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Plädoyer für eine historisch-kritische Schubart-Ausgabe

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Hermann HesseHesse, Hermann schreibt in der Vossischen ZeitungVossische Zeitung vom 5. Januar 1926 über unsere, der Philologen Tätigkeit: „Man kann darüber streiten, ob das Ausgraben und Neuherausgeben alter Dichtungen und die dafür aufgebrachte mühsame Philologenarbeit wirklich etwas Wertvolles, ob es nicht bloß Tuerei und Historikerwahn sei“Heinse, WilhelmSchüddekopf, CarlSchubart, Christian Friedrich Daniel1. Hesse scheint „der Luxus sehr erlaubt, sich einige Philologen zu halten und je und je wieder etwas edleren Lesestoff aus der Vergangenheit zu holen“2. Er erkennt den „Widerspruch“ in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Philologenarbeit, aber auch bei sich selbst, „daß ich die jahrzehntelang an einem alten Dichter kratzenden Philologen eigentlich für bedauernswert halte und wenig verehre, mir dagegen das Resultat ihrer Arbeit sehr gern gefallen lasse“.3 Nach so viel mitleidsvoller Schelte kommen wir zu den philologischenPhilologie Kratzgeräuschen. Ich gliedere den Beitrag in zwei Teile: Erstens, die textkritischen Bemerkungen zu SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Gedicht Die FürstengruftDie Fürstengruft, die Darstellung der Recensio am Beispiel der ersten Strophe. Und zweitens, Reflexionen über die philologische Denkfigur der Zuschreibung am Beispiel von Schubart und Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp.

Zunächst zu den textkritischen Bemerkungen zu Schubarts Gedicht Die Fürstengruft und zur Darstellung der Recensio am Beispiel der ersten Strophe. Das Gedicht Die Fürstengruft ist mutmaßlich Ende 1779 entstanden, nachdem der Herzog seine Zusicherung, Schubart werde bald freikommen, nicht eingehalten hatte. „Die Fürstengruft entstand nicht vor, sondern während Schubarts Gefangenschaft, und zwar entweder 1779 oder, was StraußStrauß, David Friedrich wahrscheinlich zu machen gesucht hat, 1780 […]“4. Andreas Streicher, der SchillerSchiller, Friedrich auf seiner Flucht von Stuttgart nach Mannheim am 22. September 1782 begleitet hat, berichtet, Schiller habe nachts zwischen ein und zwei Uhr auf der Poststation in Enzweihingen ein Heft mit ungedruckten Gedichten von Schubart hervorgezogen und daraus vorgelesen:

„Das merkwürdigste darunter war die Fürstengruft, welches Schubart in den ersten Monaten seiner engen Gefangenschaft, mit der Eke einer BeinkleiderSchnalle, in die nassen Wände seines Kerkers eingegraben hatte. […] In manchen dieser Gedichte fanden sich Anspielungen, die nicht schwer zu deuten waren und die keine nahe Befreiung ihres Verfassers erwarten ließen“Streicher, AndreasBeethoven, Ludwig van5.

Dass SchillerSchiller, Friedrich bei Konzeption, Inhalt und Sprache seines eigenen Gedichts Die Gruft der FürstenDie Gruft der Fürsten von Schubarts FürstengruftDie Fürstengruft maßgeblich beeinflusst wurde, und nicht umgekehrt, Schubart von Schiller zu seinem Gedicht angeregt wurde, ist offensichtlich. Schillers eigener Musenalmanach, die Anthologie auf das Jahr 1782Anthologie auf das Jahr 1782, erschien im Februar 1782, die Vorbereitungszeit fiel also in den Herbst/Winter 1781/1782. Und da kannte Schiller bereits Schubarts Fürstengruft aus dem Manuskript, und die ersten beiden Drucke waren bereits erschienen, nämlich 1781 im FrankfurterFrankfurter Musenalmanach und im Leipziger MusenalmanachLeipziger Musenalmanach (s.o.). Hat Schiller Schubarts Text möglicherweise durchgestochen und zum Druck in den Frankfurter Musenalmanach vermittelt? Ohne Schubarts Wissen? Um welche Gedichte von Schubart es sich handelte, die Schiller seinem Reisegefährten auf der Poststation vorlas, ist nicht überliefert – mit Ausnahme der Fürstengruft. Auch lässt sich nicht mehr feststellen, ob diese Gedichte tatsächlich ungedruckt waren. Schiller verlässt Stuttgart am 22. September 1782. Seine eigene Anthologie auf das Jahr 1782 ist da bereits im Druck, der Almanach erscheint im Februar 1782. „Schiller hatte für die dichterischen Talente des Gefangenen, sehr viele Hochachtung. Auch hatte er ihn einigemale auf dem Asperg besucht“6, schreibt Andreas StreicherStreicher, Andreas. Im November 1781 lernt Schiller Schubart persönlich kennen, als er ihn auf dem Hohenasperg besucht.7 Schubarts Sohn LudwigSchubart, Ludwig Albrecht ist jedoch schon seit 1777 Karlsschüler. Bis Ende 1780 war Schiller selbst noch Karlsschüler gewesen. Außerdem trägt Ludwig Schubart auch zu Schillers AnthologieAnthologie auf das Jahr 1782 bei, so lautet zumindest die gängige Zuschreibung, das Gedicht gehört ins Themenfeld der Machtkritik und ist ganz dem Duktus schillerscher Jugendlyrik verpflichtet, – und trägt ausgerechnet den bezeichnenden Titel Aufschrift einer FürstengruftAufschrift einer Fürstengruft:

„Zurük! Hier ruhn die Erdenriesen,

Fern von dem Volk in ihrer Gruft –

Um mit dem Volk nicht auferstehn zu müssen,

Wenn einstens die Trompete ruft.“8

Angesichts dieser persönlichen und kommunikativen Nähe kann man daher nicht ausschließen, dass SchillerSchiller, Friedrich über Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht unveröffentlichte Gedichte des Vaters zu lesen bekam. „Schiller ist ein groser Kerl – ich lieb’ ihn heiß – grüß ihn!“9 Das schreibt Schubart an seine Frau zu Beginn des Sommers 1782. Ist dies eine Reaktion auf die Lektüre der AnthologieAnthologie auf das Jahr 1782 oder auf Schillers Besuch auf dem Hohenasperg im Herbst des Jahres zuvor?

Auf die Parallelen zwischen SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel FürstengruftDie Fürstengruft und Schillers Gedicht Die schlimmen MonarchenDie schlimmen Monarchen ist immer wieder hingewiesen worden. Man muss Schillers Gedicht aber auch im Zusammenhang sehen mit den nur fünf Zeilen umfassenden lyrischen Fragmenten Die Gruft der KönigeDie Gruft der Könige und Triumphgesang der HölleTriumphgesang der Hölle, die vermutlich 1778 oder 1779 entstanden sind.10 Nach dem Zeugnis von (vermutlich) Karl Philipp ConzConz, Karl Philipp in der Zeitschrift Der Freimüthige oder Ernst und ScherzDer Freimüthige oder Ernst und Scherz vom 4. November 1805, einem Jugendfreund Schillers, veranlasste die Gruft der Könige Schubart, seine Fürstengruft zu dichten. Das ist aber sehr zweifelhaft, weil Ludwig Schubart 1798 ja einen anderen Anlass für Schubarts Gedicht anführt.11 Die Themen von Herrschaftskritik und absolutistischer Machtwillkür trägt Schiller im Ton radikal vor. Die Monarchen werden als Erdengötter und als Gottes Riesenpuppen bezeichnet, die mit pompendem Getöse ihren Spleen ausleben. Eine solch eindeutige Aussage lässt keinerlei Spielraum für eine parodistische Lesart zu. Im Unterschied zu SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel versöhnlichem Schluss – sofern man diesen eben nicht als Parodie lesen will – mit seinem Appell an die guten und das bedeutet die aufgeklärten Vertreter des Absolutismus, droht der junge SchillerSchiller, Friedrich in der Schlussstrophe seines Gedichts unverhüllt mit der Macht der Poesie:

„Aber zittert für des Liedes Sprache,

Kühnlich durch den Purpur bohrt der Pfeil der Rache

Fürstenherzen kalt.“12

Die Nationalausgabe spricht durchaus von einer „Abhängigkeit des Schillerschen Gedichts von dem Schubarts“13, obgleich das Thema Fürstengruft durchaus auch zum gängigen literarischen Motivinventar der Zeit gehört. Demgegenüber ist als Gegenbeispiel etwa KlopstocksKlopstock, Friedrich Gottlieb Gedicht FürstenlobFürstenlob (1775) mit folgendem Wortlaut zu nennen:

„Dank dir, mein Geist, daß du seit deiner Reife Beginn,

Beschlossest, bey dem Beschluß verhartest:

Nie durch höfisches Lob zu entweihn

Die heilige Dichtkunst,

Durch das Lob lüstender Schwelger, oder eingewebter

Fliegen, Eroberer, Tyrannen ohne Schwert,

Nicht grübelnder, handelnder Gottesleugner,

Halbmenschen, die sich, in vollem dummen Ernst, für höhere

Wesen halten als uns. Nicht alte Dichtersitte,

Nicht Schimmer, der Licht log,

Freunde nicht, die geblendet bewunderten,

Vermochten deinen Entschluß zu erschüttern.

Denn du, ein biegsamer Frühlingssproß

Bey kleineren Dingen,

Bist, wenn es größere gilt,

Eiche, die dem Orkane steht.

Und deckte gebildeter Marmor euch das Grab;

Schandsäul’ ist der Marmor: wenn euer Gesang

Kakerlakken, oder Oranutane

Zu Göttern verschuf.

Ruhe nicht sanft, Gebein der Vergötterer! Sie sinds,

Sie habens gemacht, daß nun die Geschichte nur

Denkmaal ist; die Dichtkunst

Nicht Denkmaal ist!

Gemacht, daß ich mit zitternder Hand

Die Saite von Daniens Friederich rührte;

Sie werde von Badens Friederich rühren,

Mit zitternder Hand.

