes »Anderssein« ist, dass ich es finde und niederschreibe.

Mit achtzehn allerdings glaubte ich – diese dreifach-feurigen Heranwachsendenaugenblicke –, dass allein ich litte, dass allein ich schmerzerfüllt im Nebel tasten würde, dass allein ich die neu blühenden Lebensblütenblätter unerträglich süß und bitter auf den Lippen schmecken würde.

Die Ichzentriertheit der Jugend ist gnadenlos, maßlos, unendlich verletzlich. Das Jungsein spielt auf sich selbst, wie man auf einem kleinen Hackbrett spielt, die Melodie denkbar lieblich, doch verbunden mit einem rohen, grausamen Draufgängertum, das an den Saiten reißt, bis sie springen.

Dieses Stadium der Selbstzentriertheit habe ich hinter mir gelassen. Ich bin in ein wilderes, gesetzloseres Stadium geraten, das weitsichtiger ist, wenn auch kaum so visionär.

Während ich in diesem mitternächtlichen Butte-Montana auf einem Adretten Blauen Stuhl sitze, sitzen vermutlich zahllose andere, mir seelenverwandte Frauen einsam auf einem adretten roten, adretten grauen oder adretten wie-auch-immer-farbigen Stuhl – in Wichita-Kansas und South Bend-Indiana und Red Wing-Minnesota und Portland-Maine und Rochester-New York und Waco-Texas und La Crosse-Wisconsin und Bowling Green-Kentucky; und jede fühlt sich in einem falschen Winkel abgesetzt, gefangen in einem Netz aus kleinen, schalen Widersprüchen; jede hat gewartet, wartet, wird warten, wartet ständig – wartet ihr ganzes Leben lang –, nicht hoffnungsvoll und leidenschaftlich wie mit Achtzehn, sondern geduldig oder blasphemisch oder zornig oder vulkanisch wie mit Anfang-Dreißig – der Dauerwartezustand verleiht einer jeden die Charaktereigenschaft, umfassend, anregend und nährend zu sein – und zusammen mit ihr das seit langem gewohnte Gefühl, dass ihr eine dünne helle Schneide tief in die Brust gestoßen ist; wobei jede Waco-Texas und Portland-Maine und Red Wing-Minnesota und die anderen Orte rundweg verabscheut; und jede gequält von einem heißen unruhigen Menschsein in ihrem Inneren, einem alten Verlangen nach Sex, wobei das Blut in einem ewigen Streit mit einer Myriade peinlich genauer Grundsätze aus der Morgendämmerung der Zivilisation liegt.

Obgleich ich von dieser Gemütsart bin, bekämpfen sich in mir keinerlei kleine Grundsätze.

Ganz so, als hätten mich ein Prälat und eine Waldnymphe gezeugt: sie versahen mich mit einem lächerlich schmerzlichen Gewissen und mit keiner der Traditionen der Gattung Mensch.

Keinerlei angeborene Herkömmlichkeit schränkt mich ein, ich bin frei wie eine Wildkatze auf einem dämmrigen Hügel. Gerade so wie ich hier sitze und vollkommen ruhig aussehe in meinem einfachen schwarzen Kleid: frei davon. Die kraftvoll männlichen, schottisch-kanadischen Locken sind gekämmt und aus meinem Haar herausgebürstet, damit es schön glatt und unauffällig meine Ohren und meine Stirn bedeckt. Meine Nägel sind rosa poliert, spitz gefeilt. Meine engstehenden schwarzen Augenbrauen wirken in ihrer heiteren Gelassenheit fast wie die einer Patrizierin. Meine Lippen sind reglos traurig. Meine Lider senken sich, als wäre ich ein saugendes Täubchen.9 Aber meine grauen Augen unter den Lidern – hebe ich sie zum Spiegel, blickt mir der Kern meines Wesens aus ihnen entgegen, ermüdend lebendig. Er scheint aus Trägheit, Rohheit und Verzweiflung zu bestehen; zudem aus einem vagen Schuldgefühl, Elementen eines reinen zerstörerischen heidnischen Glaubens und aus Lust; sowie einem grellen Bewusstsein der alltäglichsten Dinge, einer vor sich hin glühenden Melancholie und einer flammenden Hassliebe zum Leben.

Meine grauen Augen überstarren die der Wildkatze auf dem dämmrigen Hügel.

Aber soweit die Sitzerei betroffen ist, sitze ich hier in meinem Adretten Blauen Stuhl, eben jenem, in dem sie alle sitzen, egal von welcher Farbe er ist, in ihren Wichitas und ihren La Crosses.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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