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AUFKLÄRUNG LenzLenz, Jakob Michael Reinhold Die AlgiererDie Algierer (1771 / 1775)

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In der Forschungsliteratur zu Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold und in den Ausgaben seiner Werke wurde über 25 Jahre lang eine Handschrift der PlautusPlautus, Titus Maccius-Bearbeitung mit dem Titel Freundschaft geht über Natur oder Die AlgiererDie Algierer erwähnt, die in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky aufbewahrt wird. Dabei ist jeweils ohne nähere Charakterisierung des Manuskripts von „Fragmente[n]“, dem „verschollene[n] Drama“ oder einer „Abschrift“ die Rede.1 Zu der von Richard Daunicht zweimal (1967 und 1985) angekündigten Publikation der Hamburger Algierer-Handschrift ist es nicht gekommen; über die Genese, den Inhalt und den Grad der Authentizität des Manuskripts war man im Ungewissen.

Bei der Hamburger Algierer-Handschrift handelt es sich ohne Zweifel nicht um ein Originalmanuskript von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, sondern um eine Abschrift von fremder Hand. Die Annahme, Lenz selbst habe in Straßburg eine Abschrift anfertigen lassen und diese an Friedrich Wilhelm GotterGotter, Friedrich Wilhelm nach Gotha geschickt, wird durch die Briefe an diesen vom Dezember 1775 und vom 20. Mai 1776 widerlegt.2 Hier weist Lenz darauf hin, das Ende November 1775 Gotter übersandte Manuskript sei „das einzige“ (S. 356), das er habe, er besitze „keine Abschrift“ (S. 448) der AlgiererDie Algierer. Das von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold nach Gotha geschickte Originalmanuskript der Algierer muss heute als verschollen gelten. Die durch den Briefwechsel zwischen Lenz und Gotter 1775/76 nahegelegte Vermutung, Gotter oder Abel SeylerSeyler, Abel könnten die Abschrift besorgt haben, konnte durch Handschriftenvergleich nicht bestätigt werden. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass sie von der Hand eines Schreibers aus dem Umkreis GottersGotter, Friedrich Wilhelm in Gotha stammt.

Nach dem jetzigen Kenntnisstand ist es nicht möglich, den Weg der Handschrift bis zu ihrem heutigen Aufbewahrungsort lückenlos zu rekonstruieren. Das Manuskript befand sich seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Theater-Bibliothek des Hamburger Stadttheaters. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Bestand der Theater-Bibliothek von der Stadtbibliothek Hamburg als Leihgabe übernommen. Mit der Umwandlung der Stadtbibliothek zur Universitätsbibliothek im Jahre 1919 gelangte auch das AlgiererDie Algierer-Manuskript in die heutige Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky.3 Dass es sich bei der Handschrift um einen Text von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold handelt, wurde jedoch erst in den 1960er-Jahren entdeckt.4 In der Frage, wie das Manuskript ursprünglich nach Hamburg gelangte, kann man lediglich mutmaßen, dass es über die schrödersche Schauspielgesellschaft dorthin kam. Lenz selbst hatte Friedrich Ludwig SchröderSchröder, Friedrich Ludwig im Brief an Gotter vom 20. Mai 1776 ins Gespräch gebracht:

„Wenn Sie lieber Freund! die Algierer noch nicht weggegeben haben, so wollt ich Ihnen unmaßgeblich raten sie Herrn Bode anzuvertrauen, der sie der Schröderschen Gesellschaft in Hamburg zu spielen gibt (die Ihnen gewiß reichlicher zahlen wird als keine andere) und sie sodann auch dort kann drucken lassen, woran mir am meisten gelegen da ich keine Abschrift davon habe und sie doch wieder einmal lesen möchte.“ (S. 448)

Gegen Johann Joachim Christoph BodeBode, Johann Joachim Christoph als Vermittler zwischen GotterGotter, Friedrich Wilhelm und SchröderSchröder, Friedrich Ludwig spricht allerdings Bodes Brief an Heinrich Christian BoieBoie, Heinrich Christian vom 20. Dezember 1776, in dem er mit schroffen Worten bestreitet, mit den AlgierernDie Algierer befasst gewesen zu sein.5

