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Die Harfe mit Verschlissenen Saiten

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Morgen

Hoffentlich ist meine Selbstbezogenheit nicht ungesäuert.

Hoffentlich ist meine Selbstbezogenheit einfühlsam, ergreifend und schwingend: eine Harfe mit Verschlissenen Saiten.

Diese überraschende Welt steckt voller unanalytisch denkender Personen mit ochsenäugigen Vorstellungen und dem geistigen Vermögen eines Hühnchens, deren Ichbezogenheit eine erstaunliche, undurchdringliche Rüstung darstellt: jene, die die Jungfrau von Orléans verbrannten: jene, die den Propheten von Nazareth kreuzigten: jene, die John Keats töteten.

Sie erben das Erdreich13, die Golden-Grüne Erde, aber kein einziges Mal sehen sie sie an.

Sie nehmen das Leben an, dieses berauschende Leben, aber fühlen nie mit eigenen Fingern, wie es beschaffen ist.

Sie pflücken eine Blaue Iris am Rand eines Sumpfes und lassen sie in ihren schweißigen Händen sterben oder auf den Boden fallen, während sie weitergehen, oder werfen sie weg, wenn die Blauen Blütenblätter herabhängen: ohne sie anzusehen, ihren Duft einzuatmen und sie zu kennen: ohne wahrzunehmen, wie das bebende Blau im Welken immer schöner wird.

Ihre Selbstbezogenheit ist von der dummen, fetten, geballt-grimmigen Art eines Kaisers oder Kleinkindes, dessen einziges metaphysisches Konzept besagt, dass er oder es lebt, am Leben bleiben wird und jedenfalls leben muss, selbst wenn alle um ihn herum bereits Tropfen um Tropfen verbluten.

Ich habe die meine analysiert, und sie sieht anders aus.

Wenn ich sage, dass ich bezaubernd bin oder falsch oder verachtenswert, dann weil ich weiß, dass dem so ist. Nicht, weil ich es behaupte, sondern weil ich die Probe darauf gemacht und es bewiesen habe. Ich fühle die Maserung meines Lebens mit den Fingerspitzen. All meine Sinne richte ich nach außen und lasse die alten Winde über sie hinweggehen – eisig, lind, rau, milde, sengend, erfrischend. Sie setzen mir zu, aber ich kenne diese Winde: Gesänge der See und der Sterne und der kleinen Kiesel erklingen in ihrem trüb-brausendem Geheul, und in dem weichen, stechenden Duft ihrer Flügel regt sich das Leben.

Kein einziger dichterischer oder mit Schönheit gefüllter Hauch erreicht mich, ohne dass ich dafür mit wehem Herzschlag bezahlte, mit der nervösen Angespanntheit meines Körpers, mit der Zerfransung und Zerschlagung meiner Seele. Falls etwas Schönes oder Poetisches sich leichthin einstellt und mir Freude bereitet statt Schmerz, weiß ich, dass ich es noch nicht ganz erfasst habe und es wiederkehren wird.

Es wird wiederkehren: mitsamt dem Schmerz.

Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.

Aus einem Kieselstein wird kein Diamant.

All dies lehrt mich, so dass fast nichts mehr zu wünschen übrigbleibt, das Spielen auf meiner Harfe mit den Verschlissenen Saiten.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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