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Theorien als Erklärungen

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Ein Gesetz stellt noch keine Theorie dar. Gesetze beschreiben lediglich den regelhaften Zusammenhang zwischen (mindestens zwei) Größen (beim Bystander-Effekt sind das die Anzahl der ZeugInnen und das Hilfeverhalten). Solche Erklärungen werden auch als Erklärungen erster Ordnung (Laucken, Schick & Höge, 1996) bezeichnet, da ihr Fokus auf die beobachtbaren Aspekte einer Wenn-dann-Beziehung begrenzt ist. Eine Theorie jedoch befasst sich darüber hinaus mit der Frage, warum dieser Zusammenhang besteht. Wie kann man erklären, dass das Hilfeverhalten bei einer zunehmenden Anzahl von ZeugInnen absinkt und nicht, was ebenso denkbar wäre, zunimmt? Theorien liefern eine Erklärung zweiter Ordnung, da ihr Blickpunkt über die Wenn-dann-Frage hinaus auf die Warum-Frage ausgeweitet wird.

Bis heute liegen nicht nur viele Studien vor, die den Bystander-Effekt in unterschiedlichsten Situationen belegen (Erklärung erster Ordnung), sondern auch eine große Reihe an Untersuchungen, die der Warum-Frage nachgehen und die Erklärungen zweiter Ordnung für den Effekt überprüfen. Eine dieser Erklärungen zweiter Ordnung bezieht sich auf die sogenannte Verantwortungsdiffusion, die besagt, dass Bystander (Personen einer Zeugengruppe, die nicht helfen) die Verantwortung dafür, der in Not befindlichen Person zu helfen, auf die anderen ZeugInnen »aufteilen« (diffundieren). Ist zum Beispiel neben der eigenen Person noch eine weitere Person anwesend, dann wird die Verantwortung für die Hilfeleistung auf diese beiden Personen verteilt, so dass die Verantwortung der eigenen Person dadurch »halbiert« wird (z. B. Schwartz & Gottlieb, 1976). Das Beispiel verdeutlicht, dass Theorien mehr beinhalten, als die durch das Gesetz formulierten Wenn-dann- oder Je-desto-Komponenten: Es kommen Aspekte hinzu, wie im Beispiel die Verantwortungsdiffusion, die im Gesetz nicht enthalten sind. Was diesen »Mehrwert« von Theorien genau ausmacht, wird im Folgenden näher ausgeführt.

Zunächst muss an dieser Stelle die Bezeichnung Variable eingeführt werden. Eine Variable (von lat. varius für verschieden) kennzeichnet eine veränderliche (variierende) Größe, für die mehrere Ausprägungsgrade vorliegen. Zum Beispiel können beim Bystander-Effekt die beiden Größen »Anzahl der ZeugInnen« und »Dauer bis zum Eintritt der Hilfeleistung (gemessen in Sekunden)« sehr unterschiedliche (variable) Ausprägungen annehmen: Beide Variablen können bei eins beginnen und immer weiter ansteigen (2 Personen, 3 Personen usw.; 2 Sekunden, 3 Sekunden etc.). Bei Gesetzesformulierungen werden (mindestens) zwei Variablen berücksichtigt: Die »Wenn-Komponente« stellt die sogenannte Bedingungsvariable dar, die »Dann-Komponente« die Folgevariable. Synonym werden für eine Bedingungsvariable auch der Begriff »unabhängige Variable« und für eine Folgevariable die Bezeichnung »abhängige Variable« verwendet. Bezogen auf den Bystander-Effekt stellt also die »Anzahl der ZeugInnen« die unabhängige Variable dar (da sie nicht von der anderen Variable, der »Hilfeleistung«, abhängt) und die »Hilfeleistung« die abhängige Variable (weil sie von der anderen Variable, der »Anzahl der ZeugInnen«, abhängig ist).

Um die Warum-Frage zu beantworten beziehen sich Theorien nicht nur auf die (beobachtbaren) unabhängigen und abhängigen Variablen, sondern darüber hinaus auch auf solche Variablen, die nicht direkt beobachtbar sind, sondern i. d. R. erschlossen werden. Im Beispiel ist das die Verantwortungsdiffusion: Diese ist nicht Teil des äußerlich sichtbaren Verhaltens der Personen, sondern ein Aspekt ihres inneren Erlebens (genauer ihrer kognitiven Aktivität). Solche theoretischen Begriffe werden als »hypothetische Konstrukte« bezeichnet, da sie nur angenommen und nicht direkt zugänglich sind. Eine synonyme Bezeichnung dafür ist der Begriff intervenierende Variable (oder vermittelnde Variable), da sie zwischen der unabhängigen und der abhängigen Variable vermittelt, wobei in der Theorie die angenommenen Zuordnungsregeln zwischen den drei Variablen expliziert werden muss: »Wenn die Anzahl an ZeugInnen hoch ist, dann sinkt die persönliche Verantwortung« und »Wenn die persönliche Verantwortung niedrig ist, dann sinkt die Hilfeleistung«.

