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Die Straße nach Dover

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Morgen

Ich legte mich mittags auf meine grüne Couch und hatte einen wunderlichen Traum. Eben bin ich daraus erwacht, noch ganz überschwemmt von Schwäche und Wohlbehagen. Der Traum steht mir lebhaft vor Augen. Mir träumte, dass ich verheiratet war, und in meinem ehelichen Schlafzimmer ging rosa-und-perlweiß der Morgen auf. In dem Bett, das sich nur einen Zoll von meinem entfernt fand, lag nicht der mir angetraute Mann, sondern ›ein Anderer‹. Es war niemand, den ich, soweit ich mich erinnern kann, je getroffen habe. Ich blicke zurück in den Traum, und er scheint aus dem Nirgendwo gekommen zu sein, ein Fremder. Im Traum hingegen war er mir nicht fremd. Ich hatte ihn umstandslos in meine Nacht hereingelassen. Soeben war ich in der rosaweißen Morgendämmerung erwacht und saß, seidenbehemdet und haarzerzaust im Schneidersitz auf meinem Bett, die Ellbogen auf den Knien, das Kinn auf meine Hände gestützt, und betrachtete ihn in aller Ruhe. Er lag in dem anderen schmalen Bett, betrachtete mich seinerseits und lächelte ein wenig. Er hatte schöne Zähne und blondes Haar. Der springende Punkt des Traums war der Klang der sich nähernden Schritte des Herrn-Gatten von ›außerhalb der Bühne‹. Wie es so geht in Träumen: das Eindrückliche an der Situation waren nicht die Schritte und noch nicht einmal der Umstand, dass sie sich näherten, sondern der bloße Klang – die schwer zu fassende, darin mitschwingende Bedrohlichkeit. Jeden Augenblick würden wir entdeckt werden. Doch das schien niemanden zu beunruhigen: nicht den ›anderen Mann‹, der so ruhig lächelte: nicht mich, wie ich dasaß und meinen Blick gedankenvoll über ihn wandern ließ, der mich über Nacht vernascht hatte: nicht den Ehemann, weil er es niemals erfuhr – kurz bevor er die schuldige Tür öffnen konnte, erwachte ich.

So der zusammengefasste, alles sanft auf den Kopf stellende Traum. Ich war zugleich verheiratet und ehebrecherisch mit einem mir nicht vollkommen Fremden und wartete mit einem angenehmen, milden Vorgefühl, das exakt zu dem Rosa-und-Perlweiß der sommerlichen Morgendämmerung passte, auf den Höhepunkt in dem sich nähernden Klang der Schritte meines Gatten. Die Szene war humorvoll und hatte Stil. Mit unnötigen Präliminarien hielt dieser Traum sich nicht auf. Umstandslos schenkte er mir den einen aufregenden, lohnenden Augenblick, den er zu bieten hatte.

Vom Charakter und der Grundhaltung meines Ehemannes habe ich ebenso wenig einen Schimmer wie davon, wie er aussah oder wer er war, daher konnte ich weder in dem Traum selbst noch danach auch nur vermuten, was er sagen oder wie er handeln würde, wenn er die Tür öffnete.

– ein Thema für müßige Spekulationen an einem Sommertag –

Außerdem frage ich mich, woher dieser Traum kam; so Unerwartet; so Unbedeutend für die Gedanken, die ich hegte; so Stilvoll Treffend; so Abscheulich; so Dramatisch; so malerisch Vulgär.

Eine Frage, auf die die einzige Antwort eben jene unbeantwortbare Antwort auf alle Fragen ist, die die Tante von Herrn F. vorbrachte: »Es gibt Meilensteine auf der Straße nach Dover.«12

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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