Denn o wo ist der sorgsame Wahrheitsforscher,

Der geht, und die Zeugen verhört? Geh hin, noch leben die Zeugen,

Und halte Verhör, und zeih, wenn du kanst,

Auch mich der Entweihung!“14

Von SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel FürstengruftDie Fürstengruft wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach eine Handschrift aufbewahrt, die offensichtlich eine Reinschrift (vielleicht auch die Druckvorlage?) darstellt, die aber nicht Schubarts eigene Handschrift wiedergibt. Auf dem Umschlagblatt steht das Jahresdatum „1783“; die Handschrift bildet mutmaßlich die Druckvorlage für D4. Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht bemerkt, dass sein Vater nahezu alles diktiert habe, „selbst Gedichte dictirte er“15. Wie kam diese Reinschrift nach Marbach? Zu berücksichtigen ist auch eine Selbstauskunft Schubarts, die er im Vorbericht zum ersten Band seiner gesammelten Gedichte von 1786 niederlegt: Er schreibt im Vorbericht zum ersten Band seiner Sämtlichen GedichteSämtliche Gedichte (Schubart) von 1785: „Und doch hab ich nie ein Gedicht […] ausdrücklich für den Druck bestimmt“16. Die folgende Übersicht bietet einen für das 18. Jahrhundert vollständigen und für das 19. Jahrhundert nahezu vollständigen Überblick über die Drucke der FürstengruftDie Fürstengruft:

D1: Erster Druck unter dem Titel Die Gruft der FürstenDie Gruft der Fürsten in: Frankfurter Musenalmanach auf das Jahr 1781. Herausgegeben von H.[einrich] Wagner: Frankfurt, bey Johannes Bayrhoffer, S. 144–150, unterzeichnet mit Schubarth[!]. Wahrscheinlich ist der Almanach im Herbst 1780 erschienen.17 – Insgesamt 25 Strophen, es fehlt (nach der Zählung gemäß Reclam 1978) Strophe Nr. 13. – Der Herausgeber Heinrich WagnerWagner, Heinrich (1747–1814) wurde bis dato oft mit dem hinlänglich bekannten Dramatiker des Sturm und Drang Heinrich Leopold WagnerWagner, Heinrich Leopold (1747–1779) verwechselt.

D2: Zweiter Druck unter dem Titel Die Gruft der Fürsten in: Leipziger Musenalmanach auf das Jahr 1781. Leipzig im Schwickertschen Verlage, S. 81–85, unterzeichnet mit Schubarth[!]. Insgesamt 25 Strophen, es fehlt (nach der Zählung gemäß Reclam 1978) Strophe Nr. 13. – Dieser Almanach wurde in den Jahren 1779 bis 1781 von August Kornelius Stockmann herausgegeben.18

D3: Dritter Druck unter dem Titel Die Gruft der Fürsten in: Deutsches Museum, Dezember 1782, Bd. 2, 12. St. Leipzig: in der Weygandschen Buchhandlung, S. 496–499. Insgesamt 25 Strophen, es fehlt (nach der Zählung gemäß Reclam 1978) Strophe Nr. 13.

D4: Vierter Druck unter dem Titel Die FürstengruftDie Fürstengruft in: Chr. Dan. Friedr. Schubarts Gedichte aus dem Kerker. Erster Theil. Zürich: Orell, Geßner, Füßli und Comp. 1785, S. 181–184. Insgesamt 25 Strophen, es fehlt (nach der Zählung gemäß Reclam 1978) Strophe Nr. 2; Nr. 13 vorhanden. [Nicht autorisierter Druck! Herausgabe und Vorrede von Armbruster, S. IV: „Daß diese Ausgabe ohne Wissen des Verfassers gemacht werden mußte, wenn sie je gemacht werden sollte“, u. S. V: „feyerlich sey es hier gesagt: Schubart hat durchaus keinen Antheil daran …“. Erschienen vor Mai 1785, denn das ist das Datum von Schubarts Vorbericht, wo er u.a. über seine Gedichte schreibt: „die kürzlich herausgekommene Schweizersammlung, die alle mit sinnlosen Druckfehlern verunstaltet seyn mußten, weil man mich nicht dabei zu Rath zog, und oft die abgesudelsten Handschriften gebrauchte“ (ebd., Vorbericht, n.p.), auch würden ihm Gedichte zugeschrieben, die gar nicht von ihm seien (ebd.)].

D5: Fünfter Druck unter dem Titel Die FürstengruftDie Fürstengruft in: Christian Friedrich Daniel SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel sämtliche Gedichte. Von ihm selbst herausgegeben. Zweiter Band. Stuttgart: in der Buchdruckerei der Herzoglichen Hohen Carlsschule 1786, S. 78–83. Insgesamt 26 Strophen. [Der erste Band erschien ebd. 1785]. – Hier fasst Schubart auch kurz und präzise seine Poetik zusammen: „Ich fühle, was ich schreibe und rede“ (ebd., Vorbericht, n.p.). Nach dem Zeugnis Ludwig SchubartsSchubart, Ludwig Albrecht sollen mehr als 3000 Subskriptionen vorgelegen haben, das war ein enormer Verkaufserfolg, der Schubarts Beliebtheit und Popularität bei den Zeitgenossen unterstreicht.19

D6: Sechster Druck [= Einzeldruck] unter dem Titel Die Gruft der Fürsten. Von Schubart auf HohenasbergDie Gruft der Fürsten [!]. Berlin 1786. Es ist davon auszugehen, dass dies kein autorisierter Einzeldruck darstellt. Enthält viele Fehler.

D7: Siebter Druck unter dem Titel Die FürstengruftDie Fürstengruft in: Christian Friedrich Daniel Schubarts sämtliche Gedichte. Von ihm selbst herausgegeben. Zweiter Band. Frankfurt am Mayn, in der Hermannischen Buchhandlung 1787, S. 73–77. [Nachdruck von Stuttgart 1786, = D5 (Stuttgarter Ausgabe)]. Der Buchhändler und Verleger Johann Christian HermannHermann, Johann Christian aus Frankfurt hatte Schubarts Frau die Restexemplare der schnell vergriffenen, zweibändigen Gedichtausgabe (Karlsschulausgabe = D4 [1784] und D5 [1786]) und die Rechte daran abgekauft und eine spätere Gedichtausgabe bei Himburg (Berlin), die Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht besorgen wollte, aus rechtlichen Gründen verhindert.20

D8: Achter Druck unter dem Titel Die Fürstengruft in: Christian Friedrich Daniel Schubart’s Gedichte. Herausgegeben von seinem Sohne Ludwig Schubart. Zweiter Theil. Frankfurt a.M.: bey J.C. Hermann 1802, S. 7–12. – Interessanterweise ist das Gedicht nicht in folgende Ausgabe übernommen worden: Chr. Fr. D. Schubart’s vermischte Schriften. 2 Tle. Herausgegeben von Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht, Sohn. Zürich: in der Geßner’schen Buchhandlung 1812. Philologisch spricht gegen D8 vor allem eine Bemerkung Ludwigs in der Vorrede zu seiner Ausgabe von 1802. Manche Gedichte seines Vaters hätten sich weder in der Deutschen ChronikDeutsche Chronik noch unter seinen hinterlassenen Papieren gefunden, deshalb „schrieb ich sie aus dem Gedächtniß nieder“ (ebd. [D8], S. IV). Um welche Gedichte es sich bei den erinnerten Texten handelt, ist nicht (eindeutig) zu erschließen.

D9: Neunter Druck unter dem Titel Die FürstengruftDie Fürstengruft in: Gedichte von Christ. Fridr. Daniel Schubart. Zweyter Theil. Neueste Auflage. Frankfurt [ohne weitere Angaben] 1803, S. 6–12.

D10: Zehnter Druck unter dem Titel Die Fürstengruft in: Sämmtliche Gedichte von Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Verlag der Hermannschen Buchhandlung 1825, S. 66–70. [Nachdruck von D7].

D11: Elfter Druck unter dem Titel Die Fürstengruft in: Sämmtliche Gedichte von Chr. Fr. Dan. Schubart. Neue verbesserte Auflage. Frankfurt a.M.: Joh. Christ. Hermann’sche Buchhandlung. G.F. Kettembeil 1829, Bd. 2, S. 66–70. [zwar mit abweichender Seitenzählung, aber identischem Druckbild wie Frankfurt a.M. 1825 = D10].

D12: Zwölfter Druck unter dem Titel Die Fürstengruft in: C.F.D. Schubart’s, des Patrioten, gesammelte Schriften und Schicksale. Stuttgart: J. Scheible’s Buchhandlung 1839, Bd. 4, S. 70–74.

D12+n: Druck unter dem Titel Die Fürstengruft in: Gustav Hauff: Chr. Fr. D. Schubarts Gedichte. Historisch-kritische Ausgabe. Leipzig o.J. [1884], S. 205–208. – Diese Ausgabe rechnet sich vor allem das Verdienst zu, Schubart als Dichter „von politischen und zeitgeschichtlichen Gedichten“21 gewürdigt zu haben. Da hatte aber die Karriere der „weltberühmte[n]“22 Fürstengruft, wie David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich in seiner Ausgabe der Briefe Schubarts schon 1849 geschrieben hatte, als SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel bekanntestes politisches Gedicht längst schon ihren Höhepunkt erreicht.

Die derzeit immer noch verbindliche Reclam-Ausgabe gibt an, die FürstengruftDie Fürstengruft nach der Stuttgarter Ausgabe von 1786 (= D5) zu drucken, nennt aber die falsche Jahreszahl „1787“ (das wäre D7), was wiederum auf den Frankfurter Nachdruck durch den Buchhändler und Verleger Hermann aus diesem Jahr verweist. Betrachten wir die editorischen Differenzen am Beispiel des Wortlauts der ersten Strophe der Fürstengruft:23

1 Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer,
2 Ehmals die Gözen ihrer Welt!
3 Da liegen sie, vom fürchterlichen Schimmer
4 Des blassen Tags erhellt!

Handschrift:
H: Die Abbildung eines Handschriften-Stemmas ist nicht möglich, es gibt keine Mutterhandschrift, von der sich andere Handschriften ableiten ließen, die erhalten geblieben ist. Eine Art Urtext von Ende 1779 gibt es nicht. Auch eine klassische Coniectura palmarum, die über jeden Zweifel erhabene editionsphilologische Richtigstellung, ist kaum möglich.
h: Marbacher Abschrift (26 Strophen), 1783 [Vorlage für D4?]. Reihenfolge an einer Stelle vertauscht.

