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Mein-Alltag und morgen

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Morgen

Unbeteiligt lebe ich in diesem Spitzkegel-Butte4 und spiele nach außen die Rolle der Familientochter ohne Aufgaben.

Dieses Butte ist ein Ort, der nicht zu mir passt.

Keinen einzigen Menschen habe ich hier zum Freund, niemand entspricht mir. Und Die Natur hätte mich nicht mal in einer ihrer verblüffendsten Launen in die Rolle der Familientochter gesteckt. Drei Dinge haben mich in den letzten vier Jahren hier festgehalten: der Umstand, dass nichts von außerhalb nach mir verlangte; ein von der Familie ausgeübter Druck, fein wie eine kleine Nadelspitze, die einen sticht, kaum bewegt man sich; und dass es derzeit der Weg des geringsten Widerstandes ist, hierzubleiben.

So sind Frauen: Sie gehen den Weg des geringsten körperlichen Widerstandes, außer ein gewaltsamer Grund – wie Liebe oder Hass oder Eifersucht oder ein Baby oder verletzter Stolz oder die Sporen des Ehrgeizes – zwingt sie zu einer gewaltsamen Tat. Ich bin ihm in diesen Jahren äußerlich ruhig, innerlich wütend gefolgt – wütend auf eine matte Art, die mich fertigmacht.

Die Jahre, die Unterwerfung und die Wut setzen sich zu einer Stimmung zusammen, die mich einschließt, antreibt, verdammt und erhebt.

Sie ist voller Kraft, diese Stimmung, obwohl ich selbst nicht kräftig bin.

Diese Stimmung ist dieses Buch. –

Ich lebe ohne Moral. Ohne Moral, weil mein Leben auf tödliche Weise vergeblich ist. Alle die Gewebe meines Körpers, meiner Seele, meines Geistes und Herzens liegen brach, sie zerfallen, nutzen sich Minute um Minute ab, Stunde um Stunde, Tag um Tag: Nichts davon kehrt zu mir oder zu meinem Leben noch zu etwas Menschlichem oder Göttlichem zurück.

So kommt es, dass ich mich vor meinem Leben und mir selbst grause.

Ich weiß nicht so recht, warum.

Aber es würde sich ehrlicher anfühlen, eine unermüdliche Taschendiebin oder eine eifrige Dirne zu sein.

So vergeht Mein-Alltag: Morgens wache ich auf und liege lustlos ein paar Minuten mit schweren Lidern herum. Mein Blick fällt auf einen Riegel aus vergoldet blauem Morgenlicht, das sich blass zu dem einen Fenster hereindrückt, und auf ein Sonnendreieck aus schmelzendem Gold, das sich durch das andere Fenster auf der roten Ziegelwand unseres Nachbarhauses zeigt. Also sage ich »schon wieder ein Tag«, schiebe die Zudecke mit einem Fuß beiseite und schlüpfe aus meinem schmalen Bett, hinein in die blauen Pantoffeln, heraus aus einem dünnen Nachthemd und hinein in einen Frisier- oder Bademantel. Ich glätte ein zerzaustes Haar und drehe es ein, fasse es zusammen und stecke es mit ein paar Bernsteinnadeln hoch. Und ich trete in ein achtungsgebietendes, grüngraues Badezimmer, lasse Wasser einlaufen und setze mich hinein. Ich plansche in kurzlebigem, flüchtigem Seifenschaum, stelle mich unter einen plötzlichen, heldenhaft eisigen Wasserguss und trockne mich mit einem die Haut geißelnden Handtuch ab. Dann kehre ich in das blau-weiße Schlafzimmer zurück und ziehe mich an, dünne Frauenunterwäsche und ein Kleid wie für eine Nonne.

Ich schaue in meinen Spiegel. An manchen Tagen bin ich ein feingliedriges, hübsches Mädchen. An anderen Tagen eine vollkommen unscheinbare Frau.

Körperliche Anziehungskraft ist ein Ergebnis der Chemie des Gehirns.

Ich sage zu Mir im Spiegel: »Da sind ich-und-du ja wieder, Mary MacLane, und ein weiteres zehrendes vernichtendes Morgen.

Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,

Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag.«5

Dieser Morgen-Gedanke hat etwas beklemmend Dekadentes. Und Tag für Tag kommt der Morgen-Gedanke aus meinem Morgenspiegel gekrochen.

Ich verweile ein wenig bei ihm, bis meine grauen Augen, meine Lippen, meine Zähne und meine Stirn genug davon haben und ihm nichts mehr abgewinnen können.