Zur Rekonstruktion von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold’ Beschäftigung mit den AlgierernDie Algierer, die in einem philologisch bedeutsamen Detail auch Aufschluss über den Authentizitätsgrad der Hamburger Abschrift gibt, sei kurz die diesbezügliche Korrespondenz – andere verfügbare Textzeugnisse sind nicht erhalten6 – rekapituliert. Erstmals ist von den Algierern als einer „Nachahmung der captivei im Plautus“ (S. 348) die Rede in einem Brief an Gotter aus Straßburg vom 23. Oktober 1775: „Ich habe in der Tat ein kleines Stück in meinem Schrank liegen das allenfalls auch spielbar sein würde“ (S. 348). Dies ist der Terminus ante quem in der Datierungsfrage, der Terminus a quo ist weit weniger eindeutig zu bestimmen. Man muss deshalb Lenz’ erste nachweisbare Beschäftigung mit dem römischen Komödiendichter Titus Maccius PlautusPlautus, Titus Maccius (um 250–184 v. Chr.) berücksichtigen, die in das Jahr 1772 fällt.7 Im August dieses Jahres schreibt Lenz aus Fort Louis an Johann Daniel SalzmannSalzmann, Johann Daniel, dass Johann Michael OttOtt, Johann Michael, Lenzens Freund in Straßburg und Mitglied der ‚Deutschen Gesellschaft‘, im Besitz seiner „letzte[n] Übersetzung aus dem Plautus“ (S. 263) sei. Folgt man dem Hinweis Johannes Froitzheims, dass Lenz schon im Winter 1771/72 Auszüge aus seinen Plautus-Übersetzungen in der ‚Deutschen Gesellschaft‘ vorgetragen habe,8 dann lassen sich das letzte Halbjahr 1771 und das erste Halbjahr 1772 als Phase der intensiven Beschäftigung mit PlautusPlautus, Titus Maccius festhalten. Am 18. September 1772, der Adressat ist wiederum der geistige Mentor SalzmannSalzmann, Johann Daniel, nennt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold seine derzeitige Lektüre: die Bibel, „ein dicker PlautusPlautus, Titus Maccius“ (S. 276) und HomerHomer. Dieser „dicke Plautus“ steht im deutlichen Kontrast zum „kleinen Plautus“ (S. 271, Brief an Salzmann vom 7. September 1772). Letzterer wird im Zusammenhang mit dem Arrangement einer Komödienszene im Hause Schuch, wo Lenz zu dieser Zeit untergebracht ist, genannt. Das attributiv gebrauchte Possessivpronomen „meinen kleinen Plautus“ (S. 271) unterstreicht die Bedeutung besonders dieses Plautus – möglicherweise handelt es sich um Lenz’ eigene Manuskripte –, während das Indefinitpronomen „ein“ die Distanz hervorhebt: „[…] ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die Galle etwas aus dem Magen führen […]“ (S. 276).Eyb, Albrecht von9 Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird der Prozess der individuellen Vereinnahmung der römischen Dichterautorität offensichtlich, die stellvertretende Vaterautorität wird ödipal besetzt. Lenz fährt in diesem Brief fort: „Ich habe schon wieder ein Stück aus dem Plautus übersetzt […]. Noch an eins möcht ich mich machen: es ist eine Art von Dank, den ich dem Alten sage, für das herzliche Vergnügen, das er mir macht“ (S. 276). Diese Absichtserklärung könnte durchaus die AlgiererDie Algierer betreffen, und verfolgt man die Korrespondenz über die Algierer weiter, so wird ersichtlich, dass sie für Lenz das wichtigste Plautus-Stück gewesen sind.

Möglicherweise entstanden die Algierer zeitgleich zu den in dem 1774 anonym erschienenen Band Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche TheaterLustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater (Frankfurt, Leipzig) veröffentlichten PlautusPlautus, Titus Maccius-Bearbeitungen. Er enthielt Das Väterchen (Vorlage: Asinaria), Die Aussteuer (Aulularia), Die Entführungen (Miles Gloriosus), Die Buhlschwester (Truculentus) und Die Türkensklavin (Curculio).10 Für die Behauptung, „bestimmt aus dem Jahre 1775 stammen dann die ‚Algierer‘“11, lässt sich keine hinreichende Bestätigung finden. Jedenfalls hatte Lenz das Manuskript der AlgiererDie Algierer abgeschlossen, ehe er es aus finanzieller Not GotterGotter, Friedrich Wilhelm bzw. SeylerSeyler, Abel zum Kauf anbot: „Fragen Sie Herrn Seyler, ob er mir sechs sieben Dukaten dafür geben möchte, ich bin nie gewohnt gewesen, meine Sachen zu verkaufen, die höchste Not zwingt mich dazu“ (S. 348, Brief vom 23. Oktober 1775 an Gotter). Ende November 1775 schickt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold das Manuskript mit einem Begleitbrief an Gotter. Am 23. November hatte er noch den Text der Algierer in der ‚Deutschen Gesellschaft‘ vorgelesen, worüber Folgendes protokolliert wurde: „Weil derjenige den die Ordnung traf nichts hatte bringen können, las Herr Lenz eine Nachahmung der Captivei des Plautus vor, die er aber weil sie schon verkauft war, für diesmal nicht bei der Gesellschaft lassen konnte.“12 Über einen Monat war das Manuskript von Straßburg nach Gotha unterwegs, Gotter meldet am 2. Januar 1776 postwendend „die Ankunft Ihrer Algierer“ (S. 362) und legt dem Brief das geforderte Honorar von „4. Louisd’or“ (S. 362) bei (dem Notabene eines Briefes von Heinrich Christian BoieBoie, Heinrich Christian vom 10. Januar 1776 [vgl. S. 365] ist zu entnehmen, dass vier Louisdor sieben Dukaten entsprechen). Nun entspinnt sich jener Dialog über kleine Textveränderungen, der die Authentizität der Hamburger Algierer-Handschrift bestätigt. Gotter schreibt:

„Mein Urteil über die Algierer? Noch kann ich nichts, als sie loben. Zum Urteilen muß ich erst ein wenig kälter werden. Wenn dieses Stück keine Würkung tut, so geb ich mich nie wieder mit theatralischer Nativitätstellung ab. Solch ein warmes, ungeteiltes Interesse! Solche gedrängte Handlung! Solche Einfalt in Gang und Sprache! – Mich dünkt ich höre schon Ekhof Alonzo. – Daß ich, durch Hülfe eines Mittlern Vorhangs die Akte zusammengerückt und aus fünf, 3. gemacht, auch ein paar Ausdrücke gelindert habe, werden Sie mir verzeihen. Und dann einen einzigen Einwurf. Pietro ist seinem Vater ungefähr in seinem zehnten, zwölften Jahr entrissen worden. Sollt’ er sich so sehr verändert haben, daß Alonzo nicht die geringste Spur von Ähnlichkeit mehr fände – und wenn das wäre, auch der Vater? – Pietro hört sich von seinem Vater nennen und sein Herz sollte diese bekannte Stimme nicht wieder erkennen?“ (S. 362f.)

