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Verdrehte Moral

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Morgen

Wenn ich Gott begegnen sollte, um etwas von ihm zu erfahren und mit ihm zu sprechen, wäre so ziemlich das Erste, was ich ihn fragen würde: »Was dachten Sie sich, Gott, als Sie mich schufen?«

Ich glaube, dass er damit einen bestimmten Zweck verfolgte.

Im Wesentlichen bin ich eine teuflische Person. Es gibt siebenmal mehr Böses als Gutes in mir. Das Böse ist von gemischter, bedrohlicher Art, jener Art, die in braven, hübsch gefärbten Kleidern daherkommt, gesund und munter ist. Während das Gute in mir krank ist, einsam und auf nervöse Weise ängstlich – ein Etwas mit tränenverschmierten Augen und zitternden Fingern.

Aber Gott hat Vieles geschaffen, das noch unwahrscheinlicher ist als ich. Haie hat er ins Meer gesetzt, Menschen gemacht, die Kinder anstellen, damit sie in ihren Mühlen und Minen arbeiten, Giftefeu und Zebras –

– und außerdem hat er noch wahre Wunderwerke geschaffen: Dünne Rosarote Sonnenaufgänge in den Bergen, Junge Englische Dichter, Hortensien im plötzlichen Blau ihrer ersten Blüte, Singende Menschenstimmen – und mehr, immer mehr –

Wenn ich an sie alle denke, spült eine freudige Aufregung über mich hinweg wie eine kleine verrückte Welle. Was für ein Delirium-der-Seligkeit, wenn man fühlt, dass man selbst lebt, obwohl die Schatten pechschwarz sind.

Gott verfolgt einen Zweck damit, dass er all dies schuf, glaube ich.

Auf den Zweck meiner Erschaffung bin ich halbwegs neugierig. Vielleicht hat er mich zu seinem eigenen Vergnügen gemacht. Vielleicht hat er mich gemacht, um meine Seele mit ein paar Plagen und Stachelstöcken zu maßregeln oder um sie für bacchantische Unbekümmertheit und Vergnügungen in einer, lang-ist’s-her, jahrhundertealten Vergangenheit zu bestrafen. Vielleicht hat er mich gemacht, um andere Leben damit aufzupeppen oder zu geißeln, dass ich ihnen mit meiner Mary-Mac-Lane-haftigkeit3 nahekomme. Vielleicht hat er mich gemacht, um auf eine verdrehte Moral hinzuweisen.

Voller Zweifel denke ich darüber nach.

Aber selbst wenn ich meinen Zweck kennen würde, würde ich nicht um Haaresbreite von meinem Weg abweichen wollen, der auf profane Weise selbstbezogen ist.

Könnte ich für mich einen Weg zur Wahrheit erkennen, ich würde ihn einschlagen. Es wäre mir nicht fremd, etwas anzubeten. Ich sehne mich danach, etwas anzubeten. Und ich bin entschieden, auf müde, kühle Weise entschieden: Habe ich etwas angefangen, ziehe ich es durch bis zum Ende.

Aber ich sehe keinen Weg zur Wahrheit – jedenfalls nicht für mich. Und Gott ist für immer und ewig abwesend und schweigsam. So folge ich weiter dem Weg, auf dem ich mich selbst finde. Ich denke darüber nach. Und fluche leise, weil ich nichts daraus mache.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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