Ein Beleg für die These, dass h eine (die einzig bekannte) Druckvorlage darstellt, ergibt sich aus dem Vergleich von Strophe 9, Zeile 1, die in h lautet: „Zum morschen Ripp ist nun die Brust geworden“; das entspricht nahezu dem Wortlaut von D1 und D2: „Zur morrschen Ripp ist nun die Brust geworden“. D3 bietet: „Zur morschen Ripp’ ist nun die Brust geworden“. D4 variiert: „Zum morschen Ripp’ ist nun die Brust geworden“. Das Elisionszeichen wiederum reproduziert nur der Einzeldruck D6, was als Indiz dafür gelten kann, dass D3 die Vorlage für (den korrupten) Druck D6 („Zur morschen Ripp’“) bildet. Ab D5 hingegen lautet die Zeile: „Zum Todtenbein ist nun die Brust geworden“. In h findet sich zudem die signifikante Auffälligkeit von Strophe 13, die in D1, D2 und D3 fehlt, was wiederum ein Indiz dafür sein könnte, dass die Jahreszahl „1783“ auf der Handschrift h richtig ist und somit h als Druckvorlage, zumindest als Reinschrift, für die FürstengruftDie Fürstengruft in D5 diente. Zum Vergleich:

h: 1 Sie liegen nun, den eisern Schlaf zu schlafen
2 Die Menschengeißeln, unbetrauert
3 Im Schooße der Verwesung, wie die Sclaven,
4 In Felsen eingemauert.

D4: 1 Da liegen nun den eisern Schlaf zu schlafen,
2 Der Menschheit Geisseln, unbetraurt,
3 Im Felsengrab, verächtlicher als Sklaven,
4 In Kerker eingemaurt.

D5: 1 Sie liegen nun, den eisern Schlaf zu schlafen,
2 Die Menschengeisseln unbetraurt!
3 Im Felsengrab, verächtlicher als Sklaven,
4 In Kerker eingemaurt.

Folgende Lesarten der ersten Strophe ergeben sich im Vergleich von Handschrift und Drucken:

h: (insgesamt 26 Strophen)
1 Fürstentrümmer,] Fürsten Trümmer
1 sie,] sie
2 Welt!] Welt;
3 sie,] sie
3 vom] von
3 fürchterlichen] fürchterlichm {?}
4 blassen] blaßen
4 erhellt!] erhellt.

D1: (insgesamt 25 Strophen)
2 Gözen] Götzen
2 Welt!] Welt;
4 blassen] bloßen
4 erhellt!] erhellt.

D2: (insgesamt 25 Strophen)
2 Gözen] Götzen
3 vom] von
3 fürchterlichen] fürchterlichem
4 blassen] bloßen
4 erhellt!] erhellt.

D4: (insgesamt 25 Strophen)
1 Fürstentrümmer,] Fürstentrümmer!
2 Gözen] Götzen

D5: (insgesamt 26 Strophen) ohne Abweichungen

D6: (insgesamt 25 Strophen)
2 Gözen] Götzen
2 Welt!] Welt,
3 sie,] sie
4 blassen Tags] bloßen Tags {auch das philologische Gebot der lectio difficilior hilft hier nicht weiter, denn was ist die schwierigere Lesart?}
4 erhellt!] erhell’t.

D12: (insgesamt 26 Strophen)
3 Gözen] Götzen

D12+n: (insgesamt 26 Strophen)
2 Gözen] Götzen

Die FürstengruftDie Fürstengruft ist nicht enthalten in: Chr. Fr. D. SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel’s vermischte Schriften. Herausgegeben v. Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht, Sohn. Zürich: in der Geßner’schen Buchhandlung. Zwei Theile. 1812. Möglicherweise hat der Sohn das Gedicht aus politischen Gründen ausgesondert.

Insgesamt umfasst die maßgebliche Textgestalt der Fürstengruft 26 Strophen, die im Kreuzreim abab angeordnet sind. Das metrische Muster ist ein fünfhebiger Jambus in Zeile 1 und 3, ein vierhebiger Jambus in Zeile 2 und ein dreihebiger Jambus in Zeile 4. Die Varianten der Lesarten haben natürlich auch Einfluss auf die inhaltliche Deutung der Fürstengruft. Die schlechten Fürsten haben tyrannisch geherrscht und werden am Jüngsten Tag dem Gericht Gottes zugeführt. Die besseren Fürsten hingegen werden nach ihrem Tod mit ewiger Herrschaft belohnt. Wenn man den Komparativ ‚besser‘ ernst nehmen will, dann muss es als Referenzwort auch die guten Fürsten geben. Und einen solchen Repräsentanten spricht SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel in der Tat schon in der fünften Strophe an – vorausgesetzt, man will diese Worte nicht als Ironie lesen –, wenn er schreibt: „hier liegt der edle Fürst! der Gute!“24 In der Schlusszeile des Gedichts heißt es über die ‚bessren Fürsten‘: „Ihr seid zu herrschen werth“25, und damit erfolgt eine scheinbar überraschende, theologische Wendung. Ob dieser Ton schon unter das Verdikt von David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich fällt, der im Hinblick auf die Deutsche ChronikDeutsche Chronik Schubart einen religiösen „Obscurantismus“26 attestiert, oder ob Hermann HessesHesse, Hermann Wort, der selbst aus pietistischem Milieu stammte, von Schubarts „Zerknirschungsreligiosität“27 zutrifft, soll unentschieden bleiben. Und dass der Superlativ die ‚besten Fürsten‘ nicht auftaucht, mag ein versteckter, kritischer Hinweis Schubarts darauf sein, dass es ‚beste Fürsten‘ per se nicht geben könne, da dieser Superlativ in seinem religiösen Weltbild Gott vorbehalten bleibt. Schubarts Kritik an gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen kann immer nur so weit gehen, wie das mit seinem pietistischen Weltbild vereinbar erscheint und angesichts seiner Inhaftierung opportun ist. Nicht jedes Gedicht spricht so offen aus, was Schubart, der der einzige Dichter des Sturm und DrangSturm und Drang ist, der politisch verfolgt wurde und die Folgen politischer Repression am eigenen Leib erfahren hat, politisch denkt, wie sein Gedicht Der GefangeneDer Gefangene (1782), worin er die eigene Kerkerhaft schildert. Vor seiner Inhaftierung hatte Schubart mit seinem Freyheitslied eines KolonistenFreyheitslied eines Kolonisten (1775) seine Ambivalenz dokumentiert. Das Gedicht bezieht sich auf den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und lässt sich nur schwer auf europäische, kaum auf deutsche gesellschaftlich-politische Verhältnisse übertragen. Die exotische Ferne, die den Hintergrund des Textes bildet, ermöglicht es dem Autor, ein Freiheitspathos zu mobilisieren, das nur als rhetorische Geste angemessen verstanden werden kann. Schubarts Ambivalenz von scharfsinniger politischer Erkenntnis auf der einen und den Zugeständnissen an gesellschaftliche und ästhetische Erwartungen seiner Zeit auf der anderen Seite wird besonders in der FürstengruftDie Fürstengruft deutlich. Dieses Gedicht ist als SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel „aggressivstes und wirkungsvollstes antifeudales Manifest“28 bezeichnet worden. Das mag übertrieben sein. Es wurde auch von der „Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz Schubarts“ gesprochen: „Man muss leider sagen, daß er mehrere Lobgedichte auf den Herzog Karl EugenKarl Eugen, Herzog von Württemberg verfertigt hat“.29 Ich nehme mich selbst von einer solch rigiden Einschätzung nicht aus. Wer aber wollte einen solch rigorosen Moralismus ernsthaft in Stellung bringen, angesichts eines Gefangenen, der in seinem Brief an den Verleger Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich, den er „meine[n] liebsten, besten Himburg“ tituliert, vom 2. Januar 1787 selbst darauf hingewiesen hat, dass er zahlreiche Gedichte „aus Zwang und Drang meiner Lage verfertigte“,30 und er sie deshalb nicht in eine Gedichtsammlung aufgenommen wissen wollte? Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht berichtet davon, ein Rezensent habe sich darüber gewundert, in der zweibändigen Gedichtausgabe von 1785/1786 „eines Dichters ausschweifendes Lob auf eben den Fürsten zu finden, der ihm zehn Jahre lang das höchste Gut dieser Erde – seine Freiheit! entrissen hatte“31. Die Qualität der Gedichte, darunter auch die FürstengruftDie Fürstengruft, beurteilt sein Sohn Ludwig klar:32

„Seine besten Gedichte hat er sämtlich auf dem Asperg, unter den ungünstigsten Umständen verfertiget; und grade der Zwang, unter dem er hier seufzte, schien die höchste Elasticität seiner Seele gewekt zu haben. Unter diesen besten verstehe ich, mit einem großen Theile des Publikums: die Fürstengruft; […]. Die Fürstengruft trug er seit seinem Aufenthalte zu München stets in der Seele, – wo ein Requiem in der Gruft die erste Idee in ihm entzündet hatte; wollte sie mehrmahlen zu Ulm schon ausführen; zürnte sie aber erst im dritten Jahre seiner Gefangenschaft nieder, als ihm Herzog Karl auf einen gewissen Termin hin ausdrüklich seine Freiheit versprochen hatte, und dieser Termin ohne Erfüllung vorüber gegangen war. Er dictirte dieses Gedicht eines Abends einem Fourier in die Feder bis zu der Strophe

‚Wo Todesengel nach Tyrannen greifen[‘] –

nachdem er sich vorher sehr stark gegen den Herzog erhizt hatte; und es hieß hier ausdrüklich: ‚Facit Iracundia Versum.‘ Nachher nahm er nur wenige Veränderungen damit vor; und es ist ganz ohne sein Zuthun, und sehr voreilig ins deutsche Musäum eingeschikt worden: denn es machte gleich nach seiner Erscheinung soviel Aufsehn, daß dem Herzoge etwas davon zu Ohren kam, und Seine Durchlaucht einen ihrer Günstlinge in den unangenehmen Fall sezten, Ihnen das Gedicht laut vorlesen zu müssen.

Dieser Umstand hat, wie ich gewiß weiß, vieles zu Verlängerung seines Arrests beygetragen.“33

So meldete schon 1779 das Schwäbische MagazinSchwäbisches Magazin: „Herr Schubart hat wieder mehrere Freiheit erhalten“34, was sich aber als Irrtum herausstellen sollte. Was Heinrich Leopold WagnerWagner, Heinrich Leopold in einem Brief vom 9. Februar 1777 an Maler MüllerMaler Müller schrieb, kann sicherlich als repräsentatives Urteil der jungen Intellektuellen dieser Zeit gelten: „– und Schubart! wüthend werd ich wenn ich dran denke! War einer mit von den Wenigen die Muth hatten Wahrheit zu sagen! Warum sitzt er? Weist Dus so schreib mirs! – Die ……!“35

Reflexionen über die philologische Denkfigur der Zuschreibung am Beispiel von Schubart und Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp: Schubart an MillerSchubart an Miller – so heißt ein Gedicht, das SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel auf seinen Ulmer Freund Johann Martin MillerMiller, Johann Martin (1750–1814) am 31. Dezember 1776 schreibt; es schließt mit den hoffnungstrunkenen Worten: „Welch ein himmlisch neues Jahr!“36 Miller antwortet noch am selben Tag mit dem Gedicht Antwort an SchubartAntwort an Schubart, worin es heißt:

„Neue Wonn und neues Leben

Soll das neue Jahr uns geben!