Die ursprüngliche Fassung der AlgiererDie Algierer war also szenisch auf fünf Akte angelegt und entsprach damit der plautinischen Vorlage. Gotters Eingriff zielte, wohl aus Gründen der Spielbarkeit, auf eine dramaturgische Straffung mit drei Akten. Auch bei dem Hamburger Algierer-Manuskript handelt es sich um eine dreiaktige Fassung. Doch dies allein würde noch nicht beweisen, dass es sich um die von Gotter redigierte Version von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold’ Algierern handelt. Dies belegen erst einige von Lenz brieflich nachgereichte Textänderungen, die sich beinahe unverändert in der Hamburger Abschrift wiederfinden und die zugleich als Anhaltspunkt dafür dienen, dass das Hamburger Manuskript mit GottersGotter, Friedrich Wilhelm Bearbeitung sehr nahe an Lenz’ ursprünglichen Text heranreicht. Lenz bedankt sich im Brief vom 14. Januar 1776 für Gotters Verbesserungen, obgleich er sie nicht kennt: „Ich danke Ihnen mit ganzem Herzen, Bester! für die freundschaftliche Mühwaltung die Sie haben geben wollen, meinen Seeräuber in die Hosen zu bringen“ (S. 367); er geht auf Gotters „einzigen Einwurf“ (S. 362) inhaltlicher Art ein und knüpft daran noch weitere Textänderungen:

„Da Sie doch einmal so freundlich sind und sich mit dem Buben [Die Algierer] zu tun geben wollen, so bitte ich Hn. Seiler oder wem Sie ihn anvertrauen auch noch folgende kleine Einschiebsel in den Dialog zuzusenden, die das Ganze überschaulicher machen und vielleicht manche kleine Hindernisse an die sich die Täuschung stieß, wegräumen werden. Etwa in der ersten Szene ersten Akts, sobald Alonzo Marianen den Anschlag entdeckt hat, den er mit dem Sklaven hat (wie die Stelle heißt kann ich mir nicht mehr erinnern) könnte der antworten, eh er ihm noch den Glückwunsch tut

MAR. Wie aber wenn Sie alles dies nicht nötig hätten und Ihr Sohn etwa gar mit unter den Sklaven wäre, die der Ritter Ackton eingebracht hat

ALONZO Er würde mich sogleich aufgesucht haben

MAR. Er vermutet Sie aber noch in Barcellona

ALONZO Würd ihm denn da nicht mein alter Freund Ramiro Nachricht von mir gegeben haben? – Hören Sie, er ist Ihr Korrespondent, Sie könnten allenfalls doch, wenn Sie an ihn oder jemand anders in Barcellona schrieben, Nachfrage tun. Sie erwiesen mir einen Dienst dadurch. – Doch was wollen wir uns mit Schimären den Kopf zerbrechen. Ich weiß daß sein Herr ihn nicht von sich läßt, wie sollte er denn jemals in Spanierhände geraten? So aber bekomm ich ihn wieder und wenn er in Beelzebubs Klauen steckte.

Und weiter unten etwa in der zweiten Szene zweiten Akts, wo die Verwechslung der Kleider geschieht, als Osmann Pietro fragt: Und was soll aus dir werden? und dieser antwortet: Kümmerts mich doch nicht – könnte er frostig lachend hinzusetzen, ‚ich hab ja auch noch Verwandte in Spanien die ich aufsuchen kann wenns aufs höchste kommt‘

Sie sehen daß dies die Folgen von Ihren Anmerkungen sind, für die ich Ihnen herzlichst danke. Man arbeitet bisweilen so flüchtig weg, ohne sich genug umzusehen nach Lesern und Zuschauern und nach ihren Ideefolgen. Doch fällt Ihre Beschuldigung Plautussen unendlich mehr zur Last als mir, der ich durch die Veränderung des Aufenthalts des alten Alonzo, durch die lange Zeit des Ausbleibens, durch die türkische Kleidung, am meisten aber durch den alle andere Erinnerungen verschlingenden Enthusiasmus der Freundschaft in der Seele des Pietros (wohin auch die Aufschrift des Stücks weiset) allen Störungen der Illusion wie mich deucht itzt wohl hinlänglich ausgebeugt habe.“ (S. 367f.)

Diese „kleine[n] Einschiebsel in den Dialog“ wurden in das Hamburger Manuskript nahezu unverändert übernommen, die Abweichungen von LenzensLenz, Jakob Michael Reinhold Text sind minimal und meist nur orthografischer Art. Die erste Änderung betrifft die erste Szene des ersten Akts, die wir hier nach unserer AlgiererDie Algierer-Transkription wiedergeben:

Mariane. Wie aber, wenn Sie alles diess nicht nöthig hätten und Ihr Sohn etwa gar mit unter den Sclaven wäre, die der Ritter Akton eingebracht hat?