Mit einem Ruck befördere ich die flache Muschel meines Haarschopfs auf die eine Seite der Stirn und wende mich ab. Tür und Fenster reiße ich weiter auf, damit ein paar Windstöße hindurchfegen. Und ich gehe hinunter. Es ist halb zehn oder halb elf. Ich trete in die saubere, leere Küche mit der tickenden Uhr und bereite mein Frühstück zu. Diese Aufgabe ist auf hungrige Weise erfreulich und angenehm. Ich mache ein fast schon britisches Frühstück mit Tee und Orangenmarmelade und kleinen Vierecken von Toast und rosa-braunen Streifen Schinkenspeck und zwei herrlichen Eiern. Bis zu dem Augenblick, in dem ich die Eier aufschlage, gleicht der Morgen auf uralte Weise jedem anderen Morgen. Aber Eier sind Mal um Mal, obwohl ich sie seit gut fünfundzwanzig Jahren jeden Tag esse, faszinierend neu.

Sie sind köstlich in meinem Frühstück. Ebenso wie die Toasteckchen, die Speckstreifen, der Tee und die Marmelade. Wenn ich mit ihnen fertig bin, lege ich meine Serviette neben meine Tasse, zünde eine Zigarette an, ziehe ein- oder zweimal an ihr und werde mir in aller Zufriedenheit dessen bewusst, dass mein Gehirn sich zusammen mit dem Frühstück in einen süßen Ruhezustand begeben hat. Solange mein Gehirn sich in meinem Kopf befindet, analysiert es mir noch das letzte Quäntchen Seele aus dem Körper, den Glanz aus den grauen Augen, die Würze aus dem Leben, den menschlichen Geschmack von der Zunge. Dieser Nach-Frühstücks-Augenblick ist der einzige friedliche Augenblick, der mir an meinem Tag und in meinem Leben vergönnt ist.

Nachdem ich die Zigarette geraucht und Teile der Zeitung gelesen habe, beweise ich, wie durch und durch bürgerlich ich bin, indem ich daran denke, mein Frühstücksgeschirr zu waschen.

Genau, bürgerlich, von der Seele bis in die Zehenspitze. Man sieht mir das aufs Erste nicht an – Geschmack und Ehrgeiz flitzen ja nur in verstümmelter Form und in weiten Kreisen um einen Menschen herum. Aber die Neigung, das Geschirr abzuspülen, nachdem man es zum Frühstück verwendet hat, fühlt sich eindeutig und angenehm bürgerlich an. Was nicht heißt, dass ich immer abwasche, aber immer denke ich daran und bin geneigt, es zu tun.

An einem Sommertag sitze ich mittags auf der vorderen Veranda im Schatten und schaue in die Weite nach Süden auf die blauen Highlands mit ihren ewigen Schneegipfeln: oder nach Osten auf die nahe, hoch aufragende, großartig grimme Wand der ausgedörrten Rockies, die unser Spitzkegel-Butte von New York trennt, von London – von den Schlössern Spaniens – den Pyramiden – von der Insel Lesbos: oder nach Südwesten über Hausdächer hinweg auf ein paar Ausläufer des Gebirges, über denen ein Feenschleier hängt, für den man einen Klumpen Gold und eine Aprikose miteinander verschmolzen und dünn ausgestrichen hat.

Ruhelos kehre ich ins Haus zurück und gehe in mein Zimmer. Ich bringe es in Ordnung – reine, reine makellose Ordnung. Ein ausgeprägter Teil von mir stammt von einem mutwilligen Geschöpf ab – einer Mänade,6 einer geistigen Amazone, einem weiblichen Kobold. Aber er hat eine Gegenspielerin – die Charakterzüge einer Jungfer aus Neu-England, der man mit Stahl bestimmte, grausam ordentliche Gewohnheiten angenietet hat. Ein loser Faden auf meinem blauen Teppich tut weh, tut mir weh, bis ich ihn aufhebe. Staub in meinem Zimmer fügt mir einen nervösen Schmerz zu, eine erbärmliche bohrende Betrübnis-aller-Sinne, bis ich ihn entfernt habe. Und mein züchtig aussehendes Bett – nachdem ich seine genoppte Matratze umgedreht und es ›gemacht‹ habe – glatt und weiß und frisch und weich –, wie würde jede Faser in mir sich winden, falls jemand es wagte, sich daraufzusetzen. Doch niemand setzt sich darauf. Und ich für meinen Part würde eher einen Teil meines Körpers an einen Soldaten vom Balkan verkaufen, für vier Groschen, als auch nur eine Fingerspitze in seine Vollkommenheit zu drücken: so und nicht anders sehen meine Gefühle dazu nun einmal aus. Mein Bett muss vollkommen bleiben bis zu dem Augenblick, in dem ich nachts hineinschlüpfe, um unter Traumwelten zu schweben.