Komm und reich die Hand mir dar!

Glück und Heil zum neuen Jahr!“37

Es sollte das schlimmste Jahr in Schubarts Leben werden. Kurz darauf, am 22. Januar 1777, wurde er nach Blaubeuren auf herzogliches Territorium gelockt, einen Tag später verhaftet und auf der Festung Hohenasperg ohne Anklage und Urteil inhaftiert.38

Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776) ist das erste Drama von Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp (1747–1814). Es erscheint in Ulm in der Druckerei von Johann Conrad WohlerWohler, Johann Conrad. Sehr wahrscheinlich ist, dass Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel den Druck vermittelt hat. Demzufolge könnte es zuvor einen brieflichen Kontakt zwischen Hahn und Schubart gegeben haben. In Schubarts Korrespondenz ist allerdings kein Brief hierfür erhalten, der dies belegen könnte. Immer noch wird ein längerer Aufenthalt Hahns in Ulm behauptet, wo er Schubart persönlich kennengelernt haben soll, das ist aber ebenfalls nicht zu belegen und tatsächlich nur eine philologische Behauptung.39 Ich halte es hingegen für viel wahrscheinlicher, dass der Kontakt zwischen Hahn und Schubart über den gemeinsamen Dichterfreund Maler MüllerMaler Müller (1749–1825) in Mannheim gestiftet wurde, der schon 1765 zur Zeichenausbildung in Hahns Zweibrücken war. 1774 hat Müller erstmals ein Gedicht im Göttinger MusenalmanachGöttinger Musenalmanach veröffentlicht und dadurch die Aufmerksamkeit der Res publica litteraria – auch Schubarts – auf sich gezogen. Ab 1775 hielt er sich in Mannheim auf. In einem Brief vom 27. November 1776 an Müller schreibt Schubart: „Genies sind sichtbare Gottheiten, […]. Wie viel herrliche Gedanken hat KlingerKlinger, Friedrich Maximilian ohne Würkung verspritzt; da liegen sie nun im Mist und kannst lang warten, biß Aesops Hahn kommt und das Edelgestein aufscharrt.“40 Der Kommentar zur Briefausgabe, genauer zu diesem Brief bemerkt dazu, eine solche Fabel sei von Äsop nicht bekannt. Das entspricht durchaus dem heutigen Stand der Äsop-Forschung, jedoch, wenn man historisch genauer kontextualisiert, so ergibt sich leicht Aufschluss über diese scheinbar kryptische Anspielung. Die Editio princeps von ÄsopsÄsop Fabeln wurde von Buonaccorsi 1479 in Mailand vorgelegt. Heinrich SteinhöwelSteinhöwel, Heinrich hat ca. 1476 eine für die Buchgeschichte der Frühen NeuzeitFrühe Neuzeit maßgebliche Sammlung von Äsop zugeschriebenen Fabeln auf Deutsch herausgegeben, gedruckt wurde sie bei Johann ZainerZainer, Johann in Ulm und in über 20 verschiedenen Drucken bis zum Ende des 17. Jahrhunderts weit verbreitet.41 Als erster Text dieser Sammlung wird die pseudoäsopische fabel von dem Han und dem bernlinfabel von dem Han und dem bernlin abgedruckt, deren Ursprung auf eine „spätantike Prosabearbeitung des PhädrusPhädrus“42 zurückgeht und die in mittelalterlichenMittelalter Handschriften überliefert wird:

„Die erst fabel von dem Han vnd dem bernlin

AIn han suͦchet syne spys vff ainer misty. vñ als er scharret / fand er ain kostlichs bernlin an der vnwirdigen statt ligende. vo er aber daz also ligend sach sprach er. O du guͦtes ding wie ligst du so ellenglich in dem kätt? hette dich ain gytigë gefunden / wie mit grossen froͤden hett er dich vff gezuket / und werest du wider in den alten schyn dyner zierde gesetzet worden. So aber ich dich finde an der schnoͤden statt ligende. vnd lieber myne spys fünde. so bist du weder mir nüczlich noch ich dir[.] Dise fabel sagt esopus denen. die in lesent vñ nit verstant. die nit erkeñent die krafft des edeln bernlins. vnd das honig vß den bluͦmen nit sugñ kuͤnent. wañ den selben ist er nit nuͤczlich ze lesen.“43

Die steinhöwelscheSteinhöwel, Heinrich Fabelsammlung hat Martin LutherLuther, Martin als Etliche Fabeln aus ÄsopÄsop (1530)44 bearbeitet, denn sie taugt nach seiner Einschätzung als Kinder- und Schulbuch zum Erlernen von Lebensweisheit. Da sich der Reformator aber an den sittlich bedenklichen Textstellen der Fabelsammlung stößt, entschließt er sich zu einer eigenen Übersetzung, die über die Vorrede und die Bearbeitung von 13 Fabeln aber nicht hinauskommt. Luther übernimmt von SteinhöwelSteinhöwel, Heinrich die Reihenfolge der Fabeln und bietet, wie Steinhöwel, als Nummer eins die Fabel vom Hahn und der Perle. Für ihn ist sie ein Exemplum für die menschliche Torheit. Der Titel lautet in der Handschrift Vom Han und PerlinVom Han und Perlin, im Druck Vom Hahn und PerlenVom Hahn und Perlen. LutherLuther, Martin resümiert das ‚Fabula docet‘ mit folgenden Worten: „Diese fabel zeigt an, Das, grobe leute, nicht wissen wo zu eine einige fabel nütze odder sie zu gebrauchen sey, darumb sie dis buchlin verachten, wie denn alle kunst vnd weisheit bey solchen leuten vnwerd vnd veracht ist, wie man spricht, kunst gehet nach brod“45. Man kann annehmen, dass SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel Luthers Schriften in der 24-bändigen LutherLuther, Martin-Ausgabe (1740/1753) von Johann Georg WalchWalch, Johann Georg (1693–1775) studiert hat, sowohl in Erlangen, während seines kurzen Theologiestudiums 1758 bis 1760, als auch in Ulm. Luther galt ihm als Autorität eben auch in Fragen kunstvoller Prosa. Die ÄsopÄsop-Bearbeitung mit einer Vorrede Luthers ist erst 1557 (sog. Jenaer Ausgabe) nach Luthers Tod erstmals erschienen und in der Walch-Ausgabe im 14. Band von 1744 unter der Überschrift „Thorheit“ abgedruckt.

„Vom Hahn und Perlen.

Ein Hahn scharret auf dem Miste, und fand eine köstliche Perlen; als er dieselbige im Koth so liegen sahe, sprach er: Siehe, du feines Dinglein, liegst du hie so jämmerlich, wenn dich ein Kaufmann fünde, der würde dein froh und du würdest zu grossen Ehren kommen, aber du bist mir, und ich dir, kein nütze, ich nehme ein Kör[n]lein oder Würmlein, und ließ einem alle Perlen, magst bleiben wie du liegst.

Lehre.

Diese Fabel lehret, daß diß Büchlein bey Bauren und groben Leuten unwerth ist, wie denn alle Kunst und Weisheit bey denselbigen veracht ist, wie man spricht: Kunst gehet nach Brod; sie warnet aber, daß man die Lehre nicht verachten soll.“ 46

Schubart kann also sowohl die Äsop-Ausgabe des Ulmer Landsmanns Steinhöwel als auch die lutherische Fabelversion in der im 18. Jahrhundert maßgeblichen Luther-Ausgabe von Walch kennengelernt haben.

Letztendlich ist aber eine dritte Referenzspur am wahrscheinlichsten. Gotthold Ephraim LessingLessing, Gotthold Ephraim übersetzte im März 1757 Samuel RichardsonsRichardson, Samuel Aesop’s Fables, with instructive Morals and ReflectionsAesop’s Fables, with instructive Morals and Reflections (1740), das Werk erschien noch in demselben Jahr in Leipzig unter dem Titel Hrn. Samuel Richardsons […] Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten Aesopischen Fabeln mit dienlichen Betrachtungen zur Beförderung der Religion und der allgemeinen Menschenliebe vorgestelletHrn. Samuel Richardsons […] Sittenlehre für die Jugend. Die erste Fabel heißt Der Hahn und der Diamant und lautet in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Worten:

„Als einsmals ein Hahn auf einem Misthaufen scharrte, fand er einen köstlichen Stein. Ja, sprach er, für einen Juwehlenhändler würde dieser glänzende Tand so etwas seyn; mir aber ist ein einziges Gerstenkorn lieber als hundert Diamante.

Lehre.

Ein weiser Mann wird das Nothwendige allezeit dem vorziehen, was blos zur Zierde, zum Vergnügen oder zur Befriedigung der Liebhaberey dienet.

Betrachtung.

Die meisten Ausleger wollen hier Weisheit und Tugend unter dem Diamante, die Welt und ihre Ergötzlichkeiten unter dem Misthaufen, und unter dem Hahne einen wollüstigen Mann verstanden wissen, welcher sich seinen Lüsten überläßt, ohne im geringsten, an die Erlernung, die Ausübung, oder die Vortreflichkeit beßrer Dinge zu denken.