Alonzo. Er würde mich sogleich aufgesucht haben.

Mariane. Er vermuthet Sie aber noch in Barcellona.

Alonzo. Würd’ ihm denn da nicht mein alter Freünd Ramiro Nachricht von mir gegeben haben? – Hören Sie, er ist Ihr Correspondent. Sie könnten allenfalls doch, wenn Sie an ihn oder jemand anders in Barcellona schreiben, Nachfrage thun? Sie erweisen mir einen Dienst dadurch. – Doch was wollen wir uns mit Schimären den Kopf zerbrechen? Ich weiss dass sein Herr ihn nicht von sich lässt, wie sollt er denn jemals in Spanier Hände gerathen? So aber bekomm’ ich ihn wieder und wenn er in Beelzebubs Klauen steckte.“

Was den zweiten Verbesserungsvorschlag anbelangt, kann sich der Hinweis von Lenz „weiter unten etwa in der zweiten Szene zweiten Akts“ (S. 368) nur auf die ursprüngliche fünfaktige Fassung beziehen, denn diese Textstelle findet sich in der dreiaktigen gestrafften Hamburger Handschrift im ersten Akt, dritte Szene:

Pietro Kümmerts mich doch nicht. – (frostig lachend ) Ich hab ja auch noch Verwandte in Spanien, die ich aufsuchen kann, wenns aufs höchste kömmt.“

Als Ergebnis der Ausführungen zur Textgenese und zum Textvergleich lässt sich Folgendes festhalten: 1. Bei dem Hamburger Manuskript handelt es sich um die durch GotterGotter, Friedrich Wilhelm bearbeitete Fassung der AlgiererDie Algierer von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold. 2. Der Grad der Veränderung, den Lenz’ Text durch Gotter erfahren hat, lässt sich, solange die Originalhandschrift verschollen ist, nicht sicher bestimmen. Die unveränderte Übernahme der Nachträge von Lenz legt jedoch nahe, dass Gotters Eingriffe sich auf die im Brief vom 2. Januar 1775 mitgeteilten beschränkten: „Daß ich, durch Hülfe eines Mittlern Vorhangs die Akte zusammengerückt und aus fünf, 3. gemacht, auch ein paar Ausdrücke gelindert habe, werden Sie mir verzeihen“ (S. 362).Die Algierer13

Lenz räumt zwar ein, dass er den Text flüchtig geschrieben habe (was allerdings eher einer Captatio benevolentiae gleichkommt), doch verheimlicht er auch nicht seine Selbsteinschätzung, die plautinische Vorlage erheblich verbessert zu haben. Lenz hat nun im Prozess der Konstituierung seines literarischen Selbstbewusstseins jenen Punkt erreicht, wo er der Vorlage, der antiken Autorität nicht mehr bedarf. Überblickt man die Korrespondenz über die Algierer, so wird ersichtlich, welche Bedeutung sie als ein Stück des Übergangs, der Loslösung und Befreiung von antiken Vorbildern und Autoritäten gewonnen haben.Gotter, Friedrich Wilhelm14 Weshalb waren die Algierer für Lenz so wichtig, dass er darüber drei Briefe mit poetologischen Deutungsangeboten Gotter schickte? Das Honorar hatte er längst erhalten, und dennoch drängt er Gotter förmlich im letzten Brief zum Druck: „Das Stück war eigentlich für gegenwärtige Zeitläufte geschrieben und verliert wenn es liegen bleibt“ (S. 439, Ende April 1776). Warum hatte LenzLenz, Jakob Michael Reinhold das Manuskript oder eine Abschrift nicht an GoetheGoethe, Johann Wolfgang geschickt, von dem ja auch die anderen Plautus-Bearbeitungen redigiert worden waren? Diese Fragen, die letztlich nur hypothetisch beantwortet werden können, unterstreichen doch die Bedeutung, die Lenz selbst den Algierern zumisst. Die AlgiererDie Algierer kann man aufgrund der besonderen ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte (einschließlich der lenzschen Interpretamente) und der autoreigenen Präferenz gegenüber den anderen Plautus-Bearbeitungen aus dem Corpus der Nachdichtungen herauslösen. Wenn die Beziehung von Lenz zu Plautus tatsächlich „eine merkwürdig gespaltene“15 ist, dann lässt sich jetzt differenzierter fragen: Weshalb wählt Lenz das dramatische Grundmuster, den Plot der plautinischen CaptiviCaptivi? Drei mögliche Antworten hierauf scheinen bislang in der Deutungsgeschichte ungenannt geblieben zu sein:16 1. Das Abarbeiten an Autorität, familialer wie bildungsgeschichtlicher, und damit zusammenhängend 2. das dramatische Grundmuster des Vater-Sohn-Konflikts in den Captivi sowie 3. das Motiv der brüderlichen Freundschaft.