Unter Umständen drücke ich mir dann einen weichen schwarzen Hut auf die Haare, streife Handschuhe über und trete für einen längeren Spaziergang hinaus auf die grau gepflasterten Straßen. Vielleicht ist es auch ein schwülheißer Tag. Dann breche ich nicht auf, sondern bleibe in dem blau-weißen Zimmer und flicke ein Stück zerrissener Wäsche, ein Taschentuch, einen Seidenstrumpf oder einen Unterrock. Oder ich greife zu einem Buch und grabe etwas Griechisches aus – Homer oder ein Fragment der Sappho –, das ist zwar recht mühselig, aber ich freue mich darüber, dass ich es überhaupt schaffe: was man in der Schule als Letztes lernte, vergisst man als Erstes wieder. Oder ich lese einen englischen oder französischen Philosophen, etwas Tolstoi in Übersetzung, ein Stück aus einem Roman von Balzac oder ein paar Passagen aus Romanen von Dickens, mit denen ich seit langem vertraut bin und die ich wirklich liebe, wegen der erholsamen Falschheit ihrer Gefühle und des stechenden, appetitanregenden Charmes ihrer Schurken.

Und in der Zwischenzeit denke ich nach und denke nach.

Dann ist es Zeit für das Abendessen, mitunter ziehe ich mir mein anderes nonnenhaftes Kleid an, nasche lustlos vom Essen und unterhalte mich mit der kleinen Familie, die sich versammelt hat, in der Tonlage und im Stil lebenslanger Unaufrichtigkeit. Im Familienkreiszustand muss ich mein wahres Selbst seit meinem zweiten Geburtstag hinter hundert schwarzen Schleiern verstecken. Der Versuch, es etwa jetzt beim familiären Abendessen zu zeigen, der einzigen Zeit, zu der alle zusammenkommen, wäre erschütternd. Wie viel einfacher ist es, während der Mahlzeiten, die ich damit verbringe, hie und da appetitlos zu kosten, umfassend unehrlich zu sein. Niemand hier sehnt sich nach meiner Aufrichtigkeit, daher steht in der Buchführung meiner Seele an dieser Stelle jetzt für immer und mit aller Entschiedenheit »Sei’s drum«. Dieses Glöckchen hat vor langer, langer Zeit aufgehört zu schlagen. Schlüge es jetzt, würde man nur »Sei’s drum« hören, »Sei’s drum«.

Schließlich ist es dunkel und ich mache den Spaziergang, der nachmittags ausfiel. Lange, einsame Straßen wandere ich hinab. Lange einsame Gedanken stapeln sich in mir aufeinander und durch mich hindurch und wickeln mich in einen Nebel, der mich wie ein Mantel umhüllt. Zwei oder drei Meilen gehe ich über gepflasterte Straßen, bis ich ganz erschöpft bin. Das ständige unwillkürliche Selbstanalysieren hat mich biegsam, aber auch zerbrechlich gemacht. Man kann seine Lebenserfahrungen und Lebensgefühle analysieren, bis die physischen Gewebe schwach werden, dünn wie Spinnweben. Dann ist es, als möchte einem – auf ein Wort, einen geflüsterten Gedanken, einen Schlag des Herzens hin – die Seele durch den Schleier entfliehen, dem Todesengel die Hand reichen und sich für immer aus dem Staub machen:

– aber ich liebe mein Leben, noch während ich es Stück um Stück auseinandernehme und es heftig verabscheue. Ich liebe es mitsamt seiner aufreibenden Eintönigkeit, seinen glanzvollen Augenblicken und seinen Tagen voller Schatten, Sturm und bitterer düsterer Leidenschaft –

Unter einem dämmrig samtblauen Nachthimmel, geschmückt mit dem Geschmeide von Mond und Sternen sowie fliegenden, an den Rändern leuchtenden Wolken, gehe ich zurück. Die Nacht strahlt eine unterdrückte Kostbarkeit aus, wie eine schwangere Frau, die nicht verheiratet ist. Ganz geschwollen ist sie von ihrem Edel-Bastard, dem Morgen. Die Nachtluft küsst mir Lippen und Kehle. Ich ziehe meine Handschuhe aus, um sie auf meiner Haut zu fühlen. Sie gibt mir das entzückende, keineswegs erregende Gefühl, ohne Liebe liebkost zu werden.