Allein, mit ihrer Erlaubniß, mir scheint in dieser Fabel vielmehr ein Sinnbild des Fleißes und der Mäßigung zu liegen. Der Hahn lebt von seiner ehrlichen Arbeit; er scharrt auf dem Misthaufen, das ist, er folgt seinem Beruffe; der köstliche Stein ist weiter nichts, als eine schimmernde Versuchung, die ihm in den Weg gestellet wird, um ihn von seinen Geschäften und seiner Pflicht abzuziehen. Ueber ein Gerstenkorn, sagt er, würde er sich weit mehr erfreuet haben, als über diesen Diamant, und hiermit wirft er ihn als etwas weg, das sich nicht der Mühe verlohnt aufzuheben. Alsdenn weiß man die Dinge gehörig zu schätzen, wenn man das, woran die Vorsicht die Erhaltung des Lebens gebunden hat, den schimmernden Spielwerken vorzieht, die keinen andern Werth haben, als den ihnen Eitelkeit, Stolz und Ueppigkeit beylegen. Für einen Juwehlenhändler ist der Preis, wie er seinen Edelstein los werden kann, hinlänglich; ein Mann aber von Verstand und Einsicht, schätzt den innern Werth eines Dinges, und das ist ganz etwas anders. Ja der Juwehlier selbst würde, bey hungrigem Magen, wenn er an der Stelle des Hahns wäre, eben so wie der Hahn wehlen. Die Lehre ist kurz diese, daß wir nothwendige Dinge überflüßigen Dingen, die Erqvickungen und den Segen der Vorsicht den blendenden und schimmernden Seltenheiten der Mode und Einbildung vorziehen, mit einem Worte, daß wir unser Leben nach der Vernunft, und nicht nach der Phantasie regieren sollen.“47

Wenn nun SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel in einem Brief die Formulierung „AesopsÄsop Hahn“ verwendet, so darf man davon ausgehen, dass er sich auf Lessings oder auf WalchWalch, Johann Georgs Textdarbietung dieser pseudoäsopischen Fabel bezieht. Will man diesen Ausdruck aber in seiner übertragenen, symbolischen Bedeutungsymbolische Bedeutung erschließen, die über das buchstäblichebuchstäblich Verstehen hinausgeht, dann stellt sich die Frage, die keinesfalls ausgeblendet werden soll, ob SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel mit „AesopsÄsop Hahn“ möglicherweise auf Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp anspielt? Ich lasse das als Frage unbeantwortet im Raum stehen. Man kann es nicht ausschließen, aus folgendem Grund: Am 25. August 1775 hatte Schubart den in Mannheim lehrenden Anton von KleinKlein, Anton von gefragt: „Dürft’ ich Sie nicht um einige literarische Neuigkeiten aus der Pfalz bitten? Sie können nicht glauben, wie mager mir die Neuigkeiten von der Pfalz einlaufen.“48 Man kann annehmen, dass von Klein den Kontakt zu Maler MüllerMaler Müller hergestellt hat, aber wie verhielt es sich mit Hahn? Wusste von Klein von Hahns literarischen Ambitionen? Ob sich Hahn und Schubart persönlich kennengelernt und ob sie sich in Ulm getroffen haben, ist unklar. Stattdessen liest man bis heute über Hahn: „Eine Zeit lang hat er sich vielleicht in Ulm aufgehalten, wo damals Schubart lebte, der Hahns ‚Aufruhr‘ bei WohlerWohler, Johann Conrad daselbst herausgab“49. Als sicher hingegen gilt, dass der Vorbericht zu Hahns Drama tatsächlich aus Schubarts Feder stammt. Dabei stützt man sich auf die Angabe von Albrecht WeyermannWeyermann, Albrecht in dessen Buch Neue historisch-biographisch-artistische Nachrichten von Gelehrten und KünstlernNeue historisch-biographisch-artistische Nachrichten, auch alten und neuen adelichen und bürgerlichen Familien aus der vormaligen Reichsstadt Ulm (Ulm 1829). Unter dem Eintrag Schubart, Nr. 2 „Vorreden zu“, findet sich in der Tat Hahns Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa. Allerdings ist dies letztlich kein Beweis für Schubarts Autorschaft. Ich konnte einen noch älteren Beleg finden, auf den sich möglicherweise auch Weyermann bezog, in Meusels Lexicon der […] verstorbenen Schriftsteller (1811, Bd. 11, S. 481), dort wird Schubart als Herausgeber von Hahns Stück genannt. Woher die Zuschreibung aber ursprünglich kommt, ist nicht geklärt. Schubart schreibt also ein begleitendes Vorwort zu Hahns Drama Der Aufruhr zu Pisa, er stellt damit Hahns Erstling in den Kontext der jungen, zeitgenössischen Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang. Und Schubart schreibt auch die erste Rezension des Stücks, erschienen in der Teutschen ChronikTeutsche Chronik vom 11. März 1776.

Mit dem Drama Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa knüpft Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp 1776 an GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von an und bietet die dramatisierte Vorgeschichte zu dessen UgolinoUgolino (1768). Ob Hahn die Kritik HerdersHerder, Johann Gottfried an Gerstenbergs Stück gelesen hatte, ist nicht bekannt und eher unwahrscheinlich. Im Vorbericht des Herausgebers, der auf den 1. Dezember 1775 datiert ist, erklärt dieser (also SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel), in Gerstenbergs Ugolino wehe der „Odem des Originalgeists“ (S. 10)50. Nur wenige edle und empfindungsvolle Seelen „fühlten, bebten, schauderten“ (S. 10) mit ihm. Der Verfasser des Aufruhrs zu Pisa wolle die bis dahin fehlende Vorgeschichte zu Ugolinos Verurteilung und Schicksal liefern. Als Leser werde man „nicht selten den jungen rüstigen Mann bewundern, der mit diesem Produkt das erstemal vor der Welt erscheint“ (S. 10). Es ist Hahns Debüt, mit dem er sich gleich in den Kontext des Sturm und Drang stellt. Der Herausgeber (Schubart) zitiert aus einem Brief Hahns – ob dies eine Fiktion ist oder Hahn tatsächlich einen Begleitbrief an Schubart verfasst hat und er ihm demnach das Manuskript des Aufruhrs zu Pisa geschickt haben muss, lässt sich nicht mehr klären. Darin räumt er ein, dass der Charakter der Figur Ugolino seines Dramas sehr rauh sei, woran man sich stören könne. Doch „Männerherzen“ werde er „erschüttern, daß sie schwanken, beben werden“ (S. 10). Hahn appelliert an die Leser oder Zuschauer, Ugolino nicht ihr Mitleid zu verweigern. Er verlangt die vollkommene Identifikation mit seinem Protagonisten, obwohl er „das Uebertriebene in einigen Monologen“ (S. 11), was dem Deklamatorischen bei Gerstenberg entspricht, zugibt. Letztlich dient aber auch dies dem Ziel der absoluten Parteinahme für die Figur. Hahns bemerkenswerter Schlusssatz lautet: „Sinds doch immer Menschen und Brüder, deren Handlungen wir darstellen!“ (S. 11) Das kann durchaus als sein poetologisches Programm verstanden werden. Der Herausgeber fährt in seinem Text fort und hebt „Männlichkeit, Großheit in den Gesinnungen, fassender Dialog und Sprachstärke“ (S. 11) als Qualitätsmerkmale des Dramas und seines Autors hervor. Die durchaus deutschtümelnde Schlusspassage des Herausgebertextes kann als Zugeständnis an den patriotischen Sprachduktus Schubarts verstanden werden, womit weniger ein nationalstaatliches Konzept beschworen als vielmehr der Hinweis auf die Befreiung von Theater- und Schreibkonventionen der AufklärungAufklärung durch den Sturm und DrangSturm und Drang verknüpft werden soll. Das Nebenmotiv des über Aristokratenwillkür klagenden Juden in HahnsHahn, Ludwig Philipp Stück Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg (1776), er sei ohne Gerichtsverfahren eingesperrt worden „und, wie ich wissen will, warum? weiß es kein Mensch, ich auch nicht“ (S. 122), nimmt nebenbei in erschreckender Deutlichkeit die Verhaftung und Inhaftierung Schubarts vorweg.

Interessant ist nun, dass Hahn ein Gedicht veröffentlicht hat, das später als die Nummer 45 in seine Sammlung Vermischte GedichteVermischte Gedichte (Hahn) (1786) eingeht, mit dem Titel Bei der Gruft Herzogs Christian, des ViertenBei der Gruft Herzogs Christian, des Vierten. Hahn setzt in Klammern noch den Untertitel hinzu „(Eine Parodie von Schubarts Fürstengruft.)“ Besonders die gattungstypologische Zuordnung als „Parodie“ ist aufschlussreich. Weshalb nennt Hahn dieses Gedicht Parodie? Wäre demnach seine Parodie eine Parodie auf SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Parodie, wenn man denn die FürstengruftDie Fürstengruft als Parodie lesen will? Als Terminus post quem gilt das Jahr des Erstdrucks von Schubarts Fürstengruft, also 1781. Herzog Christian IV. von Pfalz-ZweibrückenChristian IV., Herzog von Pfalz-Zweibrücken lebte von 1722 bis 1775. Dass Hahns Gedicht schon vor 1786 als Erstdruck erschienen war, konnte nicht nachgewiesen werden. Mutmaßlich ist es also für seine Sammlung der Lyrischen GedichteLyrische Gedichte (1786) entstanden. Richard Maria Werner rechnet 1877, ganz in der Emphase der wilhelminischen Germanistik, Hahns Gedicht zu dessen „besten Erzeugnissen“; Werners Qualitäts- und Wertekriterium ist allerdings die „freie Fürstenverehrung“.51

