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Deduktion und Induktion als Erklärungen

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Aufgrund seiner vielfachen Replikation auch unter variierenden Randbedingungen (z. B. Levy, Lundgren, Ansel, Fell, Fink & McGrath, 1972) kann der Bystander-Effekt heute als eine gut bewährte Gesetzmäßigkeit angesehen werden. Gesetze bilden die Basis für erfahrungswissenschaftliche Erklärungen. Wie in Box 1 ausgeführt, stellt die Ausarbeitung von Erklärungen (Explanation) für Phänomene ihres Gegenstandsbereiches eine der Hauptaufgaben jeder Wissenschaft dar. Bezogen auf das Beispiel in Box 4 bedeutet dies: Sehen wir eine Person, die in einer Gruppe von PassantInnen an einer Wohnung, aus der die Hilfeschreie eines Kindes kommen, vorbeiläuft ohne einzuschreiten, dann kann dies durch den Bystander-Effekt erklärt werden. Dabei stellen:

• der Bystander Effekt das Gesetz dar: »Wenn A (hier: viele Zeugen einer Notlage), dann B (hier: geringe Hilfsbereitschaft)«,

• die große Anzahl an PassantInnen die Wenn-Komponente (»viele Zeugen einer Notlage«) und

• die unterlassene Hilfsleistung die Dann-Komponente (»geringe Hilfsbereitschaft«).

»Erklären« bedeutet hierbei, dass das Besondere (das Nicht-Helfen in einer gegebenen Situation) dem Allgemeinen (dem Bystander-Effekt) untergeordnet wird. Schlussfolgerungen, die eine solche Form aufweisen (vom Allgemeinen wird auf das Besondere geschlossen), werden als Deduktion (lat. deductio für Ableitung) bezeichnet. Deduktionen weisen in der Logik folgende allgemeine Form auf ( Tab. 1):

a) erste Voraussetzung (oder Prämisse 1): Beschreibung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit;

b) zweite Voraussetzung (oder Prämisse 2): Es wird die Wenn-Bedingung festgestellt (diese wird auch als Antezedenz bezeichnet; von lat. antecedens für das Vorausgehende);

c) Schlussfolgerung: Es wird auf die Dann-Bedingung gefolgert (wird auch als Konsequenz oder Konklusion bezeichnet; lat. conclusio für Schlussfolgerung).

Während die Prämissen 1 und 2 (von lat. praemissa für das Vorausgeschickte) das bezeichnen, was die Schlussfolgerung begründet, also das Erklärende (oder Explanans), kennzeichnet die Schlussfolgerung das zu Erklärende (oder Explanandum). Eine solche Erklärungsstruktur wird auch als deduktiv-nomologisches Schema oder als HO-Schema (nach Hempel & Oppenheim, 1948) bezeichnet. Die angemessene Verwendung des HO-Schemas im Rahmen einer wissenschaftlichen Erklärung setzt eine Reihe von Vorannahmen voraus (sog. Adäquatheitsbedingungen), zu denen die folgenden zählen: Das Explanandum muss inhaltlich (logisch) mit dem Explanans verbunden sein (d. h. der Bystander-Effekt ist keine Erklärung dafür, dass die PassantInnen Schuhe tragen), das Explanans muss mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten (und nicht zwei Feststellungen wie »hohe Anzahl an ZeugInnen« und »es war Dienstag«) und das Gesetz muss widerlegbar sein (Falsifikationsprinzip) und sich in empirischen Studien bewährt haben.

Tab. 1: Das HO-Schema zur deduktiven Erklärung von Ereignissen


Explanans (Das, was erklärt.)Explanandum (Das, was erklärt werden soll.)

Das HO-Schema kann darüber hinaus zur Erstellung von Vorhersagen verwendet werden. Die Formulierung von Vorhersagen (Prognosen) stellt eine weitere Hauptaufgabe von Wissenschaften dar (vgl. Box 1). Eine Prognose aufzustellen, kann unter den beiden folgenden Umständen sinnvoll sein:

• Die Wenn-Komponente ist noch nicht eingetreten: Man möchte beispielsweise vor der Implementierung einer sozialpädagogischen Intervention (z. B. ein Gruppentraining in der Schulsozialarbeit) oder zum Zwecke der Sozialplanung (z. B. vor der Neueinrichtung einer Institution) etwas darüber wissen, wie die Wenn-Komponente gestaltet werden sollte (Wie sollte die Intervention inhaltlich aufgebaut sein?; Wie sollte die neue Institution strukturell und organisatorisch gestaltet werden?), damit die erwünschte Dann-Komponente auftritt (Die SchülerInnen und Schüler profitieren von der Intervention; Die neue Einrichtung wird von den KlientInnen angenommen).

• Die Dann-Komponente ist noch nicht eingetreten: Impliziert das Gesetz einen zeitlich hinreichend großen Abstand zwischen Wenn- und Dann-Komponente, kann die Prognose auch dann sinnvoll gestellt werden, wenn die Wenn-Komponente bereits gegeben ist. Dies kann in der Sozialen Arbeit beispielsweise dann der Fall sein, wenn nach einer stattgefundenen Intervention (z. B. zur Reduktion des Tabakkonsums) oder nach der Eröffnung einer neuen Institution (z. B. eine Beratungsstelle zur Rückfallprophylaxe von Straftätern und Straftäterinnen) Aussagen über die Dann-Komponente formuliert werden (Die TeilnehmerInnen rauchen weniger; Die Rückfallquote der StraftäterInnen sinkt).

Prognosen haben in diesen Fällen den Status begründeter Hypothesen, die an dem tatsächlichen zukünftigen Ergebnis zu messen sind. Prognosen werden unsicherer, wenn die Wenn-Komponente in der Realität komplexer (vielschichtiger) ausfällt als vom Gesetz angenommen. Dies ist jedoch leider häufig der Fall, da in der Wirklichkeit auch mit zufälligen Einflüssen zu rechnen ist. Insofern stellt die empirische Überprüfung von Prognosen ein besonderer »Härtetest« für jede Theorie dar: Sie ist »ein wesentlicher Beitrag zu einer erfolgreichen Wissenschaft, die auf eine empirische Rückkopplung angewiesen ist« (Bierhoff & Petermann, 2014, S. 16).

Das Gegenteil der Deduktion ist die sogenannte Induktion, bei der vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen wird (vom lat. inductio für Hinführung). Liest man beispielsweise in der Zeitung von einem Überfall durch eine »ausländische Person«, etwas später von einem weiteren Fall usw., kann man zu dem Schluss gelangen, alle AusländerInnen wären kriminell. Solche induktiven Schlussfolgerungen finden sich insbesondere im Alltag, wenn Menschen ihre Umwelt zu »erklären« versuchen. Induktive Schlüsse sind jedoch nicht wirklich zwingend (d. h. logisch), da immer die Möglichkeit besteht, dass ein Gegenbeispiel auftritt (allerdings berichten Zeitungen es nicht, wenn AusländerInnen keinen Überfall begehen). Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedienen sich mitunter der induktiven Methode, z. B. wenn sie aufgrund gehäufter Beobachtungen eine allgemeine Gesetzmäßigkeiten vermuten. Diese Vermutung weist jedoch vorerst lediglich den Status einer Hypothese auf, die anschließend empirisch überprüft werden muss (und sich dabei auch als falsch erweisen kann).

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