Die plautinischen Komödien hatten schon im MittelalterMittelalter Gelehrte und unkundiges Publikum beschäftigt. Dafür lassen sich nach Karl Otto Conrady zwei Gründe angeben:17 Zum einen kann man an der Komödie die elegantia der lateinischen Sprache erlernen, zum anderen bietet die Komödie einen Spiegel des Lebens für den Leser (zu fragen wäre: für welchen Leser?), die Komödie ist „Sprachmuster und Lebenslehre“18. Im 18. Jahrhundert hat sich die Alphabetisierung der GesellschaftGesellschaft grundlegend geändert, die Beherrschung der Zeichen, SchreibenSchreiben und LesenLesen, wird das Kennzeichen einer neuen sozialen Identität. Die Zeichen müssen nicht mehr in eine inszenierte Ordnung von Deutungen, der Aufführungspraxis des Schauspiels, übertragen werden, sondern können selbst, als Besitz des Kundigen, Deutungen beherrschen. Wer die Zeichen beherrscht, vermag Herrschaft zu bezeichnen. Lenz’ Hinweis, dass die Algierer die unmittelbaren Zeitverhältnisse betreffen, schließt nicht aus, dass er selbst als Betroffener sich der Zeichen bemächtigt. Die AlgiererDie Algierer sind ein Beispiel dieser Betroffenheit, der Autor versucht sich aus dem Spannungsfeld des Vater-Sohn-Konflikts herauszuarbeiten, zugleich kann er Identität als Schriftsteller aber nur gewinnen, wenn er sich von der Autorität emanzipiert. Die Identifizierung LenzLenz, Jakob Michael Reinhold’ mit PlautusPlautus, Titus Maccius ist deutlich, dieser vertritt die Vaterautorität. Zusätzlich potenziert wird die Bedeutung dieser Vater-Sohn-Konstellation durch die Tatsache, dass Lenz jenes Stück des PlautusPlautus, Titus Maccius wählt, mit dem LessingLessing, Gotthold Ephraim 1750, nahezu im gleichen Alter wie LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, als Übersetzer, Kritiker und Literat reüssierte.Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters19 Eine weitere Verdichtung der Konfliktkonstellation ergibt sich aus dem Umstand, dass Lenz nachträglich eine Schrift verfasste und sie in der ‚Deutschen Gesellschaft‘ vortrug, die Einwände gegen seine Übersetzungen abwehren sollte, und worin er sich zugleich (präventiv?) gegen ungerechtfertigte Kritiken zur Wehr setzte, die Verteidigung der Verteidigung des Übersetzers der LustspieleVerteidigung der Verteidigung des Übersetzers der Lustspiele (1774). Die Parallele ist erstaunlich: Lessing schrieb die Critik über die Gefangenen des PlautusCritik über die Gefangenen des Plautus in derselben Absicht, sie hatte defensorischen und programmatischen Charakter.20 Dass die Rezension, auf die sich Lenz in seiner Verteidigung möglicherweise bezieht, nicht mehr nachweisbar ist – Sigrid Damm vermutet sie „in einer Straßburger Lokalzeitung“21 –, ist unwesentlich, entspricht doch Johann Joachim EschenburgsEschenburg, Johann Joachim Rezension in der Allgemeinen deutschen BibliothekAllgemeine deutsche Bibliothek im Tenor den Angriffen, die Lenz abzuwehren sucht:

„Der Verfasser hat sich nicht weiter darüber erklärt, was bey diesen Nachahmungen Plautinischer Stücke sein eigentlicher Zweck gewesen sey, als durch den Zusatz auf dem Titel: fürs deutsche Theater. Wir glauben indeß schwerlich, daß man diese Stücke auf dasselbe bringen wird, oder, wenn man sie darauf bringt, daß sie gefallen werden. Unstreitig vertragen manche Subjekte jenes alten Schauspieldichters eine schickliche Bearbeitung für die neuere Bühne; […] aber schwerlich wird man dabey glücklich seyn können, wenn man den alten Lustspielen ihre ganze Oekonomie läßt, wie in der angezeigten Sammlung geschehen ist. Die meisten Situationen der Plautinischen Lustspiele sind gewissermaßen mit den Sitten seiner Zeit, mit dem ganzen damaligen Tone des Lebens, mit der ganzen damaligen Vorstellungsart der Bühne, die von der unsrigen in mancher Absicht verschieden war, so sehr verwebt und verflochten, daß die Ablösung des einen von dem andern nicht wohl thunlich, wenigstens nicht sehr rathsam ist. Freylich erfordert ein solches Verfahren weniger Aufwand von Erfindungskraft, weniger dramatische Kunst. […] nun [ist] in diese Nachahmungen sehr viel Uebelstand, sehr viel Widersinniges hineingekommen. […] Aber nun vollends die so oft vorkommenden Schwangerschaften, die Scenen der Wöchnerinen, die freyen Umarmungen und Küsse, die Kupplereyen und das Feilbieten von Mädchen! – Wir wollens gerne zugeben, daß alle diese Dinge zu unsrer Zeit noch eben so herrschend sind, als zur Zeit des Plautus; daß sie selbst durch den Schleyer, womit man sie vor den Augen der Welt verdeckt, vielleicht desto mehr Gefahr und Ausgelassenheit erhalten; aber daß doch der dramatische Dichter diesen Schleyer ja nicht anders wegziehe, als wenn er bestrafen will, und alles sich in seinem Schauspiele vereinigt, die Abscheulichkeit des verlarvten Lasters zu zeigen! daß er ihn ja nicht wegziehe, wenn er nur ein Gemählde des Lebens aufstellen will! die Gefahr einer ganz gegenseitigen Wirkung ist sonst fast unvermeidlich. Hier muß ihm der äussere Wohlstand unverletzlich seyn. Diese Anmerkung scheint uns itzt vorzüglich nothwendig, da einige Schriftsteller von unstreitigen Talenten sich überredet zu haben scheinen, die offenherzigste Freymüthigkeit gebe das treueste, richtigste Gemählde der Natur und des Lebens; und eine sittsame Zurückhaltung sey hier Einschränkung des Genies und der Kunst. Wir sind wirklich bey dieser Denkungsart sehr in Gefahr, in unsern witzigen, besonders dramatischen Werken, gar bald den ausgelassensten Ton herrschen, alle Rücksicht auf den Wohlstand verbannt, und dann am Ende alles Gemeine, Platte und Niedrige, unter dem Scheine des Natürlichen, autorisirt zu sehen.“Der Teutsche MerkurMagazin der deutschen Critik22