Das Problem der Zuschreibung als einer philologischenPhilologie Denkfigur lässt sich im Falle Schubarts durchaus an vielen, von ihm mit einem Vorwort beehrten, fremden Drucken diskutieren. Allerdings gibt es einen Parameter, der zu einer umfassenderen Diskussion taugen könnte, und den ich hier nur an zwei Beispielen andeutungsweise ausführen kann, nämlich Schubarts MusikaffinitätMusik, wobei SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel nicht nur auf dem Gebiet der Kirchenmusik zu Hause war und Lieder komponierte, sondern auch nach eigenem Zeugnis „Sinfonien, Sonaten, Arien und andere Kleinigkeiten in Menge“52 und die teilweise auch unter dem Namen Dritter verbreitet wurden. Erstes Beispiel: In der Teutschen ChronikTeutsche Chronik schreibt SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel 1776, einer seiner Freunde habe ihn gebeten, die Rezensionsrubrik ‚Tonkunst‘ zukünftig aus der Zeitschrift wegzulassen und andere wiederum würden ihn bitten, diese Rubrik auszubauen, und er fragt: „was ist zu thun, Leser? – Soll ich mir mein liebstes Steckenpferd nehmen lassen?“53 Der zeitgenössische, jüngere Dichter und Musiker Joseph Martin KrausKraus, Joseph Martin (1756–1792) verfügte wie Schubart auch über eine beeindruckende literarische und musikalische Kompetenz. Ihm wird eine anonym erschienene, musikästhetische Schrift zugeschrieben. Allerdings will ich Zweifel an dieser Zuschreibung formulieren und die philologischePhilologie Denkfigur der Zuschreibung hypothetisch reflektieren und stattdessen (wieder)Schmidt, ErichSchubart, Christian Friedrich DanielKlopstock, Friedrich GottliebGluck, Christoph WillibaldMiller, Johann MartinStolberg, Friedrich Leopold Graf zuMaler MüllerHahn, Ludwig Philipp54 Schubart als bislang nicht erkannten Verfasser ins Gespräch bringen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es gibt weder Beweise dafür, dass Kraus der Verfasser ist, noch, dass Kraus nicht der Verfasser ist, und es gibt weder Beweise dafür, dass Schubart der Verfasser sein könnte, noch, dass er nicht der Verfasser sein könnte. Allenfalls sind Indizien vorhanden oder noch schwächer: Plausibilitäten. Wir müssten nicht von Zuschreibung sprechen, wenn Beweise vorlägen. Die entscheidende Frage ist: Reichen die Indizien aus, um Schubarts mögliche Verfasserschaft plausibel zu machen? Folgt man der forschungsgeschichtlichen Zuschreibungshistorie zu ihren Ursprüngen, so ergibt sich ein wesentlich uneindeutigeres Bild. Kraus wurde auch als der Odenwälder MozartMozart, Wolfgang Amadeus bezeichnet. Denn er stammte aus dem Odenwald, ging 1768 nach Mannheim in die Jesuiten-Schule und lernte dort den musikalischen Stil der sogenannten Mannheimer Schule kennen. Seit dieser Zeit komponierte er und schrieb Gedichte. Im Januar 1773 begann er ein Jurastudium in Mainz, zum Jahreswechsel 1773/74 setzte er es an der damaligen zweiten mainzischen Universität in Erfurt fort. Eine familiäre Notsituation zwang ihn, im November 1775 sein Studium zu unterbrechen und in das Elternhaus zurückzukehren, um seinen Vater zu unterstützen, dem fälschlicherweise Untreue vorgeworfen wurde. In seinem Sturm-und-Drang-Drama TolonTolon (1776) verarbeitet KrausKraus, Joseph Martin diese Vorgänge.55 Im November 1776 setzte er sein Studium in Göttingen fort.56 Dort freundete er sich mit den Hainbündlern Friedrich LeopoldLeopold, Friedrich und Christian Grafen zu StolbergStolberg, Christian Graf zu, Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich und Matthias ClaudiusClaudius, Matthias an. Am 26. April 1778 reiste er von Göttingen aus nach Stockholm, wo er am 3. Juni 1778 eintraf. Bekanntlich trug sich auch SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel mit dem Gedanken, seine berufliche Zukunft in Stockholm zu suchen, so schließt er den ersten Teil seiner Autobiografie mit den Worten ab: „Wohin Kerl? dacht’ ich […]. Wohin Kerl? Stokholm, Petersburg, Wien schwebten mir immer heller vor der Seele, bis ich mich entschlos nach Stokholm zu reisen […]“57. Zu Anfang seiner Stockholmer Zeit schrieb Kraus Zeitungsartikel für Stockholms Posten, die Passagen aus der Schrift Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777 aufgegriffen haben sollen.58 Nun wird in der Forschung angenommen, Kraus habe 1778 anonym eine musikästhetische Schrift veröffentlicht mit dem Titel Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, nachdem Heinrich Leopold WagnerWagner, Heinrich Leopold, SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel und Philipp Christoph KayserKayser, Philipp Christoph „von den Goetheforschern“59 als Verfasser abwechselnd vermutet worden waren. Diese Schrift wird von den Musikhistorikern auch gerne für das Phänomen eines musikalischen Sturm und DrangSturm und Drang in Anspruch genommen. Für die Musikhistoriker steht fest: „Daß […] Joseph Martin Kraus der Verfasser ist, geht nicht nur aus einer kurzen Notiz über das Werk in Johann Nikolaus ForkelsForkel, Johann Nikolaus Werk ‚Allgemeine Literatur der Musik‘, Leipzig 1792, S. 484, und aus dem handschriftlichen Vermerk Ernst Ludwig GerbersGerber, Ernst Ludwig in dem aus seinem Besitz stammenden Exemplar (Wien, Gesellschaft der Musikfreunde), sondern auch aus der Korrespondenz von Kraus und seiner Schwester Marianne hervor“60. Der Eintrag bei ForkelForkel, Johann Nikolaus hat folgenden Wortlaut: „Etwas von und über Musik. Fürs Jahr 1777Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777. Frankfurt, 1778. 8. 118. Seiten. Scheint von einem zwar launigten aber ganz urtheillosen jungen Menschen geschrieben zu seyn. Man nennt den jetzigen Capellmeister zu Stockholm Krause als Verfasser, der sich um die Zeit der Herausgabe in Frankfurt aufhielt.“61 Die Vorrede ist auf April 1792 datiert. Skeptisch muss machen, dass Forkel einer jener zeitgenössischen Musiker und Musiktheoretiker ist, die in Etwas von und über MusikEtwas von und über Musik fürs Jahr 1777 heftig kritisiert werden. KrausKraus, Joseph Martin kannte Forkel von seinem Studium in Göttingen her, die Antipathie zwischen den beiden ist belegt, und das sollte bei Forkels Zuschreibung misstrauisch machen, dass er als Gescholtener die Schrift seinem ehemaligen Widersacher zuschreibt. Allerdings hat GerberGerber, Ernst Ludwig in seinem Historisch-Biographischen Lexicon der TonkünstlerHistorisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler von 1792 noch einen WagnerWagner, Heinrich Leopold als Verfasser angegeben – man sollte also seiner Kraus-Zuschreibung nur mit Skepsis folgen. Robert EitnerEitner, Robert (1832–1905) zementierte diese schließlich 1836 in seinem QuellenlexikonQuellenlexikon.Wagner, Heinrich LeopoldEtwas von und über Musik fürs Jahr 177762 In der Korrespondenz von Kraus, die gemeinhin als Beleg für die Richtigkeit der Zuschreibung angeführt wird, finden sich ungefähre Anhaltspunkte. So schreibt Kraus in einem Brief an seine Eltern vom April 1777, er wäre angesichts der Kritik an seinem Drama TolonTolon sicherlich mehr bekümmert, „wenn ich nicht an einer Revision der heutigen Musik arbeitete. Gott weis, wenn das Dieng fertig wird. Was die Leutgens, Leute gros und klein – jung und alt dazu sagen werden, das will ich dann sehn.“63 In einem weiteren Brief an die Eltern vom 11. Juni 1777 heißt es dann schon: „Heute schreibe ich an Keßlern wegen einem Manuskript. Meinetwegs übernehm ers oder nicht – Ists lezte, so geht’s auf Leipzig. Es ist über Musik. Ha! man muß die Gözen einmal beim Kopfe nehmen, sie beim Rumpfe schütteln und hohnlachen!“64 Im Brief vom 5. Januar 1779 an seine Eltern – KrausKraus, Joseph Martin war da bereits nach Stockholm ausgewandert – bekennt er sich indirekt als Verfasser: „Wollen Sie sich und meinem Bruder eine kleine Freude machen, so kaufen Sie in Frankfurt das Etwas von und über MusikEtwas von und über Musik fürs Jahr 1777. Es ist das Werkchen, das Keßler [= der Verleger von Kraus’ Drama TolonTolon] nicht annehmen wollte. Aber, sagen Sie’s bei leibe niemand, daß es von mir ist, warum? lesen Sie’s nur.“Kraus, Joseph Martin65 Wenige Tage später, am 18. Januar 1779, schreibt er den Eltern, und die Kraus-Forschung bezieht diese Äußerung auf Etwas von und über Musik: „[…] bis endlich mein Zeug nach Darmstadt gerith, wo es ein vornehmer Mann über sich nahm, und das Kind unter die Presse jagte. Mit der Manier bliebs so grob, als es zuvor war, und es gereut mich nicht – und es soll noch gröber kommen“Merck, Johann Heinrich66. Zuletzt könnte eine briefliche Bemerkung von Kraus’ Schwester Marianne Lämmerhirt aus dem Jahr 1801 angeführt werden, die nach dem Erhalt von „drei Werkchen vom Bruder“ fragt, die ihre Eltern dem ersten Kraus-Biografen Silverstolpe geschickt hatten, darunter als Nummer drei „Etwas über Musik“.67 Das sind keine Beweise, gleichwohl Indizien. Und gewiss ist die Zuschreibungsthese mit den Indizien kompatibel, aber eben auch nicht nachweisbar, und keine Rede kann davon sein, Kraus’ Verfasserschaft sei „gründlich bezeugt“68 oder „vielfach bezeugt“69.

Drei Textstellen sind in der Schrift irritierend. Erstens spricht der Autor von „O mein Müller“70, eine ähnliche Redeweise verwendet auch Schubart in seiner Autobiografie.Maler Müller71 Ist das somit ein Indiz dafür, dass Etwas von und über MusikEtwas von und über Musik fürs Jahr 1777 nicht von KrausKraus, Joseph Martin stammen kann? Dagegen spricht, dass Kraus selbst in Mannheim studiert hat, dort Maler MüllerMaler Müller hätte kennenlernen können:

„O komm – komm du, dessen Sprache Seele und Kraft ist – der mit einem Blicke zu einem Bilde ganze Welten durchläuft – mir den Odem benimmt, wenn er allmälig tief aus dem Innersten die verborgensten – nie gesehne Bilder herauf – mir vor meine Seele zaubert – mich auf dem Sturme mit sich fortschleudert, wenn er raßt und mich hinwirft, daß Wälder und Klipp’ und Sterne um mich rumtaumeln – dann mir auf die Brust kniet und’s Innerste hinauf bis an die Augen treibt – der aus mir machen kann, was er will – Gott, Held, Teufel und Furie – O mein Müller – nimm meine Seele und schüttel sie, daß sie wieder munter wird. Ihr – die ihr noch Kraft in euch fühlt, einen grossen göttlichen Funken ausser euch zu denken – die ihr Trieb fühlt, euch ihm zu nähern und euch dran zu erwärmen – leßt eine Seite aus seinem Tod Abels – eine einzige aus Faust – Könnt ihr dann noch eine Zeile, eine einzige aus Alzesten verdauen – so laßt euch ins Gesicht spucken und aus der Welt hinausprügeln: Die beste und lezte Kur für euch! Daß so ein Mann – daß Müller verkannt werden kann – Ha! Konduite muß der Musiker nicht haben – keine soll er haben, denn der Pursch muß von der Leber wegsprechen – Thut ers nicht, so nehmt ihm die Feder und treibt sie ihm durch beide Ohren, daß ihm Hören und Sehen vergeht!“72

Maler Müller wiederum war schon 1765 zur Zeichenausbildung in Zweibrücken. Von ihm erschien erstmals 1774 ein Gedicht im Göttinger MusenalmanachGöttinger Musenalmanach, und der junge Autor zog damit sogleich die Aufmerksamkeit der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren, auch Schubarts, auf sich. Ab 1775 hielt sich MüllerMaler Müller in Mannheim auf, KrausKraus, Joseph Martin hingegen war nicht mehr vor Ort. Zweitens heißt es in der Schrift, nachdem der Verfasser KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb als den einzig wahren, lyrischen Dichter gelobt und einen solchen für die Oper gefordert hat: „Wollte er es – wollte es F.L.G. v. StollbergStolberg, Friedrich Leopold Graf zu – wollte es der Mahler Müller – wollte es mein H… – Dann – dann erst würden wir […] wahre und gute Opern bekommen“73. Ähnlich heißt es an anderer Stelle über die Liederdichter: „Das ist gewiß: Klopstock – F.L. Stollberg – Maler Müller – H… und des Gelichters schicken sich dazu nicht“74. Die Initiale H wird von der Kraus-Forschung für Kraus’ Göttinger Studienfreund Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich (1753–1779) in Anspruch genommen. Wenn aber SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel der Verfasser wäre, bezöge sich das H auf Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp.