Theorien (von gr. theorein für Zuschauen; bei Aristoteles wird theoria als Erforschung der Wahrheit ohne Nutzenerwägung und praktischen Zwängen verstanden) stellen somit komplexe Systeme von (relativ) allgemeinen, miteinander verbundenen Gesetzesaussagen dar, die einen bestimmten Ausschnitt der Realität widerspruchsfrei erklären sollen. Häufig werden die Begriffe »Erklärungsansatz«, »Kausalmodell« oder »Netzwerk« gleichbedeutend mit »Theorie« verwendet, wobei eine Theorie jedoch keine einfache Anhäufung ungeprüfter Behauptungen darstellt. Vielmehr ist eine Theorie eine »Vernetzung von gut bewährten Hypothesen bzw. anerkannten empirischen ›Gesetzmäßigkeiten‹«, die »für einen bestimmten Zeitraum für ein begrenztes Untersuchungsfeld … den aktuellen Forschungsstand am besten integriert« (Bortz & Döring, 2006, S. 15). Die Kriterien für die Güte (oder Qualität, Gültigkeit) einer Theorie umfassen folgende Aspekte (nach Hussy & Jain, 2002):

• Klarheit der Begriffe: Die in einer Theorie verwendeten Begriffe sollen möglichst genau, unmissverständlich und nachvollziehbar definiert werden. Die Verwendung einer ungenauen Begrifflichkeit (z. B. »Das Ausmaß des Selbstbewusstseins einer Person wirkt sich auf ihr Sozialverhalten aus«) verhindert, dass durch die Theorie konkretes Verhalten erklärt oder vorhergesagt werden kann (Was ist »Selbstbewusstsein«? Was ist »Sozialverhalten«?).

• Logische Konsistenz der Aussagen: Die Aussagen einer Theorie dürfen nicht in Widerspruch zueinander stehen. So wären z. B. die Aussagen »Personen mit geringem Selbstbewusstsein zeigen in Konfliktsituationen aggressives Verhalten« und »Personen mit geringem Selbstbewusstsein zeigen in Konfliktsituationen Rückzugs- und Fluchtverhalten« nicht miteinander vereinbar.

• Sparsamkeit der Annahmen: Eine »gute« Theorie ist in der Lage, möglichst viele Beobachtungen durch möglichst wenig Annahmen erklären zu können. Die operante Lerntheorie kann z. B. Angriffs- versus Fluchtverhalten von Personen in Konfliktsituationen durch die Annahme einer einzigen intervenierenden Variable erklären, der sog. »Verstärkung« (Skinner, 1938, 1953): Während Angriffsverhalten durch eine positive Verstärkung (sich im Konflikt erfolgreich durchsetzen) aufrechterhalten wird, kommt es bei Fluchtverhalten zu einer Aufrechterhaltung durch negative Verstärkung (Verringerung des Angsterlebens). Würde man alternativ das Konstrukt »Selbstbewusstsein« zur Erklärung verwenden, wäre dies nicht ohne Zusatzannahmen möglich, da diese Theorie nicht ohne weiteres begründen kann, ob ein hohes oder ein niedriges Selbstbewusstsein jeweils zu Angriffs- oder Fluchtverhalten führt.

• Empirische Bewährung der Theorie: Die Qualität einer Theorie ist umso höher einzuschätzen, je häufiger sie verschiedene und strenge »Tests« in empirischen Untersuchungen besteht. Bezogen auf den Zusammenhang zwischen »Selbstbewusstsein« und »aggressivem Verhalten« zeigen solche empirischen Tests beispielsweise, dass die Hypothese »Je niedriger das Selbstbewusstsein von Personen, desto aggressiver verhalten sie sich« zu vielen widersprechenden Ergebnissen führt (vgl. Baumeister, Smart & Boden, 1996). Im Vergleich zu konkreten Einzelhypothesen ist eine (meist eher abstrakte) Theorie schwerer zu überprüfen, da (1) die Umsetzung (Operationalisierung) der Wenn-Komponente misslingen kann (sog. Korrespondenzproblem) und/oder (2) die Erfassung (Messung) der Dann-Komponente ungenau ausfallen kann (sog. Basissatzproblem). Bezogen auf das Beispiel wäre hier zu fragen, wann eine soziale Situation eine »Konfliktsituation« darstellt (und wann nicht) und wann ein Verhalten einen Angriff oder eine Flucht kennzeichnet (z. B. wenn die Person die Situation zwar nicht verlässt, aber auf die Vorwürfe des Gegenübers nicht reagiert). »Gute« Theorien verfügen deshalb wiederum über eigene »Untertheorien« (sog. Hilfstheorien), die sich auf die angemessene Operationalisierung und Messung ihrer Variablen beziehen.

• Informationsgehalt der Theorie: Die Aussagen einer Theorie sollen möglichst gehaltvoll bzw. informativ sein. Was bedeutet der Begriff »Informationsgehalt« in diesem Zusammenhang? Unter der Bezeichnung »Information« (lat. informare für darstellen) versteht man die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses. Bezogen auf theoretische Aussagen bedeutet dies, dass z. B. Kontradiktionen (widersprüchliche Aussagen) überhaupt keinen Informationsgehalt aufweisen, da sie nur widerlegt, nicht aber belegt werden können (z. B. »Es kommt häufiger vor, dass Frauen mit Männern kommunizieren, als Männer mit Frauen«). Dasselbe gilt für die sogenannten Tautologien (eine immer gültige Aussage; vgl. Box 3), also Aussagen, die man nur belegen, aber nicht widerlegen kann (z. B. »MigrantInnen weisen eine hohe soziale Mobilität auf«). Der Informationsgehalt ist in diesen beiden Beispielen Null, weil es jeweils nur eine Möglichkeit (und keine Alternativen) gibt. Solche Hypothesen sind für ein Forschungsvorhaben nicht von Nutzen. Stattdessen sollen Aussagen einer Theorie einen möglichst hohen Gehalt an Information aufweisen, wodurch ihre Falsifizierbarkeit ansteigt: Je größer die Zahl möglicher Beobachtungen, die eine Theorie widerlegen (die sog. Falsifikatoren), desto größer ist ihr Informationsgehalt.

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