Nicht auszuschließen ist, dass LenzLenz, Jakob Michael Reinhold mit seiner VerteidigungVerteidigung, analog zu Lessings Verfahren, solcher Kritik im Vorgriff zu begegnen suchte. Lenz muss sich, wie vor ihm LessingLessing, Gotthold Ephraim, gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit der plautinischenPlautus, Titus Maccius Textvorlage (und damit des sittlichkeitswidrigen Motivs zur Wahl der Vorlage) bzw. der Bearbeitung sowie gegen philologische Freiheiten in der Übersetzung wehren. Lenz hält dagegen: „Wahrlich so machte es Plautus nicht mit seinen griechischen Nachbildungen! und daß ich eine deutsche Autorität anführe, auch Lessing nicht in seinem Schatz. Soll mir nicht gleiches Recht vergönnt sein?“23 Lessing ist hier unbestritten die Autorität, die sowohl dem traditionell argumentierenden Rezensenten als auch dem jungen Sturm-und-Drang-Autor den nötigen Schutz zur kritischen Argumentation bietet. Die Berufung auf die „Autorität“ unterstreicht die Bedeutung dieser Autorität für LenzLenz, Jakob Michael Reinhold. Der Hinweis auf den literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Präzedenzfall zeigt, dass Lenz die Analogie der Situation bewusst ist: Der erste Schritt des Vatermords besteht darin, das zu überbieten, was die Vaterautorität bereits getan hat. LessingLessing, Gotthold Ephraim hatte den SchatzDer Schatz, die Bearbeitung des plautinischen TrinummusTrinummus, 1750 geschrieben, aber erst 1755 in seinen SchrifftenSchrifften (Lessing) veröffentlicht. Möglicherweise kannte Lenz den Schatz auch aus dem Wiederabdruck in den Lustspielen nach Gotthold Ephraim LessingLustspiele nach Gotthold Ephraim Lessing (Berlin 1767), deren zweite Auflage 1770 erschienen war. Jedenfalls können Lenz, wenn er den Schatz kannte, nicht Lessings CaptiviCaptivi-Übersetzung sowie die dazugehörigen Schriften Abhandlung von dem Leben, und den Werken des Marcus Accius PlautusAbhandlung von dem Leben, und den Werken des Marcus Accius Plautus, Critik über die Gefangnen des Plautus und Beschluß der Critik über die Gefangnen des PlautusBeschluß der Critik über die Gefangnen des Plautus entgangen sein, die ja ebenfalls in den oben genannten Ausgaben von 1750 und 1767 bzw. 1770 abgedruckt waren. Lessing war nicht müde geworden, die Gefangnen „das schönste Stück“ zu nennen, „das jemals auf die Bühne gekommen ist“.24

Schon im 16. Jahrhundert erklärte Johann DouzaDouza, Johann in seinem Buch Doussae Jani centurionatus sive Plautinarum explanationum libri IV […]Doussae Jani centurionatus sive Plautinarum explanationum libri IV (Leiden 1587) die eigenartige Faszination, die von dem Stück des PlautusPlautus, Titus Maccius ausgeht, so:

„Sooft es mir gefällt, ‚Die Gefangnen‘ des Plautus in die Hand zu nehmen, machen sie mich ihnen gleich, d.h. sie nehmen mich ‚gefangen‘, auf die gleiche Weise, glaub’ ich, auf die einst ‚das gefangene Griechenland den wilden Sieger‘ […] gefangen nahm. Und so gebe ich mich ihnen freiwillig hin, um von ihnen gefesselt zu werden, und unterstütze selbst meine Versklavung. Auch möchte ich ihnen nach Möglichkeit nicht entfliehen: ‚denn‘ – um mich auf meine Weise Plautinisch auszudrücken – ‚viel zu milde sind sie ja, diese geistigen Fesseln. Je mehr du dich dagegen wehrst, desto enger umschließen sie dich‘.“25

Die Doppelsinnigkeit von Befreiung und Unterwerfung ist auch für LenzLenz, Jakob Michael Reinhold konstitutiv. Er will sich zum einen mit PlautusPlautus, Titus Maccius, der Autorität der Komödienschreiber schlechthin oder wie LessingLessing, Gotthold Ephraim ihn nennt, den „Vater aller Comödienschreiber“26, messen, zum andern muss sich Lenz mit der Instanz aufgeklärter Literatur in Deutschland, Lessing selbst, auseinandersetzen. Und beide Autoritäten, Plautus wie Lessing, vertreten in Lenz’ Biografie die Vaterinstanz. Das wird deutlich, wenn man sich der inhaltlichen Interpretation der AlgiererDie Algierer über die Signifikanz des Titels nähert, der in eindrucksvoller Weise den Vater-Sohn-Konflikt der plautinischen Vorlage verdichtet und diesen als Grund für Lenz’ missglückte Frauenbeziehungen der 1770er-Jahre benennt: Algier wird zur Chiffre des Vatermordbegehrens.

