Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 11

Das Projekt einer Kulturgeschichte der Literatur

Оглавление

In den Jahren seit Erscheinen der Studien zur Kulturgeschichte der Literatur (2002)1 sind mehr Bücher zum Thema einer kulturwissenschaftlichen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft erschienen und werden in den Katalogen der Fachverlage weiter angekündigt, als ein einzelner in diesem Zeitraum überhaupt bewältigen kann, nicht zu reden von den zahlreichen unselbstständigen Publikationen. Deshalb will ich mich auf den entscheidenden Impuls des englischen Historikers Peter Burke konzentrieren, der die Frage stellt: „Was ist Kulturgeschichte? Auf diese Frage gibt es ebenso vielfältige Antworten wie auf die Frage: Was ist Kultur?“2 Peter BurkeBurke, Peter bezeichnet es für seine Forschungen erfrischend offenherzig als „zweckmäßig“, KulturgeschichteKulturgeschichte „nur über ihre eigene Geschichte [zu] definieren“.3 BurckhardtsBurckhardt, Jacob und HuizingasHuizinga, Johan Kulturverständnis nennt Burke, Roy Wagner zitierend, die „‚Opernhaus‘-Konzeption von Kultur“4. Kulturgeschichte insgesamt ist für ihn „eine Art kultureller Transfer: Sie übersetzt aus der Sprache der Vergangenheit in die der Gegenwart, aus den Begriffen der Zeitgenossen in die der Historiker und ihrer Leser. Ihr Ziel ist es, die ‚Andersartigkeit‘ der Vergangenheit sichtbar und zugleich verständlich zu machen“5. Bereits mit dieser Metapher sind wir mitten in den Dilemmata einer textualistischen KulturtheorieKulturtheorie. Wird bei Burke Kultur metaphorisch als gesprochene Sprache verstanden, wird dies bei anderen zum Kultur-als-Text-Theorem. Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der in Umlauf befindlichen Argumente für oder wider die eine oder die andere Position macht es schwer, einen Theoriefortschritt genau zu erkennen. Natürlich muss sich eine LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als Kulturwissenschaft diesem Problem stellen. Sie darf aber aus der operativen Begegnung mit diesem Wissenschaftsdiskurs nicht eine Problemfixierung machen, über die hinauszugelangen als unehrenhaft angesehen wird. Besonders ein Paradigma fällt in den Debatten immer wieder auf. Es ist der inzwischen als Kultur-als-Text-Theorem zirkulierende Versuch, einen semiotischen Kulturbegriff in der Diskussion über Themen, Perspektiven und Positionen der Kulturwissenschaft dauerhaft zu implementieren. Ich beschränke mich im Folgenden auf diesen Aspekt. Folgt man den Überlegungen der Kultursemiotiker, dann ist „der erste und einfachste Schritt zur Konstituierung des Kulturbegriffs“ – so heißt es in einem einschlägigen Lehrwerk – die „Anerkennung des zeichenhaften Charakters der Kulturphänomene“.6

Die derzeitige Debatte um KulturKultur in den Wissenschaften, womit man meist deren gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Mehrwert unausgesprochen meint, und Kulturwissenschaft bewegt sich zwischen Feuilletonismus und Heilsversprechen. Einführungsbände für Studierende werden geschrieben, obgleich sich der Begriff Kulturwissenschaft nahezu täglich weiter diffundiert.7 Ist eine KulturgeschichteKulturgeschichte der Kulturwissenschaft eine neue Megadisziplin, die das disziplinär vereint, was different nur schwer nebeneinander bestehen kann? Die Festlegung auf Texte als Träger kultureller Prozesse bedeutet die Rückkehr zu einem (hoch-)kulturellen Textverständnis, ist aber nicht Ausdruck eines textualistischen Kulturbegriffstextualistischer Kulturbegriff.8 Im unmerklichen Wechsel vom Plural Kulturwissenschaften zum Singular Kulturwissenschaft bestätigt sich das alte philologische Gebot der Lectio difficilior. Die schwierigere Lesart ist die ältere, nivellierende Tendenzen in Wahrnehmungsformen und Gestaltungsweisen zeigen sich zuerst im Prozess der sprachlichen Vereinfachung. Auch dies ist bereits ein kulturwissenschaftliches Phänomen.

Quo vadis Kulturwissenschaft? Rätselhaft scheint sie zu sein, diese Wissenschaft von der KulturKultur, rätselhaft und verborgen. Betrachtet man die Hilfsangebote der Nachbardisziplinen, der Philosophie, der Geschichte, der Semiotik, der Soziologie, so ist auch hier eine zunehmende Ausdifferenzierung der Diskurse festzustellen. Oswald Schwemmers explizit so genannte Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften (1987) lässt die Leser ratlos zurück, die sich über die Bandbreite der Kulturwissenschaften informieren, sich ein Bild von einer Theorie der Kulturwissenschaften machen wollen.9 Auch die Kulturwissenschaftliche Hermeneutik (1996) von Roswitha Heinze-Prause und Thomas Heinze trägt zur Klarstellung wenig bei.10 Dieser Ansatz, der auf den Arbeiten des Soziologen Oevermann beruht, verfolgt eine objektiv-strukturale HermeneutikHermeneutik des Textes – wobei als TextText auch sprachliche Interaktion allgemein begriffen wird –, die einen totalen, um nichts weniger autoritativen objektiven Verstehensanspruch jenseits subjektiver und individueller Deutungsvoraussetzungen für sich reklamiert. Applikationen auf die LiteraturLiteratur fehlen. Die Frage, was Kulturwissenschaft ist, bleibt bei der Beantwortung der Frage, was Kultur sei, meist auf der Strecke.

„Kulturwissenschaften sind also diejenigen Denkweisen, die auf redliche Weise begründete Behauptungen zu Kultur als dem grundsätzlich variablen Repertoire an Vorstellungen, Verhalten und Verhaltensprodukten machen, in der Hoffnung, sie mögen auch bei dauerhafter Prüfung plausibel sein, und mit der Bereitschaft, sie bei angekratzter Plausibilität und besserer Begründung zu revidieren“11.