Auf die Singbarkeit von Schubarts Gedichten, und nicht zu reden von seinen Eigenkompositionen, wurde bereits von den Zeitgenossen hingewiesen; nicht ganz zu Unrecht wurde der Germanistik vorgeworfen, sie habe diesen Aspekt bis heute „vollkommen ausgeblendet“Die Fürstengruft75. Und Schubart galt nicht nur in seiner eigenen Wahrnehmung als begnadeter Organist und Flügelspieler, sondern er hatte sich diesen Ruf schon in den ersten Jahren des Jahrzehnts 1770 in Fachkreisen erworben. Davon zeugt das Buch Musikalisches TagebuchMusikalisches Tagebuch (1773) von Carl BurneyBurney, Carl, der Folgendes berichtet:

„Ludewigsburg.

Der Grund, worauf diese Stadt gebauet, ist unregelmässig und wild, dennoch findet man manche schöne Gassen, Spaziergänge und Häuser darin. Die umliegende Gegend ist nicht eben angenehm, aber fruchtbar, an Wein besonders, denn sie liefert eine grosse Menge von dem sogenannten Nekkerweine.

Eigentlich ist Stutgard die Hauptstadt des Herzogthums Würtenberg, allein seit länger als zehn Jahren hat der Herzog nicht mehr daselbst residirt; und die Opern und andre musikalischen Stiftungen dieses Prinzen, welche die sieben Jahre, daß JomelliJommelli, Niccolò die Direktion darüber hatte, die besten und prächtigsten zu seyn pflegten, sind nur noch bloß der Schatten, von dem was sie gewesen sind.

Unter andern Einschränkungen, die der Herzog vorgenommen, hat es auch seine Oper und Kapelle mit betroffen, indem eine grosse Anzahl der alten Kapellisten auf halben Sold gesetzt sind: allein wie die meisten musikalischen Virtuosen zu hohe Seelen haben, um mit der ganzen Besoldung auszukommen, sie sey so groß sie wolle, so haben diejenigen unter den besten am hiesigen Hofe, welche Talente für Geld hatten, die Herabsetzung ihres Gehalts als eine Verabschiedung angesehen, und sobald sich nur eine Gelegenheit zeigt, anderwärts unterzukommen, suchen sie Erlaubniß, andre Dienste zu nehmen.

Als ich von Schwetzingen abreisete, verließ ich den geraden Weg nach Wien ein wenig, um Ludewigsburg zu besuchen, woselbst ich, wie man mir sagte, nicht nur den Herzog von Würtenberg finden, sondern auch Opern, Concerte und grosse Virtuosen zu hören bekommen würde. Allein nachdem ich mich vierzehn bis funfzehn Stunden auf dem Postwagen hatte zusammen rütteln lassen, und fast lebendig geröstet zu Ludewigsburg ankam, fand ich leider, die erhaltne Nachricht so wenig wahr, daß sich der Herzog dreyzehn Meilen entfernt zu Graveneck aufhielt, und kaum ein guter Musikus in der Stadt geblieben war. Indessen erhielt ich ein genaues Verzeichniß von der gegenwärtigen Verfassung der Würtenbergischen Musik, für den Hof, das Theater und die Kirche. […] Die vornehmsten Organisten sind Friedrich Seemann und Schubart. Vier Hoboen, Alrich, Hitsch, Blesner und Commeret. Flöten, Steinhart, der sehr schön bläset, und Augustinelli. Drey Waldhörner; zwey Bassons, Schwarz, ein vortreflicher, und Bart.

[…]

Der Herzog von Würtenberg, der sonst so grosse Kosten auf die Musik für seinen Hof und Opern verwendet, hat, so viel ich gehört, bey seinen Regimentern keine andre Instrumente, als Trompetten, Trommeln und Pfeifen.

Dieser Prinz, welcher selbst ein guter Clavicimbelspieler ist, hatte einst zu gleicher Zeit in seinem Dienste drey der grössesten Violinisten in Europa, Ferari, Nardini und Lolli. Die beyden Hoboisten Le Plats, einen berühmten Bassonisten, Schwarz, der noch hier ist, den Waldhornisten Walther, und JomelliJommelli, Niccolò zum Komponisten, und die besten ernsthaften und komischen Sänger von Italien. Gegenwärtig ist die Liste seiner Virtuosen freylich nicht so glänzend; dennoch glaub’ ich, ist die Einschränkung mehr scheinbar als wesentlich. Denn zur Solitude, einem lieblichen Sommerpallaste, hat er mit erstaunlichen Kosten eine Schule für die Künste, oder ein Conservator[i]um errichtet, zur Erziehung von zweyhundert armer und verlassener Kinder, welche Fähigkeiten zeigen. Einer grossen Anzahl von diesen wird Musik gelehrt, und es sind schon verschiedne sehr vortrefliche Sänger und Spieler fürs Theater daraus hergenommen werden. Einige lernen die gelehrten Sprachen und treiben die Poesie, andre lernen agiren und tanzen. Unter den Sängern in dieser Schule befinden sich schon funfzehn Kastraten, denn der Hof hat zwey Bologneser Wundärzte im Dienste, welche diese Operation sehr gut verstehen sollen. Zu Ludewigsburg ist gleichfals ein Conservatorium für ein Hundert Mädchen, die auf eben die Art und zu eben den Zwecken erzogen werden. Das Gebäude, das zu Solitude zur Kunstschule für die Knaben errichtet worden, hat eine Fronte von sechs bis sieben hundert Fuß. Eine von den Lieblingsbeschäftigungen des Herzogs ist, diese Schule zu besuchen, und die Kinder essen und lernen zu sehen.

Ich kann hier nicht unterlassen, dem Herrn SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel, Organist an der lutherischen Kirche, meinen Dank zu bezeigen. Er war der erste wahre grosse Flügelspieler, den ich bisher in Deutschland angetroffen hatte, wie auch der Erste, welcher dafür zu halten schien, daß der Zweck meiner Reise, gewissermaassen eine Nationalangelegenheit wäre. Ich reisete nicht, wie ein Musikus gemeiniglich zu reisen pflegt, um Geld zu verdienen, sondern es zu verzehren, musikalische Talente und Verdienste aufzusuchen, wo ich solche nur finden konnte, um solche meinen Landsleuten bekannt zu machen. Herrn Schubart schien dieses einzuleuchten, und er gab sich alle mögliche Mühe, sowohl meine Ohren als meinen Wunsch zu vergnügen. Er ist von der Bachischen Schule; aber ein Enthusiast und ein Original von Genie. Viele von seinen Sachen sind in Holland gestochen, und sind voller Feuer und Geschmack. Auf dem Clavier spielte er mit grosser Feinheit und vielen Ausdruck. Seine Hand ist brillant, und seine Phantasie sehr reich. Er hat einen vollkommnen Doppeltriller in der Gewalt, wohin nur wenige Clavierspieler gelangen.

Er war einige Zeit Organist zu Ulm, und hatte da ein schönes Orgelwerk unter Händen; hier aber hat er nur eine sehr erbärmliche. Da, wo er itzt hin verpflanzt ist, kennt man ihn wenig: die gemeinen Leute halten ihn für närrisch, und die übrigen bekümmern sich nicht um ihn.

Wir theilten uns auf eine seltsame Art unsre Gedanken mit. Ich war noch nicht so weit in der Sprache gekommen, und auch zu ungeduldig, seine Ideen zu wissen, um im Deutschen mit ihm Schritt zu halten, und er sprach weder Französisch noch Italiänisch, konnte aber ziemlich Latein sprechen, weil er in der Jugend für die Kirche bestimmt war; und ich erstaunte darüber, wie schnell und leicht er alles im Latein ausdrücken konnte, was er wollte; bey ihm war es wirklich eine lebende Sprache. Ich gab ihm den Plan von meiner Geschichte der MusikMusik auf Deutsch, und er, um mich zu überzeugen, daß er recht gut meine Mein[u]ng verstünde, übersetzte ihn, da[s] ist, er las ihn mir auf der Stelle lateinisch vor. Meine Aussprache des Lateins, wenn ich auch gewohnt gewesen wäre, es zu sprechen: würde ihm nicht verständlich gewesen seyn. Allein da er Italiänisch verstund, ohne es gleichwohl sprechen zu können, so führten wir unsre Unt[e]rredung in zwo verschiedenen Sprachen, Lateinisch und Italiänisch. Die Fragen, die in einer Sprache gethan wurden, erhielten die Antwort in der andern. Auf diese Art waren wir den ganzen Tag über sehr gesprächig, während dessen er nicht allein vieles auf der Orgel, dem C[l]avecimbel, Pianoforte und Clavier spielte; sondern mir auch das Theater und alle Merkwürdigkeiten zu Ludewigsburg zeigte, und mir den Charakter aller Musiker am Hofe und in der Stadt aufschrieb. Und gegen Abend war er so gefällig, drey oder vier Bauren in seinem Hause zu versammlen, um solche Nationalmusik singen und spielen zu lassen, nach welcher ich ein grosses Verlangen bezeigt hatte.“76

Im Register zum Buch wird SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel als „Organist zu Würtenberg“77 geführt. Schubart wird seit Januar 1777 gefangen gehalten, er hätte also einen Druck nicht begleiten können, in den Briefen finden sich keine Anhaltspunkte, dass er sich damit beschäftigte, zumindest sind keine entsprechenden Briefe überliefert. Andererseits kann man einwenden, dass Etwas von und über MusikEtwas von und über Musik fürs Jahr 1777 schon vor Januar 1777 im Manuskript abgeschlossen und der Kontakt zum Verlag der Eichenbergschen Erben in Frankfurt am Main hergestellt worden war.

