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Formulierung von Hypothesen

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Während Forschungsfragen in der Regel in einer Frageform vorliegen (»Wie aggressiv geht es an deutschen Schulen zu?«), weisen Hypothesen eine Aussageform auf, d. h. sie beinhalten stets eine Behauptung. Ein Beispiel: »Bullying ist das Ergebnis eines ungünstigen Verhältnisses zwischen der Anzahl der Lehrkräfte und der Anzahl der Schüler und SchülerInnen«. Im Idealfall weist eine wissenschaftliche Hypothese folgende Eigenschaften auf:

• Die Hypothese sollte erfahrungswissenschaftlich überprüft werden können: Die Behauptung, die in der Hypothese ausgedrückt wird, sollte anhand beobachtbarer Daten dahingehend untersucht werden können, ob sie zutrifft oder nicht. Dazu ist es unerlässlich, dass die Begriffe, die eine Hypothese enthält (im Beispiel: das Auftreten von »Bullying« und das »Betreuungsverhältnis«), messbar gemacht werden können. Dies kann z. B. umgesetzt werden durch eine Erhebung der Häufigkeit von Bullying (etwa auf der Grundlage von Opferangaben) und der Berechnung des Betreuungsverhältnisses mittels der zählbaren Menge an Lehrkräften und Lernenden (einer Klasse, Schule etc.). Eine Hypothese, die diese Bedingung erfüllt, wird auch als empirische Aussage bezeichnet. Verletzt hingegen eine Hypothese diese Bedingung, beispielsweise weil sie metaphysische Begriffe verwendet (z. B. »Bullying ist das Ergebnis unsozialer Wesenszüge von Kindern und Jugendlichen«), die nicht gemessen werden können (»unsoziales Wesen«), kann sie durch sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden nicht geprüft werden.

• Die Hypothese sollte in Form eines Allsatzes formuliert sein: Des Weiteren sollte sich die Behauptung, die eine Hypothese enthält, ohne Einschränkung auf alle Personen bzw. Institutionen (im Beispiel sind das die Schulen) beziehen lassen und nicht nur z. B. auf eine einzelne Schule (das wäre eine räumliche Einschränkung) und/oder auf das laufende Schuljahr (das wäre eine zeitliche Beschränkung). Eine Hypothese sollte also nach Möglichkeit eine Regelhaftigkeit ausdrücken, für die der Anspruch allgemeiner Gültigkeit ohne raum-zeitliche Einschränkungen erhoben wird. Eine Hypothese, die diese Bedingung erfüllt, wird auch als Allaussage bezeichnet.

Empirische Allaussagen sind für die sozialwissenschaftliche Forschung von besonderem Interesse, weil sie prüfbar sind und den Charakter einer allgemeinen Regelhaftigkeit aufweisen. Solche Hypothesen lassen sich in eine Gesetzesformulierung überführen, deren einfachste Formen die »Wenn-dann«-Aussage und die »Je-desto«-Aussage sind. Die Hypothese »Bullying ist das Ergebnis eines ungünstigen Verhältnisses zwischen der Anzahl der Lehrkräfte und der Anzahl der SchülerInnen« lässt sich in eine Wenn-dann-Aussage umwandeln (»Wenn das Betreuungsverhältnis niedrig ist – d. h. wenige Lehrkräfte, viele SchülerInnen –, dann tritt Bullying auf«) und in eine Je-desto-Aussage (»Je niedriger das Betreuungsverhältnis ausfällt, desto häufiger tritt Bullying auf«) umformen. Eine Hypothese, die alle drei Anforderungen erfüllt, 1. die empirische Prüfbarkeit, 2. die allgemeingültige Formulierung und 3. die Wenn-dann- bzw. Je-desto-Form, werden als gesetzesartige Aussagen bezeichnet. Solche gesetzesartigen Aussagen werden dann zu Gesetzen, wenn sie noch ein weiteres, viertes Kriterium erfüllen: Sie müssen sich in empirischen Untersuchungen bewährt haben, d. h. mit den erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Daten in Übereinstimmung stehen (vgl. Opp, 2005). Ein Beispiel stellen die berühmten Untersuchungen von Bandura (z. B. Bandura, Ross & Ross, 1961, 1963) im Kindergarten dar: Zunächst wurde die Hypothese aufgestellt, dass neue aggressive Verhaltensweisen einer Modellperson (es wurde z. B. mit einem Hammer auf eine lebensgroße Puppe eingeschlagen und sie mit Wortneuschöpfungen beleidigt), die von den Kindern beobachtet wurden, von ihnen anschließend nachgemacht werden. Nachdem sich diese Hypothese über Jahrzehnte in sozialwissenschaftlichen Studien gut bewährt hat, gilt sie heute als Gesetzmäßigkeit (das sogenannte Lernen am Modell).