Fraglich bleibt dabei, ob diese Definition wirklich als Arbeitsprogramm taugt. Die meisten Versuche, eine transparente und intersubjektiv überprüfbare Nomenklatur zu finden, scheitern daran, dass Kultur und Kulturwissenschaft deskriptiv, aber nicht normativ definiert werden. Unter dem Stichwort Methodologisches zu den Kulturwissenschaften plädiert Gotthart Wunberg für die Rückbesinnung auf Georg SimmelSimmel, Georg. Wie Simmel vor hundert Jahren die Soziologie als Synthesewissenschaft mitbegründet und ihren eklektischen Charakter zur Stärke der neuen Disziplin gemacht habe, so könne das „Projekt Kulturwissenschaften […] seiner Genese und seinen Gegenständen nach zunächst nichts anderes sein als eine Neuformulierung der einstmals in den Philosophischen Fakultäten institutionell gebündelten Inhalte […]. Sämtliche Disziplinen der alten Philosophischen Fakultät […] sind virtuelle Kulturwissenschaften“.12 Unklar, weil unausgeführt, bleibt die Formulierung, Kulturwissenschaften stellten keine Einzeldisziplin dar, „sondern eine diese Einzeldisziplinen gegenseitig erschließende Methode“13. Die Vorstellung einer einheitlichen Methodik gleicht einem Omnipotenzphantasma, das gegen die methodische Vielfalt in der kulturwissenschaftlichen Debatte zielt. Aber diese sollte bewahrt bleiben, da nur sie der Vielfalt kulturwissenschaftlicher Forschungsgegenstände angemessen sein kann. Kulturwissenschaft ist eine Brückenwissenschaft, Einzeldisziplinen sind Pfeilerwissenschaften. Die Geschichtswissenschaft hat schon vor einigen Jahren eine Art Zwischenbilanz zur Terminologiediskussion von KulturgeschichteKulturgeschichte und Kulturwissenschaft gezogen. Für die Herausgeber des Sonderheftes Kulturgeschichte Heute ist der Begriff Kulturgeschichte zu einem „dominierenden revisionistischen ‚Fahnenwort‘ geworden“14, das auf die Kritik an der Historischen Sozialwissenschaft zielt. Die Herausgeber konzedieren dem Kulturbegriff eine regulative Funktion, die im Sinne eines historiografischen Verständnisses von Gesamtgesellschaft eben nicht nur die historische Entwicklung von Kultureliten, sondern auch die sogenannte Alltagsgeschichte, Mentalitäten, soziale Handlungsmuster etc. umfasst. Gewarnt wird freilich zu Recht vor einer keineswegs neuen Form von „Totalitätsutopie“15, wonach diese Megadisziplin – oder genauer müsste man von einem Megaphantom sprechen – eine definierte Erklärungsallmacht besitzt.

Der Philosoph Ralf Konersmann nennt KulturKultur „die Bewahrung des Möglichen. Die Weite ihres Horizonts ist der Lohn der Kontingenz“16. Seine These lautet, „die häufig beobachtete und beklagte Unschärfe des Kulturbegriffs ist diesem unveräußerlich […]. Kultur ist, was man außerdem macht: Handlungsnebenfolge“17. Kulturphilosophie wird hier zu einer Spurensuche dessen, was nicht gegenwärtig ist, Kultur ist demnach in ihrer Abwesenheit anwesend. Kultur sei „unverfügbar. Sie wird nur mittelbar, in den Problemen dingfest, die man ohne sie nicht hätte“18. Wie aber hat man sich das vorzustellen? Diese Unschärfe des Kulturbegriffs bedingt möglicherweise das, was Eckhard HenscheidHenscheid, Eckhard unter dem Lemma Kulturbegriffskultur verzeichnet hat.19 Und Harry Haller, Hermann HessesHesse, Hermann Steppenwolf seines gleichnamigen Romans von 1927, fragt: „War das, was wir ‚Kultur‘ […] nannten, war das bloß ein Gespenst, schon lange tot und nur von uns paar Narren noch für echt und lebendig gehalten?“20 Geoffrey HartmanHartman, Geoffrey wiederum hat uns das Diktum von Max WeberWeber, Max in Erinnerung gerufen: „‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“21. Hartman stellt sich und seinen Leserinnen und Lesern die bedrückende Frage, ob das Reden über KulturKultur in den vergangenen fünf Jahrzehnten (wobei er diesen Zeitraum nach dem Holocaust mit Bedacht wählt) mehr bewirkt habe, als in den 200 Jahren davor.22 Doch gibt es zum Wissenschaftsfatalismus keinen Grund. Die historische Wirkung von Rede und vom Reden liegt jenseits rhetorischer Strategien, die Wissenschaft hat sich von Heilserwartungen frei zu halten, holistische Welterklärungsmodelle, auch wenn sie modisch schick als KulturtheorienKulturtheorie auftreten, sind heute mehr denn je unangebracht. Die geistreichen Aperçus über Kultur indes sind nahezu unerschöpflich. So zitiert HartmanHartman, Geoffrey etwa aus EmersonEmerson, Ralph Waldos Essay CultureCulture: „Kultur ist ein Korrektiv gegen Erfolgstheorien“23. Man könnte diese Sentenz auch dahingehend variieren, dass man sagt, Kulturtheorien scheinen ein Korrektiv gegen Erfolg zu sein. Gewiss, Kultur braucht man nicht im Sinne einer unerlässlichen Zweckanwendung; die Menschen brauchen keine Kultur, es gibt keinen notwendigen Grund, weshalb wir Kultur benötigten, weshalb Opernhäuser und Schrift, Tischsitten und Umgangsformen, Kommunikationsweisen, VerhaltensstandardsVerhaltensstandard und BewusstseinsformenBewusstseinsformen existieren. Nur, ohne Kultur ist der Mensch nichts, ohne Kultur gäbe es den Menschen nicht, und ohne Kultur lebten wir immer noch vegetativ oder primatenhaft. Der Evolutionsanthropologe Michael TomaselloTomasello, Michael definiert kulturell „im Sinne des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens (und Mißverstehens), was die Grundlage allen menschlichen Soziallebens ausmacht“ und entwickelt die These, „daß die menschliche Kognition aufgrund der menschlichen Gemeinschaft so ist, wie sie ist, d.h. aufgrund jener besonderen Form soziokultureller Interaktion und Organisation (jener traditionellen Lebensweise), die sich bei keiner anderen Art auf diesem Planeten findet“.24 So erscheint ihm eine natürliche Sprache als eine „symbolisch verkörperte soziale Institution, die sich historisch aus zuvor existierenden sozio-kommunikativen Tätigkeiten entwickelte“25. Menschliche SymboleSymbol seien „wesentlich sozial, intersubjektiv und perspektivisch“, darin würden sie sich grundsätzlich von den anderen Formen der „sensu-motorischen Repräsentation“ unterscheiden, „die allen Primaten und anderen Säugetieren gemein ist“.26