In dem Dramenfragment Zum Weinen oder Weil ihrs so haben wollt. Ein TrauerspielZum Weinen oder Weil ihrs so haben wollt, dessen Figuren die Initialen L., Gth., B. und G. tragen und damit Repräsentanten aus Lenzens Biografie, mithin Signifikanten des Metatextes darstellen, spricht Gth. (= GoetheGoethe, Johann Wolfgang) am Ende des Fragments zu L. (= Lenz): „Ich gab ihm [dem Dogen in Genua] einen Rat wegen der Händel mit Algier […]“27. L. liebt G., ist aber mit B. verheiratet, Gth. liebt B., ist aber G.s Mann. Die Situation des unerfüllten BegehrensBegehren ist bei Lenz bekanntlich kein literarisches Motiv, sondern eine lebensgeschichtliche Grundfiguration. Das bedeutet, dass diese Figuration den Vater-Sohn-Konflikt verdeckt, die Chiffre repräsentiert den ödipalen Konflikt, ohne dessen Bewältigung die Suche nach dem Anderen28 – als dem weiblichen Objekt des männlichen Begehrens – die permanente Wiederkehr des Vatermordbegehrens bedeutet. Das hebt noch einmal die Bedeutung der Algierer unabhängig von ihrer literarischen Qualität hervor. Es ist ein Stück des Übergangs, ein Dokument des Befreiungsbegehrens für den Autor und dennoch ein Text über die erzwungene Unterwerfung. Algier ist der Ort der Versklavung, wo Alonzos Sohn, Pietro, von den Seeräubern gefangen gehalten wird. Zugleich ist Algier aber auch der Ort der Befreiung vom dominanten Vater, der Ort, der den ‚neuen Vater‘ bereitstellt. In der Sklaverei ist Pietro befreit, im doppelten Wortsinn: Den unterschwelligen Wunsch nach Flucht vor dem Vater kann Pietro nicht alleine ausführen, er braucht die Mittäterschaft der Piraten dazu. Und schließlich ist Algier auch der Ort der Männerfreundschaft zwischen Pietro und Osmann, dem das Modell der brüderlichen Freundschaft zwischen Lenz und Goethe aus der Vorweimarzeit zugrunde liegt. In dieser Konstellation männlicher Herrschaftsverhältnisse haben Frauen keinen Platz, lediglich der Tod von Pietros Mutter wird von Mariane buchhalterisch vermerkt (vgl. I/1). Das Dramenfragment Zum WeinenZum Weinen oder Weil ihrs so haben wollt liest sich auf dieser Ebene des ödipalen Konflikts wie ein Subtext zu den AlgierernDie Algierer. Zum Zeitpunkt der Rückkehr aus der Sklaverei in die ‚Freiheit‘ „Italienische[r] Buchhaltung“ (I/1) ist Pietro mindestens 23 Jahre alt, ungefähr so alt wie der Autor: 13 Jahre zuvor auf der Überfahrt von Spanien nach Italien entführt (vgl. I/1), interessierte er sich bereits im Alter von zehn Jahren für die schönen Wissenschaften (vgl. II/1). Nun, da sich herausstellt, dass der Vater „eine Gans für andre gemästet“ (I/4) hat, wird der Sohn auf die Größe eines kaufmännischen Rechnungspostens reduziert.

Doch es kommt zur doppelten Verwechslung. Pietro heißt bei den Seeräubern Haßan, in I/3 tauscht er mit Osmann die Kleider, so dass jetzt Osmann = Haßan = Pietro ist, bis der Sklave Ibrahim die Verwechslung aufdeckt (vgl. II/4 u. II/5). So wie die doppelte Verwechslung die wahre Identität Pietros verstellt, unterstreicht das Spiel mit Identitäten aber auch die Wunschfantasien des Sohnes: Der Wunsch nach einem anderen Vater, demgegenüber man die wahre Identität findet, wird in der letzten Szene des letzten Akts, die dem Schlusstableau in einem BürgerlichenBürgerliches Trauerspiel Trauerspiel gleicht, als klassische AnagnorisisAnagnorisis-Szene zum dramatischen Höhepunkt. Die Wiedererkennung von Vater und Sohn macht für den Augenblick die Wunschfantasie vergessen, Pietro wird sogar zum Anwalt des Vaters, „Vaterliebe“ und „väterliche Zärtlichkeit“ (III/5) sind jene Gefühle, die der Autor LenzLenz, Jakob Michael Reinhold bis zu seinem Tod sich gewünscht, aber nicht erfahren hat. Hier gilt, was Lenz in seiner VerteidigungVerteidigung von PlautusPlautus, Titus Maccius sagt: „[…] in seinem Herzen bildet sich der edle Schmerz, die schöne EmpfindsamkeitEmpfindsamkeit für alle mitleidige und zärtliche Szenen, ohne welche der Mensch nur immer zweibeinigtes Tier bleibt“29.

