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Teils unvermeidbar, teils aus freien Stücken

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Morgen

Teils, weil es unvermeidbar ist, teils aus freien Stücken schreibe ich nun dieses Buch.

Ungeduldig und schulterzuckend finde ich mich an einem finsteren Punkt meines Lebens, an dem ich mich ausdrücken oder mich verlieren oder zerbrechen muss.

Und so, wie ich mein Leben lebe, bin ich ziemlich allein.

Und ich bin unglücklich – ein höhnisches Unglücklichsein ganz ohne bittere, bejahende Trauer, die sich dem allesverschlingenden Luxus des Kummers hingibt, vielmehr ein Unglück aus unterdrückter Unruhe, gequält von dem Wissen, dass ich nirgends hinpasse, dass ich dahintreibe – dahintreibe –, was eine unerträgliche Furcht zur Folge hat, immer mehr Furcht, sowohl des Tags als auch in schlaflosen Nächten.

Und es aufzuschreiben nimmt mir etwas von dieser Last von den Schultern.

Und Schreiben ist, was ich am liebsten tue.

Und ich selbst bin das unmittelbarste, stärkste Thema, das ich in allem, was ich kenne, für mein Schreiben finden kann: das größte, das kleinste, das weiteste, das engste, das liebenswerteste, das abscheulichste, das bunteste, das eintönigste, das geheimnisvollste, das offensichtlichste und das eine, das mich als Schriftstellerin und als Person am weitesten bringt.

Ich schreibe Mich, wenn ich die Gedanken wiedergebe, die in mir glimmen, seien sie über den Tod, über Rosen, über Jesu Mutter oder über Nägel für zehn Cent.

Die Gedanken, die man hat, sind die entscheidenden Abenteuer. Ernsthaft und mit aller Kraft und voller Absicht darüber nachzudenken, ob man einen Mord begeht, ist in jeder Hinsicht aufregender, romantischer und in tieferem Sinn tragisch, als den Mord zu begehen.

Ich entfalte mich in verwünschten und wertvollen niedergeschriebenen Gedanken. Aus dem frechen Spiegel, den ich meinen Geist nenne, werfe ich die Spiegelbilder meiner inneren Ichs aufs Papier.

– mein Geist – wie frei er doch ist –

Meine Seele ist nicht frei: vor langer, langer Zeit hängte Gott ihr eine Kette von Flüchen, wie eine kleine Handfessel, um den Hals. Ich spüre sie ständig. Auch mein Herz ist nicht frei, denn es ist tot: auf lustlose und triviale Weise einfach tot. Und mein Körper – er ist frei, aber er sieht aus wie etwas Verbrauchtes und Nutzloses, wie ein Abendessen, das man auftrug, doch niemand nahm davon, und jetzt ist es kalt.

– aber mein so freier Geist –

Selbst wenn man mich in ein Gefängnis wegsperrte: selbst wenn man mich an einen elektrischen Stuhl gurtete: selbst wenn die Lepra mich anfräße und zerstörte: noch immer könnte ich denken, mit Gedanken, so frei wie golddurchwirkte Frischluft, Gedanken, zart schimmernd wie eben gefallener Tau, Gedanken, luftig leicht, verführerisch, spekulativ, kunstvoll, böse, verschlagen, erhaben.

Man könnte mir beide Hände abschneiden: aber mich davon abhalten, mich an die Traurige Graue Schönheit der See zu erinnern, wenn der Regen auf sie schlägt, schlägt, schlägt, könnte man nicht.

Mag schon sein, dass man versuchen wird, mich zu ermahnen, indem man mir einen glühend roten Dorn zwischen die weißen Schulterblätter treibt: doch nicht einmal auf diese Weise könnte man meine Gedanken beeinflussen – nicht einmal ihre Richtung könnte man verändern.

Von Augenblick zu Augenblick bin ich mir meines Geistes hell bewusst – in jedem dieser vergehenden Lebensaugenblicke. Das Bewusstsein ist eine aufreibende Fähigkeit, eine schwere Last und ein wilder Reiz. –

Auch was ich fühle, schreibe ich auf.

Ich bin mir mein eigenes Gesetz, mein eigenes Orakel, meine beste Freundin, meine Führerin, auch wenn ich mich in Sackgassen führe, bin meine eigene Mentorin, meine Feindin, meine Liebhaberin.

Mein Alter beträgt einunddreißig Jahre, ein glimmend versengtes Lebensalter, in dem man fühlt, dass die Flügel des Vogels »Jugend« stark und heftig schlagen, um zu entfliehen – schon so gut wie bereit für den Abflug.

Ich bin nicht charmant. So ziemlich genau siebzig ausgesuchte Adjektive würden besser zu mir passen.

Aber über etwas jugendlichen Liebreiz, etwas Liebreiz meines Geschlechts, etwas Charme des Intellekts und der Intuition verfüge ich, ebenso wie über ein paar Reize, was die Persönlichkeit angeht.

Leidenschaftlich nehme ich diese Dinge an anderen wahr. Und mein Stahl hat des Öfteren Funken aus ihrem Flint geschlagen.

Aber noch jedes Mal hat mein Stahl sich düster, doch voller Kraft auf sich selbst besonnen.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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