Die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Theorieangebote für eine KulturgeschichteKulturgeschichte der Literatur der Literatur ist zwar groß, die Unterschiedlichkeit könnte aber kaum größer sein. Die Einzelergebnisse der Arbeiten der achtziger und frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gehören zweifelsohne in eine umfassende, detaillierte Wissenschaftsgeschichte der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle die Diskussionsergebnisse der Münchener Forschergruppe zur SozialgeschichteSozialgeschichte der deutschen Literatur, welche die Debattenthemen der 1970er- und 1980er-Jahre folgendermaßen resümiert:27 Erstens, der bis dahin enge Literaturbegriff, der sich lediglich auf das Kriterium der FiktionalitätFiktionalität stützte, wandelt sich zum erweiterten Literaturbegriff, der auch nicht-fiktionale Texte umfasst. Zweitens, auch der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft ändert sich, es entsteht ein erweiterter Gegenstandsbereich hinsichtlich der ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption von LiteraturLiteratur. Drittens, der Zusammenhang von „‚Literatur‘ und ‚Nicht-Literatur‘“28, insbesondere von Literatur und Gesellschaft, rückt in den Vordergrund. Viertens, Probleme der literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Darstellung werden diskutiert (Makrostrukturen – Mikrostrukturen, Diachronie – Synchronie, Kontinuität – Diskontinuität, Text – Kontext, Ereignis – Struktur). Fünftens, Modelle des Wandels von LiteraturLiteratur im Verhältnis zu anderen historischen Evolutionsmodellen, die Beziehung zu ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen sowie Periodisierungsfragen gewinnen an Bedeutung. Sechstens, die Orientierung an fachübergreifenden Problemstellungen ist unverzichtbar, dies betrifft insbesondere die Theorie- und Methodenanleihen der Literaturgeschichtsschreibung. Siebtens, dies führt letztlich zur Infragestellung der gängigen Wertungen und Kanonisierungen von Literatur. Dieser Theorieansatz plädiert für die Anbindung einer zu schreibenden SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur an die Theoriediskussion Talcott ParsonsParsons, Talcott, dessen Defizienz im Hinblick auf das Teilsystem Literatur gleichwohl erkannt wird. Skepsis wird gegenüber dem Modell einer empirischen Theorie der Literatur formuliert, da diese einen Totalitätsanspruch intendiert, der durch die konkrete Textarbeit der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft nicht eingeholt werden kann. Die Unterscheidung zwischen handlungs- und textbezogenen literaturwissenschaftlichen Konzepten dürfe nicht a priori aufgehoben und deren Differenzqualitäten dürften nicht unkritisch nivelliert werden. „‚Texte‘ bleiben das entscheidende ‚Datenmaterial‘ für den Literaturwissenschafter“29. Der ausdrückliche Erhalt der HermeneutikHermeneutik als Brückenwissenschaft zu anderen PhilologienPhilologie sowie zur Philosophie-, Ideen- und Religionsgeschichte, zur Anthropologie und zur Alltagsgeschichte wird betont.30 Diese Unterscheidungsleistungen verwischen stellenweise in späteren Publikationen und treten zurück zugunsten systemtheoretischer Denkfiguren, vor allem in anderen Arbeiten der Münchener Forschergruppe zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur.31 Vor der metonymischen Auflösung der Literaturgeschichtsschreibung, die später tatsächlich zu drohen scheint, wird eindringlich gewarnt.32 In einem Theoriebeitrag zur Münchener Forschergruppe wird die Erkenntnisabsicht des Projekts Sozialgeschichte der Literatur formuliert: „Zielpunkt ist eine genauere Beschreibung des Anspruchs, der möglichen Begründungen und der Verfahrensweisen einer Sozialgeschichte der Literatur“33. Dies richtet sich vor allem gegen das diagnostizierte Theoriedefizit der Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts entstandenen SozialgeschichtenSozialgeschichte, etwa die Verlagsprojekte von Athenäum (Herausgeber Žmegač), Hanser (Herausgeber Grimminger) und Rowohlt (Herausgeber Glaser). Um eine allgemeine Sozialgeschichte der deutschen Literatur erarbeiten zu können, müsse, so der Anspruch, zuerst eine zugrundeliegende Theorie formuliert werden. Die Ausführungen werden als Untersuchungsmodell, Untersuchungsprogramm oder Arbeitskonzept bezeichnet, das unverzichtbar weitere Modifikationen erfahren müsse und dessen falsifizierende oder verifizierende Fortschreibung ausdrücklich gefordert wird. In einem anderen Beitrag heißt es dementsprechend: „Wir wären nicht unglücklich, wenn u.U. wesentliche Elemente unserer Modellannahmen im Fortgang der Ausarbeitung empirischer Fallstudien aufgegeben und durch andere Modellannahmen ersetzt werden müßten“34. Das strukturfunktionalistische Konzept stellt neben die Analyse der Prozesse von Differenzierung und Integration der diversen Systeme und Subsysteme die Untersuchung der Geschichte von FunktionenFunktion der Literatur, Normen und Institutionen der LiteraturLiteratur.35 Ergänzend neben die eigentliche Systemgeschichte tritt damit eine zu erarbeitende Funktionengeschichte, Normgeschichte und Institutionengeschichte. Eine Sozialgeschichte der Literatur wird als eine „Geschichte der Prozesse, Strukturen und Funktionen im ‚Sozialsystem Literatur‘“36 definiert. Der Funktionswandel betrifft hauptsächlich die kommunikativen Funktionen der Literatur, er bezieht sich auf

„die Austauschbeziehungen zwischen Bedürfnissen und Fähigkeiten, Erwartungen und Absichten der Aktoren; als Geschichte der literarischen Rollenbilder und Handlungsmuster; mit Blick auf die literarischen Institutionalisierungen und literaturbezogenen Institutionen; als Geschichte der Austauschbeziehungen und Abgrenzungen zwischen den Handlungsbereichen von Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung von Literatur; in Orientierung an der Entwicklung und Durchsetzung bestimmter literarischer Normen (und ihrer Vermittlung mit sozialen Normen); als Geschichte der Austauschbeziehungen und Abgrenzungen zwischen Kommunikationsräumen und Teilsystemen des ‚Sozialsystems Literatur‘ sowie – intersystemisch – als Geschichte der Austauschbeziehungen und Abgrenzungen des ‚Sozialsystems Literatur‘ gegenüber anderen Systemen in der Gesamtgesellschaft“37.