Ich kehre in mein blauweißes Zimmer zurück, nehme meinen Hut ab, fahre mir mit den Fingern durchs Haar, schaue Mich im Spiegel an und lächele auf die melancholisch-bösartige Weise, die ich mir für Mich-allein aufhebe. Ein intimer Moment der Begrüßung – ich erkenne die mir Vertraute, indem ich zu ihr zurückkehre. Oft beim Spazierengehen bin ich ohne Mich unterwegs, entferne mich weit von Mir und vergesse Mich.

Dann sitze ich an meinem flachen schwarzen Schreibtisch und schreibe planlos für zwei, drei oder vier Stunden vor mich hin. Ab und an einen Brief, ab und an ein paar Verse oder eine fieberhafte Phantasie in gesetzter Prosa. Aber zurzeit hauptsächlich dies hier.

Irgendwann gehe ich hinunter zu einem Kühlschrank oder zum Abgang in den Keller auf der Suche nach etwas Essbarem – eine Scheibe freundlichen kalten Bratens, ein paar keusch dreinblickende Scheiben Brot, eine schmale unschuldige Zwiebel. Ich esse sie ohne Genuss, ich verschlinge sie und komme mir vor wie ein ranker, räubernder, verstohlener Kojote. Es ist zwei oder drei oder vier Uhr morgens. Ich lehne in der kalten nächtlichen Tür, rauche in aller Stille eine Zigarette und zähle die nervösen, grausamtigen Nachtfalter auf der anderen Seite des Fliegengitters.

Und all die Zeit denke ich nach und denke nach.

Wieder oben in meinem Zimmer setze ich mich neben dem niedrigen Bücherregal auf den Boden und lese ein paar englische Dichter des letzten Jahrhunderts, die Brownings, Shelley und den sagenhaften John Keats. Die Dichter schenken mir einen Raum, der sich dank ihrer Zauberkraft und Anmut mit Wärme füllt. Was für ein Flammenhimmel hat diese Wesen gesegnet. Irdischer Matsch hier, und ihre Flügel »durchdringen die Nacht«.7

Danach bin ich aufgekratzt müde. Ich klappe die Bücher zu und mache mich mit einer leicht poetischen Mattigkeit bettfertig. Ein leises tröstliches Aufschnappen der Korsettstangen aus Walknochen: ein dumpfes rhythmisches Enthaken des Hüftgürtels aus Metall, Gummi und Seide; ein Abstreifen der Tageskleider und ein Schlüpfen in ein dünnes blasses kühles Seidennachthemd; ein rasches Bürsten der Haare; ein Einreiben der Hände und des Halses mit einer leicht duftenden Creme; ein Gutenacht zu Mir im Spiegel; eine letzte Welle einer schicksalhaften Sache – der Essenz meines Lebens – beiläufig, entschieden, verächtlich und drohend –, die sich in einer unsichtbaren Woge über mich hermacht: und ich liege zwischen glatten Laken aus Leinen.

Zwanzig Sekunden später seliger, seliger Schlaf.

Von so großer Nichtigkeit ist mein Tag. Der eine Tag unterscheidet sich vom nächsten durch diesen oder jenen vulkanischen Maulwurfshügel. Und an manchen Tagen wasche ich nicht nur jede Menge Geschirr ab, sondern erledige auch eine ordentliche Portion Hausarbeit, gewandt und zu meiner eigenen Befriedigung, ganz die teuflische Küchenmagd.

An anderen Tagen kommen, während ich mich mit meinen so kleinen Schritten bewege, liebliche oder barbarische Gedanken und Gefühle auf und verwandeln augenblicklich das Angesicht meiner Welt.

Oder ein menschliches Wesen mit dem Gehirn eines Häschens und der Empfindsamkeit eines Backenhörnchens läuft mir über den Weg, langweilt mich sanft und führt mir nur umso deutlicher vor Augen, wie heidnisch ich bin.

Aber immer gleichen sich die Tage in ihrer rastlosen, zweifelhaften Gerichtetheit auf ein Morgen.

Immer unanständig sinnlos.

Und schaurig allein.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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