Und schließlich drittens: An einer anderen Textstelle spricht der Verfasser davon, „ich bin Papa“: „Laßts euch deswegen nicht verdriessen lieben Leute, wenn ihr, kaum daß ihr Dreßlers Theaterschule wieder in seinen locum aufm Bücherbrett verwiesen habt, gleich wieder ein raisonnirendes Werkchen (ich bin Papa – folglich kann ich dem Ding einen Namen geben wie ich will) in die Hände kriegt […]“78. Im metaphorischen Sinn kann das natürlich bedeuten, dass der anonyme Verfasser sich auf seine Text-Urheberschaft beruft. Versteht man die Textstelle hingegen buchstäblichbuchstäblich, hätte sich KrausKraus, Joseph Martin dadurch öffentlich zu einem unehelichen Kind bekannt – das ist sehr unwahrscheinlich. SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel hingegen war seit dem 10. Januar 1764 mit Helena SchubartSchubart, Helena (1744–1819) verheiratet, hatte eheliche Kinder (den Sohn Ludwig AlbrechtSchubart, Ludwig Albrecht (1765–1811) und die Tochter JulianaSchubart, Juliana (1767–1801) und, will man der Andeutung seines Sohnes folgen, auch zwei uneheliche Kinder, sein Vater „hatte zweimal die ganze Kraft seiner Constitution vonnöthen, um sich das galante Andenken vom Halse zu schaffen, womit sie [= „die großen und zum Theil schönen Damen“] ihn beehrten“79. Selbst das Verb „quaxen“80 im Sinne von ‚quaken‘, ‚unreflektiert daherreden‘, das am Ende des Textes offensichtlich als dialektaler Ausdruck Verwendung findet, kann keinen eindeutigen Beleg für die eine oder andere Zuschreibung bieten. Denn quaxen ist sowohl im süddeutschen Sprachraum nachgewiesen als auch im Nassauischen.81

Was mich schließlich außer den sprachlichen, fachwissenschaftlichen und biografischen Auffälligkeiten sehr zu einer Zuschreibungsthese verleiten könnte, ist eine Bemerkung in der einzig nachweisbaren, äußerst kritischen Rezension dieser Musikschrift. In der Litteratur- und Theater-ZeitungLitteratur- und Theater-Zeitung vom 5. Juni 1779 ist zu lesen: „Wir könnten den Verfasser nennen, und ihn öffentlicher Verachtung Preis geben; weil er aber selbst für gut befunden, das Incognito zu behalten, läßt uns dies hoffen, er werde, so wie er näher an vierzig kömmt, gesetzter und vernünftiger werden, und die Sünden seiner Jugend bereuen; wozu der Himmel seinen Segen verleihen wolle.“82 Warum ruft der Rezensent das 40. Lebensjahr auf? KrausKraus, Joseph Martin ist Jahrgang 1756, im Jahr 1778 ist er also 22 Jahre jung, SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel hingegen wird am 24. März 1779 40 Jahre alt, steht also beim Erscheinen der Schrift in seinem 40. Lebensjahr. Um es noch einmal zu betonen: All das ist kein Beweis. Das Beispiel soll lediglich die schwierige Kategorie der Zuschreibung gerade auch im Falle Schubarts in Erinnerung rufen. Und dieser Aufgabe hat sich jede Schubart-Ausgabe zu stellen.

Das zweite Beispiel, an dem die Denkfigur der Zuschreibung diskutiert werden kann, betrifft das Thema Politik und Revolution. Schubart wird eine Schrift zugeschrieben, die folgenden Titel hat: Das Wetterleuchten über Europa am Ende des Jahrhunderts gesehen im Jahr 1788Das Wetterleuchten über Europa. (Aus den Papieren eines verstorbenen Geistersehers.) Mit beyläufigen Anmerkungen und Zusätzen. Maltha und Cairo 1799. Daneben existiert noch eine text- und seitenidentische Ausgabe mit dem zusätzlichen Vorsatz- oder Titelblatt Die Todtenglocke der Europaeischen PolitikDie Todtenglocke der Europaeischen Politik. (Oder das Wetterleuchten über Europa.) 1788–1799.83 Dem Buch ist folgendes Motto vorangestellt: „Diese Schrift athmet Großsinn und Großgefühl. Kein Mann von Herz und Kopf wird sie ohne Nutzen lesen. Es ist ein elektrischer Funke, der aussprüet, um Licht um sich zu werfen; zu erhellen als Kometschein wo Nacht und eingewurzelte Vorurtheile thronen!“84 Im Einzelnen sind das größtenteils Nachdrucke von Schubarts journalistischen Arbeiten, mit kürzeren, verbindenden Kommentaren (von seinem Sohn LudwigSchubart, Ludwig Albrecht?), Goedeke nennt es „Zusammenstellung von politischen Artikeln aus der Vaterländ. Chronik 1788“85. Eine exakte Analyse steht noch aus. Die Entdeckung des Revolutionärs Schubart in der Rezeption beginnt also im Jahr 1799, vielleicht mit der Vermarktung seiner zur Revolutionspublizistik nobilitierten journalistischen Arbeiten der 1770er-Jahre. Darin finden sich Äußerungen wie „welch ein unerhörter Despotißmus auf uns ruhete, als die Revolution in Frankreich ausbrach“86. Die Handelsbeschränkungen und kleinstaatlichen Zollpraktiken – er spricht sogar von „Mauth-Terrorismus“ – seien „ein mächtiger Vorläufer zur Revolution“ gewesen.87 „Der Deutsche hat kein Vaterland mehr!“88 Über Europas Sittenzustand liest man: „Die Axt hat deine älteste Eichen gefällt; – Europa! und der Arm der Kultur hat deine Wälder gelichtet. Alles ist so neu, so verändert, so schwächlich, so gekünstelt! Von Eisrinden haben die Aufklärer einen Aufklärungstempel errichtet, darinn der Priester wie der Anbeter – fröstelt! Kurz, da sie sich für Weise hielten, sind sie alle zu Narren worden.“89 SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel urteilt eindeutig: „Seit vierhundert Jahren wächst der Despotismus in Europa, vornemlich in Deutschland!“90 Der Freiheitsbegriff Schubarts umfasst die religiöse Freiheit, die künstlerische Freiheit und die politische Freiheit. Sein Sohn schreibt, er „blieb der Sache der Freyheit […] unerschütterlich treu“91; „ein Hauptzug in seinem Bilde, war glühendes Freiheitsgefühl“92, so wird er charakterisiert. Den württembergischen HerzogKarl Eugen, Herzog von Württemberg nennt LudwigSchubart, Ludwig Albrecht übrigens ‚einen kleinen Despoten‘, der seinen Vater an größeren Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten gehindert habe, andernfalls hätte Schubart „nicht blos rhapsodisch gearbeitet“ und nicht auf umfangreichere „Meisterwerke“ verzichtet.93 Und der Vater schreibt in der Vorrede zum ersten Band seiner Autobiografie (1791), er sei ein Mensch, „der mit diesem brennenden Freiheitsgefühle gebohren ist“94. In der Autobiografie Schubart’s Leben und GesinnungenSchubart’s Leben und Gesinnungen (1791) spricht er selbst „von der grossen Revoluzion“ und meint damit den „Sturz des Jesuitenordens“ in Bayern.95 Man solle sich die republikanischen Beispiele der Schweiz und Hamburgs genau betrachten, um im Kontrast zu den deutschen Höfen „zu sehen, wie Sklaverei den Menschen verschnizelt, bis er so klein wird, daß er kriechen kann!!“96 ‚Frei‘ ist für ihn „das heilige Wort“97. Selbst ein „Märchen“ dichtete er mit dem Titel Die Freiheit.98 Und zu erinnern ist an sein Gedicht Deutsche FreiheitDeutsche Freiheit99 – zahllose weitere Belege ließen sich anführen.

Hermann HesseHesse, Hermann meinte über SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel, keiner zeige so unverfälscht die „großartige Psychologie des genialen Amokläufers gegen Philistertum und Alltag“100. Und in anderem Zusammenhang schrieb er 1929: „Schubart ist noch immer ein Musterbeispiel für das deutsche ‚Genie‘ und sein Schicksal“101. „Es wäre aber sehr zu wünschen“, so fährt er in seinem Nachwort zur Ausgabe fort, dass nicht nur die Dokumente zu Schubarts Biografie interessierten, sondern auch „Neugierde und Teilnahme heutiger Leser“ die Werke des Dichters Schubart einschließen. Nun sind seitdem einige wichtige Ausgaben erschienen, ich erinnere nur an die Auswahlausgaben des Aufbau- und Reclam-Verlags Ost von Schubarts Werken in einem Band (beginnend in den 1950er-Jahren, bis zur einbändigen Ausgabe im Aufbau Verlag von 1988, hgg. v. Ursula Wertheim u. Hans Böhm), an die Reclam-Ausgabe-West (1978, hgg. v. Karthaus), an den Reprint der Jahrgänge 1774/1777 der Deutschen ChronikDeutsche Chronik (1975) sowie an die wichtige dreibändige Edition der Briefe durch Breitenbruch (2006). „Das beste Denkmal für Schubart wäre eine genaue, kritisch gesichtete und berichtigte Ausgabe seiner Werke und namentlich seiner Gedichte gewesen; aber gerade da fehlt es“102. Das hat Wilhelm HauffsHauff, Wilhelm Bruder GustavHauff, Gustav im Vorwort seiner Gedichteausgabe geschrieben, und das war im Jahr 1884. Heute, 135 Jahre später, ist dieser Zustand unverändert beklagenswert, es gibt sie nicht, die kritische Schubart-Ausgabe. Noch nicht. Denn mit dieser philologischen Miniatur will ich unterstreichen, dass es an der Zeit ist, das Projekt einer historisch-kritischen Schubart-Ausgabe anzugehen und auf den Weg zu bringen. Insofern schließe ich mit einem Plädoyer für eine historisch-kritische Schubart-Ausgabe, die zum Ziel hat, dass wir nicht den vielen Einzel- und Sammelausgaben eine neue hinzufügen, sondern dass die dichterischen, die publizistischen und die fachwissenschaftlichen Texte SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel endlich auf eine verlässliche Textgrundlage gestellt werden.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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