Bei diesem Stand der Theoriediskussion hatten sich bereits zwei gravierende Vorannahmen theoretischer Art eingeschlichen, deren Herkunft aus einer systemtheoretisch gewendeten Empirischen Theorie der Literatur (ETL) deutlich wird. Nun ist erstens nicht mehr die Rede von Texten, sondern von literarischen Handlungen, und zweitens wird neben der ProduktionProduktion, der DistributionDistribution und der RezeptionRezeption von Literatur ein vierter kommunikativer Handlungsbereich angesetzt, nämlich die Verarbeitung. Dies bedeutet eine handlungstheoretische, differenzqualitative Vorentscheidung, indem Verarbeitung als eigenständiges Handlungsmuster von Literatur evaluiert, aber nicht begründet wird. Dieses Manko wird erkannt und daher nachdrücklich dessen Kompensation gefordert. Im Vorwort zum ersten Band des Konzeptes einer Empirischen Theorie der Literatur ist zu lesen:

„Als Gegenstandsbereich einer Empirischen Literaturwissenschaft wird hier der Gesamtbereich sozialer Handlungen an und mit sogenannten literarischen Werken angesetzt. Damit richtet sich dieses Buch schon vom Ansatz her gegen jede Ontologisierung literarischer Werke und gegen jeden Primat der sogenannten Interpretation als literaturwissenschaftliche Hauptaufgabe“38.

Dass dies letztlich auf eine Vorzensur (im Interesse der ETL) der ‚sinnvoll stellbaren Fragen‘ an einen TextText hinausläuft, lässt sich nicht verhehlen.39 Wenn so gegen die interpretatorische Praxis argumentiert wird, muss die Bemerkung erlaubt sein, dass eine Theorie ebenso wie ein literarischer Text verstanden werden müssen und die bloße Negation von VerstehenVerstehen nicht das Problem löst. Zugespitzt formuliert, wenn wir nicht in der Lage sind, mit einer systemtheoretischen Theorie – denn um einen solchen Doppelkopf handelt es sich ja bei allen Adaptionsversuchen – beispielsweise ein BarockgedichtBarock, ein Sturm-und-Drang-DramaSturm und Drang oder einen Gegenwartsroman zu interpretieren, ist sie wenig hilfreich. Überhaupt liegt in der Wahl der historischen Schnittstelle ein bislang nicht behobenes Problem, das auch von den Neuansätzen einer SozialgeschichteSozialgeschichte der LiteraturLiteratur nicht befriedigend gelöst worden ist. Vier elementare Handlungsrollen werden definiert, die ProduktionProduktion, die Vermittlung, die RezeptionRezeption und die Verarbeitung von literarischen Kommunikaten, wie Texte genannt werden.40 Eine handlungstheoretische Begründung bleibt aus. Die LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte wird, ebenso wie die Textinterpretation, aus dem Gegenstandsbereich der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft hinauskomplimentiert. „‚Literarhistorie in der ETL‘ bedeutet: Erforschung der Geschichte aller in der ETL konzipierten Elemente des Systems LITERATUR im Kontext der übrigen gesellschaftlichen Systeme in einer Gesellschaft G bzw. in einer Menge von Gesellschaften {G1, …, Gn}“41. Gegen dieses systemtheoretische Modell lassen sich zwei entscheidende Einwände formulieren. Erstens, das kybernetische Black-Box-Modell, mit dem die Systemtheorie arbeitet, taugt nicht zur Erklärung literatur- und sozialgeschichtlicher Prozesse. Damit hängt zweitens zusammen, der Verzicht auf Selbstbeobachtung (intrasystemisch wie extrasystemisch) zeitigt fatale Folgen. Der Beobachterstatus mutiert zu einem logischen Unding. Selbst Teil eines Subsystems (Kunst, Wissenschaft) vermag es dennoch Aussagen komplexer Art über das Gesamtsystem zu treffen. Im Gegensatz dazu wird im strukturfunktionalistischen Modell an der Einsicht in die Schieflage des handlungstheoretischen Modells festgehalten. Literatur ist und erzeugt eine asymmetrische Kommunikationssituation, wenn Literatur als literarische Kommunikation im Sinne einer Handlung der Sinnverständigung begriffen werde.42 Hier lag ein Schwachpunkt dieses Arbeitskonzeptes, das sich gelegentlich durchaus auch als heuristisches Konzept belastbar zeigte. Zu Recht wird aber der Totalitätsanspruch der ETL zurückgewiesen,43 deren Theorieanspruch auf formaldefinitorischen und nicht auf analytischen Aussagen beruhe.44

Allgemein lassen sich für eine Sozialgeschichte der Literatur vier programmatische Punkte formulieren. Erstens, eine Sozialgeschichte der Literatur untersucht Texte (in die Systemsprache übersetzt sind dies literarische Kommunikationshandlungen) im Hinblick auf die vier differenten Handlungsbereiche von Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung. Allerdings bleibt unklar, in welcher Hinsicht diese Handlungsbereiche different sind, ob gesellschaftlich, historisch, diskursiv oder vom Status der theoretischen Explikation her gesehen. Zweitens, eine Sozialgeschichte der Literatur untersucht die differenten Kommunikationsräume und Teilsysteme des Sozialsystems Literatur. Drittens, eine Sozialgeschichte der Literatur untersucht die Spezifika und die Ergänzung des literarischen Handelns zu anderen Kommunikationshandlungen in anderen Sozialsystemen. Viertens, eine Sozialgeschichte der Literatur analysiert die Beziehung des Sozialsystems Literatur zu anderen Sozialsystemen im Makrosystem Gesellschaft.45