LenzLenz, Jakob Michael Reinhold spitzt die von PlautusPlautus, Titus Maccius vorgegebene Konfliktkonfiguration weiter zu. Die Tripelidentität Pietros (Pietro – Haßan – Osmann) ist keine „mistaken identity“30 zur Täuschung des Feinds, sondern die einzig mögliche Lebensform für den verlorenen SohnLenz, Jakob Michael Reinhold31 – auch in der plautinischen Vorlage ist die Vater-Sohn-Beziehung die tragende dramatische Ebene. Für die Handlungsstruktur der AlgiererDie Algierer ist es unwesentlich, dass Lenz die Kommentare des Prologs und Epilogs der Vorlage nicht aufnimmt. Außerdem treibt Lenz das Motiv von Logos und List dort deutlicher hervor, wo über die Grenzen der Vernunft nur der listige Einfall hinweghelfen könnte. Pietro ist der Glossator aufgeklärter (väterlicher) Vernunft: „Die menschliche Vernunft hat ihre Gränzen“ (II/3). Sein „geübter Verstand“ (II/1) ersinnt keine Mittel zur Problemlösung mehr, die instrumentelle Vernunft versagt. Der Vater hatte noch in der Eingangsszene „ungeheure Summen“ (I/1), durchaus im Sinne eines neuzeitlichen privatwirtschaftlichen Warenverkehrs, als Lösegeld für den Sohn geboten. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold exponiert deutlich die merkantile Haltung des aufgeklärtenAufklärung Kaufmanns, dessen Angebot der unaufgeklärte Seeräuber in Algier ausschlägt. Stattdessen muss der Vater zum Warentausch zurückkehren: Sohn gegen Sohn.

Über einen Vorwurf der Kritik an den PlautusPlautus, Titus Maccius-Bearbeitungen konnte sich Lenz jetzt allerdings leicht hinwegsetzen, den Vorwurf der Unsittlichkeit der plautinischen Vorlage wie der Bearbeitung, der noch für LessingLessing, Gotthold Ephraim Anlass für eine dezidierte Verteidigungsschrift gewesen war. Die Anklage hatte 1750 gelautetTheater32: „Viele den guten Sitten schädliche und unanständige Dinge“33, „Unrat“34, „schadet […] den guten Sitten“35, „unanständig und unwahrscheinlich“36, von „seichten und nichtsbedeutenden Scherzen; […] unbedeutsame[n] und allzusaftige[n] Stellen, […] unkeuschen Stellen“37 war die Rede. In seiner Verteidigung argumentierte Lessing sehr geschickt, die Kritikpunkte würden sich nämlich gegen drei unterschiedliche Thematisierungsbereiche richten, gegen Kunst, Witz und Moral.38 Unbeirrbar hält LessingLessing, Gotthold Ephraim aber daran fest, dass die CaptiviCaptivi das schönste Theaterstück schlechthin seien, ein Urteil, das für die nachfolgende Dichtergeneration den Maßstab sehr hoch setzte. Lessing begründet dies definitorisch:

„Ich nenne das schönste Lustspiel nicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist, nicht das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten Scherze, die künstlichsten Verwicklungen, und die natürlichsten Auflösungen hat: sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am nächsten kömmt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils auch besitzt. Was ist aber die Absicht des Lustspiels? Die Sitten der Zuschauer zu bilden und zu bessern. Die Mittel die sie dazu anwendet, sind, daß sie das Laster verhaßt, und die Tugend liebenswürdig vorstellet.“39

Dieser Bestimmung einer sozialpädagogischen Absicht des Lustspiels folgt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold dann nicht mehr. In seiner Rezension des neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt,Rezension des neuen Menoza die am 11. Juli 1775 in den Frankfurter gelehrten AnzeigenFrankfurter gelehrte Anzeigen erschien, bringt er dies deutlich zum Ausdruck: „Ich nenne durchaus Komödie […] eine Vorstellung die für jedermann ist“, die Komödie ist ein „Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden. Daher schrieb PlautusPlautus, Titus Maccius komischer als Terenz […]“.40 Das ist die programmatische Absage an die traditionelle Laudatio-Vituperatio-PoetikPoetik, der 1750 auch noch Lessing verpflichtet gewesen war, wonach das Laster verabscheuungswürdig in der KomödieKomödie, und die TugendTugend lobenswert in der TragödieTragödie dargestellt werden sollten. Außerdem kommt bei Lenz der Impetus zur Auflösung des ständischen Publikums hinzu, der die sozialen Unterschiede des bürgerlichenbürgerlich Publikums zumindest postulativ einebnet.

Die AlgiererDie Algierer erweisen sich also in poetologischerPoetologie und sozialgeschichtlicherSozialgeschichte Hinsicht als ein wichtiges Zeugnis des Übergangs. Die Plautus-Bearbeitungen insgesamt sind für die Entwicklung von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold’ eigener dramatischer Produktion von großer Bedeutung (und in dieser Hinsicht von der Forschung bislang nicht genügend berücksichtigt), konnte er hier doch im geschützten Raum römischer Komödien Figurenensembles, Konfliktkonstellationen und dramaturgische Neuerungen erproben. Das Movens insbesondere für Lenzens AlgiererDie Algierer ist aber ein psychogenetisches: die Arbeit an jener Instanz, die als Tripelidentität aus Christian David LenzLenz, Christian David, PlautusPlautus, Titus Maccius und LessingLessing, Gotthold Ephraim der Identitätssuche des Sohnes entgegensteht – oder wie man diesen Prozess kurz bezeichnen kann: die Arbeit am Vater.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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