Aber was bedeutet »empirisch gut bewährt«? Auf den Philosophen Sir Karl Popper (1902–1994) geht die Einsicht zurück, dass Gesetze niemals vollständig bewiesen (verifiziert) werden können. Dazu müsste z. B. Bandura alle Kinder, die zu allen Zeiten lebten, wissenschaftlich untersuchen, um auszuschließen zu können, dass es nicht vielleicht doch Kinder gab/gibt, für die das Gesetz nicht gilt – ein Unterfangen, das offensichtlich unmöglich ist. Man kann, mit anderen Worten, eine Gesetzeshypothese niemals abschließend danach prüfen, ob sie »wahr« ist. Allerdings kann man, so weiter die Position Poppers (2005), Gesetzesaussagen grundsätzlich widerlegen (falsifizieren): Fände man auch nur ein einziges Kind, das der Gesetzmäßigkeit widerspricht, wäre die Hypothese zu verwerfen. Popper (2005) plädiert deshalb dafür, dass empirische Wissenschaften – und damit auch die sozialwissenschaftliche Forschung – nicht danach streben sollten, Gesetzeshypothesen zu bestätigen (also das Suchen nach Beobachtungen, die in Übereinstimmung mit den behaupteten Hypothesen stehen), sondern vielmehr danach, sie zu widerlegen (d. h. die Suche nach Beobachtungen, die den behaupteten Hypothesen widersprechen). Auf diese Weise sollte eine allmähliche Elimination (Aussortierung) solcher Hypothesen erfolgen, die an den empirischen Tatsachen scheitern, und gleichzeitig im Laufe der Wissenschaftsentwicklung solche übrig bleiben, die wiederholte Widerlegungsversuche überstehen. Regelhaftigkeiten, die sich gegenüber Falsifikationsversuchen als robust erweisen, sind damit nicht als »wahr« anzusehen, sondern nur als »vorläufig bewährt«. Die zentrale Forderung des Kritischen Rationalismus, wie die Wissenschaftstheorie von Popper genannt wird, ist es, dass aufgestellte Hypothesen prinzipiell falsifizierbar sein müssen. Dies wird auch als Falsifikationsprinzip (oder Falsifikationismus) bezeichnet.

Bei seiner Argumentation bezieht sich Popper (2005) offensichtlich auf sogenannte deterministische Aussagen (von lat. determinare für vorherbestimmbar), das sind Allaussagen, bei denen beim Vorliegen der Wenn-Komponente immer die Dann-Komponente auftritt (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann folgt eine Aggression«). Die meisten Aussagen in den Sozialwissenschaften sind jedoch nichtdeterministisch, d. h. die Dann-Komponente muss lediglich in den meisten Fällen, jedoch nicht immer auftreten (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann folgt meistens eine Aggression«). Solche Hypothesen beruhen auf Wahrscheinlichkeiten und werden deshalb als probabilistische Aussagen (lat. probabilis für wahrscheinlich) bezeichnet (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer Aggression«). Allerdings gilt das Falsifikationsprinzip auch für Wahrscheinlichkeitsaussagen: Auch probabilistische Gesetze müssen grundsätzlich falsifizierbar sein (z. B. wenn die Ergebnisse zeigen, dass bei Vorliegen von Frustration mit großer Wahrscheinlichkeit keine Aggression folgt).

Problematisch sind in diesem Zusammenhang solche Aussagen, bei denen keine Falsifizierbarkeit gegeben ist. Ein Beispiel dafür sind Aussagen, die Teil und Gegenteil in sich vereinen (z. B. »Wenn Frustration vorliegt, dann folgt Aggression oder eine andere Reaktion«), da dabei jedes beliebige Ereignis (Beobachtung) als eine Bestätigung (Verifikation) interpretiert werden kann (d. h. es gibt keine Beobachtung, die der Aussage widerspricht). Weitere Beispiele für nichtfalsifizierbare Aussagen finden sich in Box 4. Des Weiteren sind auch solche Aussagen problematisch, die immer falsch sind (sogenannte Kontradiktionen). Ein Beispiel dafür wäre die Behauptung »Männer zeigen häufiger sexuelles Verhalten als Frauen« (was für heterosexuelle Kontakte nicht möglich ist). Eine solche widersprüchliche (kontradiktorische) Hypothese wäre zwar grundsätzlich empirisch prüf- und widerlegbar, allerdings beinhaltet sie bereits von vornherein einen logischen Widerspruch, was den Prüfprozess unsinnig macht. Wir können festhalten: Nichtfalsifizierbare und widersprüchliche Aussagen sind für die sozialwissenschaftliche Forschung ungeeignet.

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