Das Modell einer SozialgeschichteSozialgeschichte der LiteraturLiteratur will Monokausalität und Substanzialisierungen bei der Darstellung und Analyse historisch umfassender Prozesse abwehren.46 Obwohl eine Annäherung der Sozialgeschichte der Literatur an die ZivilisationstheorieZivilisationstheorie skeptisch beurteilt wird, ergäben sich an diesem Punkt Möglichkeiten einer Diskussion des Modells einer zivilisationstheoretisch ausgerichteten LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft auf der Grundlage der ZivilisationstheorieZivilisationstheorie von Norbert EliasElias, Norbert.47 Texte werden als „Träger einer spezifischen – literarischen – Kommunikationsleistung“48 verstanden, die allerdings weit über den Status eines reinen Informationstransports hinausgehen würden. Eine SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur – was so viel heißt wie eine Geschichte des Sozialsystems LiteraturLiteratur – operiere mit einem erweiterten Literaturbegriff, der die kanonisierten, sogenannten Höhenkammtexte ebenso mit einschließt wie die Trivial- und Gebrauchsliteratur. Berücksichtigt werden sollen auch literaturbezogene Handlungen aus den Handlungsbereichen ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption der Literatur. Der Handlungsbereich Verarbeitung wird in diesem Zusammenhang nicht mehr genannt.49 Die Orientierung an Talcott ParsonsParsons, Talcott’ Beiträgen zur funktionalistischen Handlungstheorie bleibt aber die Basis einer Sozialgeschichte der Literatur. Skepsis formulieren die Autoren gegenüber der luhmannschen Systemtheorie, die mit einem ontologisierenden Begriff des Kunstwerks operiere. Abgrenzungen werden gegenüber BourdieusBourdieu, Pierre Feld-Konzept und der foucaultschenFoucault, Michel Diskursanalyse angemahnt.50 Doch gerade am Gebrauch des Institutionenbegriffs könnte sich eine gemeinsame Schnittstelle zwischen einer Sozialgeschichte der Literatur münchener Provenienz und der Diskursanalyse foucaultscher Provenienz ergeben.51 Allerdings wird definitorisch festgelegt, dass die parsonssche AGIL-Matrix (verkürzt gesagt: Wirtschaft, Politik, Recht/Sozialkontrolle, Kunst/Wissenschaft/Religion als Funktionsbereiche auf der Systemebene des Gesamtsystems Gesellschaft)52 Gültigkeit besitzt, und sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein selbstständiges Subsystem benennen lässt, nämlich als Sozialsystem LiteraturLiteratur. Die Vorbehalte gegenüber dem handlungstheoretischen Defizit des systemtheoretischen Ansatzes sind nun aufgegeben. Stattdessen wird festgelegt:

„Literarisches Handeln ist eine Funktion von übergreifenden gesellschaftlichen Konstellationen und Prozessen, und es hat eine Funktion für die Situierung und Veränderung von gesellschaftlichen Vorgängen; es ist als gesellschaftlich bewirktes und zugleich als gesellschaftlich wirkendes Handeln zu verstehen (wenn auch Spektrum und Reichweite solcher Wirkungen begrenzt sind)“53.

Eine SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur erhebe wie alle Theoriebildung einen normativ-historiografischen Anspruch. Sie ziele auf eine Neumodellierung der literaturgeschichtlichen Periodisierungen. Die Gefahr einer bloßen Umschreibung (im Sinne von TransformationTransformation) bisheriger Epochenbegriffe wird aber erkannt. Wie dies konkret zu bewerkstelligen ist, bleibt indes unklar. Nachhaltig wird vor einem essenzialistischen Sprachgebrauch, der sowohl in der Systemtheorie selbst als auch bei den diversen Adaptionsversuchen in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft drohe, gewarnt. Aussagen wie ‚das System handelt, steuert oder entwickelt sich‘ seien ein Rückfall in ontologische Modellvorstellungen, die es abzuwehren gelte.54 Die Forderung nach mehr Empirie in der Literaturgeschichtsschreibung könnte man bereits als ein Rückzug aus der Theoriediskussion verstehen. Doch wird damit lediglich angemahnt, dass bei allem systemtheoretischen Überschuss einer theoretischen Grundlegung der Sozialgeschichte der Literatur das Datenmaterial, eben die Texte selbst, nicht vergessen werden dürften. Die Bemühungen der Münchener Arbeitsgruppe können in einem Satz zusammengefasst werden: „Sozialgeschichte der Literatur soll – im Sinne unseres Vorgehens – eine Perspektive literaturwissenschaftlicher Praxis entwerfen, die im zugeordneten Untersuchungszusammenhang theoretisch begründet, systematisch entwickelt und in ihren Erkenntniszielen kontrolliert ist“55.

Insgesamt wäre es unumgänglich, eine kritische, gleichwohl sorgfältige Diskussion mit Positionen der Systemtheorie, der Empirischen Literaturwissenschaft und des Radikalen Konstruktivismus zu führen. Dabei müsste geprüft werden, ob die Systemtheorie und die Empirische Theorie der LiteraturLiteratur sich tatsächlich einen monopolistischen Kommunikationsstatus verschaffen, der im Verbund mit dem systemtheoretischen Deduktionismus zu einer Kritikimmunisierung führt. Systemtheorie wäre demnach das System, das sich selbst erzeugt. Diskursanalytisch gesehen ist das, was diese Art von Systemtheorie generiert, der obsolet gewordene Versuch, Wahrheit über die Restituierung von Totalität zu normieren. Der Vorwurf der Generalisierung von Leerformeln, der sowohl an die Adresse der Systemtheorie als auch des Radikalen Konstruktivismus gelegentlich gerichtet wird, müsste genau geprüft werden. Auch hier gilt der bewährte Grundsatz, die Tauglichkeit einer Theorie zeigt sich erst in ihrer historischen Anwendung.

Zur Geschichte der textualistischen KulturtheorieKulturtheorie und mithin zur Geschichte des semiotischen KulturbegriffsKulturbegriff gehört, dass schon Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich im berühmten Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 216 diesen selbst ins Spiel gebracht hat: „Selbst in unsern dürftigen KulturgeschichtenKulturgeschichte, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verloren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle, als alles, was diese trieb“56. Neu ist der semiotische Kulturbegriff also nicht, für die Theoriediskussion in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft war er aber ungemein stimulierend. Mitte der 1990er-Jahre befand Klaus P. Hansen über diesen Kulturbegriff:

„Wenn man ihn auf wirklich dialektische Weise verwendet, besitzt er das Zeug, die Kulturwissenschaften paradigmatisch auf ein neues Fundament zu stellen. Er könnte der Ausgangspunkt werden sowohl für weiterführende theoretische Überlegungen als auch – und das insbesondere in den Landeskunden – für neue Forschungspraxis. So alt die Kulturwissenschaften sind, sie stehen wieder einmal am Anfang“57.

Zum Heilsversprechen tritt nun die Heilserwartung. Dass damit auch der semiotische KulturbegriffKulturbegriff überfordert ist, liegt auf der Hand.

Gleichsam in den Rang eines Locus classicus wurde der Aufsatz von Clifford GeertzGeertz, Clifford Dichte BeschreibungDichte Beschreibung (1973) erhoben.58 Im Theorievertrieb wird dieser Publikation geradezu als Keimzelle der Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie gehuldigt. Ich fasse jene wesentlichen Aspekte und Akzente von Geertz zusammen, die in der kulturwissenschaftlichen Debatte in Deutschland eine zentrale Rolle spielen. Geertz beruft sich zunächst auf Max WeberWeber, Max, um sein Verständnis eines semiotischen Kulturbegriffs darzulegen.

„Ich meine […], daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen“59.

Den Ausdruck dichte Beschreibung übernimmt Geertz von Gilbert RyleRyle, Gilbert. Darunter versteht Geertz das, was man traditionell als InterpretationInterpretation, also als die eigentliche Deutungsarbeit der Fakta und Positiva bezeichnet, welche der Ethnologe – um diesen Wissenschaftstypus geht es Geertz allein – im ethnografischen Arbeiten leistet. „Analyse ist […] das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen […] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“60. Interessant dabei ist, was Geertz innerhalb dieses Zitats in einer Parenthese anführt. Eine literaturwissenschaftlicheLiteraturwissenschaft Tätigkeit dürfe nicht mit dem Vorgang des Dechiffrierens verwechselt werden. Die Chiffre eignet dem Objekt, mithin bedeutet Dechiffrieren den Zugang zu den Objektchiffren freilegen. Literaturwissenschaftliches Arbeiten hingegen ist für Geertz ein wissenschaftliches Sekundärphänomen, nämlich das der DeutungDeutung des Objekts durch den Interpreten. Doch dagegen muss geltend gemacht werden, dass Chiffren sich nicht von selbst und nicht sich selbst deuten. Die Ethnografie ist für Geertz dichte Beschreibung, es geht dabei um die „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“61. KulturKultur sei öffentlich – mit dieser Behauptung eröffnet GeertzGeertz, Clifford den dritten Teil seines Essays. Kultur bestehe aus Ideen, sei unkörperlich und ihr ontologischer Status uninteressant. Es geht allein um die Frage nach der Bedeutung der Kultur oder kultureller Phänomene. Und nun schließt sich der Kreis, „Kultur ist deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist“62. „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen […] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind“63. Ethnologie, welche diese Beschreibungsarbeit leistet, ist eine Form der InterpretationInterpretation zweiter und dritter Ordnung. Ethnologische Interpretationen sind FiktionenFiktion, wobei Geertz ausdrücklich darauf hinweist, dass sich dieser Begriff nicht auf den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, sondern allein auf den Aspekt des Hervorbringens, des Gemachtseins bezieht. Etymologisch zwar korrekt, terminologisch aber problematisch verweist er auf die ursprüngliche Bedeutung von fictio als Gemachtes, Gebildetes. Fiktion indes meint sowohl umgangssprachlich als auch wissenschaftlich etwas Erfundenes; hier müssen also die Rezipierenden entscheiden, ob sie der eigenwilligen Lesart von Geertz folgen mögen oder ob sie etwas in diese vermeintliche Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie über die Brücke der Wortgleichheit hineinlesen, das Geertz ausdrücklich ausschließt. Was die Qualität einer Interpretation ausmacht, erklärt Geertz ebenfalls. Er spricht nicht von der richtigen oder der wissenschaftlichen, sondern von der guten Interpretation. Die gute Interpretation „von was auch immer – einem Gedicht, einer Person, einer Geschichte, einem Ritual, einer Institution, einer Gesellschaft – versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“64. Methodologisch gesehen nähert sich dies einem hermeneutischenHermeneutik Verständnis der Kayser-Staiger-Schule in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und zielt letztlich auf die interpretatorische Feier einer Affirmation des Gegenstandes, restaurative Bedeutung anstelle kritischer DeutungDeutung, statt der Fragen an den Gegenstand nun geheiligte Emphase.65 Eine ethnologische Interpretation, so Geertz weiter, versucht den sozialen Diskurs niederzuschreiben, ihn festzuhalten. Dieser Moment der Verschriftlichung garantiert Dauer des Flüchtigen. Dies gilt allerdings, so kann man kritisch einwenden, allgemein für sprachliche Konzeptualisierungsformen sozialen Handelns. Das Besondere der ethnografischen Interpretation scheint lediglich im Gegenstandsbereich der Beschreibung, nicht aber im Beschreibungsvorgang selbst zu liegen. GeertzGeertz, Clifford macht in diesem Zusammenhang auf ein grundlegendes Problem aufmerksam, das er zwar eng am Beispiel seiner Disziplin diskutiert, das sich aber ebenso gültig für jegliche Form kulturwissenschaftlichen Arbeitens in Anschlag bringen lässt. Die InterpretationInterpretation folge dem triadischen Erkenntnisschema der Beobachtung, der Verschriftung und der Analyse.66 Diese drei Schritte lassen sich aber in der Regel nicht voneinander differenzieren, es sind keine autonomen Operationen. Geertz diskutiert dieses Problem nicht erkenntnistheoretisch in der Form, dass bereits die Beobachtung beispielsweise geleitet werden kann von Verschriftungspraktiken und Analyseinteressen. Er hebt auf einen anderen Aspekt ab, wonach der Eindruck der operativen Autonomie dieser drei Schritte eine WirklichkeitWirklichkeit und eine Wissenschaft von der Rekonstruktion dieser Wirklichkeit suggeriert, die es nicht gibt. Geertz hält dagegen: „Die Untersuchung von KulturKultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“67. Auch hier findet sich kein Hinweis auf eine wenigstens in Ansätzen zu erkennende Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie. Demnach fußt die kulturwissenschaftliche Arbeit letztlich auf Plausibilitätsüberlegungen, die ein emphatisches InterpretierenInterpretieren voraussetzen; das bleibt aus der Sicht der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ein fragwürdiges Verfahren. Abschließend benennt GeertzGeertz, Clifford vier Merkmale einer ethnografischen Beschreibung: sie ist deutend; sie deutet den Ablauf des sozialen Diskurses; Deuten heißt die Dauerhaftigkeit dieses Diskurses sichern (die Begründung, weshalb dies so ist, bleibt unklar); und sie ist mikroskopisch.68 Geertz begreift also keinesfalls Kultur als TextKultur als Text, sondern die Ethnologie und Ethnografie als Interpretation vorgängiger Zeichen- bzw. SymbolkettenSymbol, die wiederum nicht die KulturKultur sind, sondern zu denen Kultur lediglich den, wie er es nennt, Rahmen darstellt. Undeutlich bleibt bei Geertz auch, ob sein Verständnis von analytischer Tätigkeit (etwa in der Herausarbeitung von Bedeutungsstrukturen) diese Tätigkeit am Erkenntnisgegenstand selbst oder in der Gegenstandserkenntnis meint. Sind Bedeutungsstrukturen dem Wissenschaftsobjekt inhärent oder dem wissenschaftlichen Subjekt? Auf welcher Seite der Erkenntnisarbeit also sind Bedeutungsstrukturen zu veranschlagen? Immerhin konzediert Geertz, dass Bedeutung eine „schwer faßbare und verworrene Pseudoeinheit“ sei, die man bislang nur zu gerne den Philosophen und Literaturwissenschaftlern „zum Herumprobieren“ überlassen habe.69

Andreas Reckwitz hat die Überlegungen von Geertz einer ausführlichen Kritik unterzogen. Ebenso kritisch werden auch deren Kritiker betrachtet. Reckwitz kommt zu dem bedeutenden Schluss, dass die KulturtheorieKulturtheorie von Geertz sich keineswegs auf ein textualistisches Kulturverständnis reduzieren lasse, sie seien nicht mehr als eine „Episode“70. Reckwitz geht davon aus, dass die texualistischen KulturtheorienKulturtheorie mit dem Vorverständnis eines autonomen Sinns operieren, den die kulturell codierten Signifikate vor aller Erkenntnis enthielten.71 Reckwitz definiert diesen Ansatz folgendermaßen:

„Der Kultur-als-Text-Ansatz geht im Unterschied zur Theorie sozialer Praktiken davon aus, daß mentale Phänomene aus der Kultur- und Wissensanalyse exkludiert werden können und müssen. Die symbolische Konstitution der sozialen Welt ist aus textualistischer Perspektive in den […] Sequenzen von Symbolen und Zeichen zu suchen, die im weitesten Sinne einen öffentlichen und dechiffrierbaren ‚Text‘ bilden und die sowohl sprachlich-semantische Symbole als auch Gesten, Körper, Rituale und kulturelle Artefakte wie Kunstwerke, symbolisch konnotierte Gegenstände etc. umfassen“72.

Mit Blick auf GeertzGeertz, Clifford wird auch von dessen „synekdochischem Verständnis von Kultur als TextKultur als Text“73 gesprochen, womit die Formel Kultur als Text gemeint ist, die sich aber schon sprachlich keineswegs als eine Metonymie, mithin als Synekdoche, sondern als metaphorische Rede erweist. Der Begriff Kultur mag die uneigentliche Redeweise einer Synekdoche bezeichnen, worin die Vielzahl in der Einzahl benannt wird, keineswegs aber die Kultur-als-Text-Formel. Und eine ethnografische LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, wie sie implizit gefordert wird, ist eine ebensolche problematische Projektionsfigur wie der New HistoricismNew Historicism, als dessen Ziel eine Poetik der Kultur definiert wird, „die jene kulturellen Praktiken untersucht, in deren Spannungsfeld LiteraturLiteratur entsteht“, und deren angemessene Darbietungsweise eine Form der „bewußt anekdotischen, subjektiven Präsentation“ sei.74 Die Begeisterung, mit der die dichte Beschreibung oder das, was man dafür hielt, eine Zeitlang vonPoetik der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, die kulturwissenschaftlich arbeiten wollte, aufgenommen wurde, hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts nachgelassen. Doch erzeugte dies eine Art Theorievakuum. Damit stellt sich die Frage nach den Perspektiven einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, die sich auf ein textualistisches Kulturverständnis berufen will. Denn bei aller Kritik an Geertz ist doch deutlich zu erkennen, dass sich das Kultur-als-Text-Kultur als TextParadigma noch lange nicht erschöpft hat.

Begreift man LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als eine Kulturwissenschaft läuft dies auf eine Kulturgeschichte der Literatur hinaus.75 Nach langen Theorie- und Methodendiskussionen scheint die Zeit gekommen, die Denkfigur einer KulturKultur als Entität zu verabschieden. Wenn wir von Kulturgeschichte der Literatur sprechen, muss auch geklärt werden, welches Verständnis von Kulturgeschichtsschreibung dabei zugrunde liegt. Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur hat mit den in der Literaturwissenschaft bekannten Formen der Kulturgeschichtsschreibung nur wenig gemein. Es gibt unterschiedliche Formate von Kulturgeschichtsschreibung wie die genannten exemplarische KulturgeschichteKulturgeschichte, die systematische, die enzyklopädische, die tabellarisch-rubrikatorische oder die berufsständische Kulturgeschichte. Die marxistische Kulturgeschichtsschreibung und Kulturtheorie verstand die Geschichte der Kultur als eine Geschichte von Klassenkämpfen. Ein objektivierbarer Kulturbegriff wurde dabei vorausgesetzt. So forderte Sokolow etwa einen allgemeingültigen Kulturbegriff von der Wissenschaft, welcher der objektiven Wahrheit über die Kultur entspreche.76 Das ist Geschichte. Völlig zu Recht wurde aber auch gegen die Verknüpfungen von Literaturgeschichte als Geistes-, Diskurs- oder KulturgeschichteKulturgeschichte der Einwand vorgebracht, dass Probleme der Differenzierung und auch Abgrenzung der Objektbereiche dadurch nicht gelöst würden, sofern damit gemeint war, dass sich lediglich die Probleme des spezifischen Objektbereichs verschieben.77 Von Friedrich JodlsJodl, Friedrich Buch CulturgeschichtsschreibungCulturgeschichtsschreibung (1878)78 bis hin zur Neubearbeitung des Handbuchs der KulturgeschichteHandbuch der Kulturgeschichte (1960–86, Erstausgabe 1934–39) als dem letzten enzyklopädischen Mammutunternehmen dieser Art liegen genügend Beispiele vor, wie Kulturgeschichte nicht mehr geschrieben werden kann. So verfolgen einzelne Bände des Handbuchs ein Konzept der Darstellung, das selbst schon wieder Gegenstand einer Kulturgeschichte der Literatur ist, die danach fragt, wie LiteraturLiteratur (populär)wissenschaftlich vermittelt wird.79 Auch das tabellarisch-rubrikatorische Beispiel einer Kulturgeschichte der Literatur scheidet aus, da es dem positivistischen Irrtum aufsitzt, dass Zahlen und Fakten für sich sprächen.80 Und was sich gerne als Mentalitätsgeschichte in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und als legitimes Kind der SozialgeschichteSozialgeschichte ausgibt, ist oftmals nur ein Deckname für das, was früher Kulturgeschichte genannt wurde.81

Zwischen den Ungeheuern hermeneutischerHermeneutik Abstinenz und positivistischer Trunkenheit wird das Schiff einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur navigieren müssen. Eine Theorie muss in der Lage sein, jeden beliebigen einzelnen Text zu deuten. Sie darf sich nicht in die klösterliche Abgeschiedenheit der Ausnahmeregelungen oder hinter wehrhafte systemische Mauern zurückziehen. Das Fachverständnis einer SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur hatte sich in seinen Anfängen in den 1970er-Jahren zur Aufgabe gesetzt, aus dem Gefängnis der Immanenz der Texte, aus ihrer ästhetischen Einzelhaft auszubrechen und eine im guten Wortsinn positivistische Basis des Faches neu zu erarbeiten, LiteraturLiteratur wieder im Hinblick auf ihre soziale BedeutungBedeutung und kulturelle Praxis zu begreifen. Dies hatte für das Fach Germanistik weitreichende Folgen. Heute steht eine sozialgeschichtlich-kulturwissenschaftliche LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft vor der Aufgabe, sich zwischen der Skylla Neopositivismus und der Charybdis Posthermeneutik, zwischen Vereinseitigung der Problem- und Themenvielfalt und Verzicht auf gewonnene Standards zu behaupten. Eine Kulturgeschichte der Literatur, die mehr ist als bloße Rezeptionsforschung, bewahrt die klassische sozialgeschichtliche Trias von ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption von Literatur, denn wird diese Trias aufgesprengt, führt dies unweigerlich zu Vereinseitigungen. Eine offene Literaturwissenschaft, eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft kann einen Modernisierungsschub in dieser Disziplin leisten. So gesehen würde eine Kulturgeschichte der Literatur zum Bindeglied zwischen der Literaturwissenschaft als Textwissenschaft und einer Kulturwissenschaft, welche die kulturellen Praktiken und sozialen Gebrauchsweisen von Literatur berücksichtigt. Ihre Themen reichten von der Handschriftenüberlieferung bis zur heutigen Medienkonkurrenz, und sie dürfte durchaus sowohl einen retrospektiv-historischen als auch einen prognostischen Anspruch erheben. Jacob Burckhardt hatte die Frage ‚Was ist Kulturgeschichte?‘ noch definitorisch beantwortet: „Die Kulturgeschichte ist die Geschichte der Welt in ihren Zuständen“82. Eine Kulturgeschichte der Literatur dagegen ist nicht Ereignisgeschichte, sondern Prozessgeschichte. Darin kann sie sich von herkömmlichen LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte unterscheiden. Sie rekonstruiert nicht Literaturgeschichte, sondern fragt nach der BedeutungBedeutung und FunktionFunktion der LiteraturLiteratur im kulturellen Prozess. Darin liegt ihr spezifisches Erkenntnisinteresse.83 Eine kulturwissenschaftliche LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft arbeitet mit am großen unabschließbaren Projekt einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur. Dass eine „brauchbare Literaturgeschichte“ aber nicht nur transdisziplinär arbeiten muss, sondern auch „kulturenübergreifend“ sein soll,84 wie Stephen GreenblattGreenblatt, Stephen meint, ist eine offensichtliche Überforderung. Greenblatts Begriff von LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ist allerdings auch einem eingeschränkten Verständnis verpflichtet, wenn er schreibt: „In der Literaturgeschichte geht es immer um die Beziehungen zwischen den Bedingungen, die das literarische Werk für diejenigen, die es schufen, möglich machten, und den Bedingungen, dies es für uns selbst möglich machen. Insofern ist Literaturgeschichte immer die Geschichte der Möglichkeit von Literatur“85.

Natur metaphorisch als BuchBuch zu lesen ist uns lange geläufig. Nun aber wird dieser Blick umgekehrt, nicht die Natur erscheint als ein Text, sondern das, was der Fall ist, die KulturKultur. Das ist der Blick der ModerneModerne, diesen Blick verstehen zu lernen ist eine genuine kulturwissenschaftliche Aufgabe der Literaturwissenschaft. Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich schreibt im 22. Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment, Projekte seien „Fragmente aus der Zukunft“86. Und um mehr kann es in diesem Buch nicht gehen. Die Literaturwissenschaft ist kein abseits gelegenes, verwunschenes Schloss mehr, sondern eine Metropole, die durch eine Kartografierung nichts von ihrem Charme verliert. Was wir benötigen ist eine Kultur der Wege, welche die geheimnisvollen Seitenpfade, die unerforschten Wege, die Wildnis ebenso mit einschließt, wie die bequem gangbaren, die den Warenverkehr und den Austausch intellektueller Güter fördernden Hauptwege. Eine Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, eine Kulturgeschichte der Literatur appelliert an ein neues Verständnis von Literaturwissenschaft, das sich der PhilologiePhilologie zwar bedient, sich aber nicht darin erschöpft; sie plädiert für eine LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, die nicht vergisst, weshalb sie auf den Wegen zur KulturKultur unterwegs ist, dass Ausgangs- und Endpunkt je die LiteraturLiteratur ist.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

Подняться наверх