Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 35

Merck: Gedichtete Fabeln und lyrische Gedichte

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„Wenn ich nicht fürchtete, eben so ein grämlicher Schwätzer zu werden, als manche von meinen Herren Collegen, so würde ich einige von den Fäden meiner Philosophie vor Ihren Augen aufziehen, und Sie würden vielleicht herzlich über den groben Teppich lachen“ (Br, S. 56)1. Das schreibt Johann Heinrich MerckMerck, Johann Heinrich an Sophie von La RocheLa Roche, Sophie von unter dem Datum des 21. Septembers 1771. Am Ende dieses Briefes stellt er der Adressatin in Aussicht, bald auch einige Verse zu schicken. Ob er dies ausgeführt hat, wissen wir nicht, an welche Verse er dachte, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Waren es versifizierte Fabeln, waren es die empfindsamen Lieder oder beschäftigte sich Merck mit anderen, neuen Gedichten?

Der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund und Förderer Merck wurde 1741 in Darmstadt geboren und starb ebenda 1791, und in der Höhle des Löwen, um gleich ein Fabeltier zu nennen, sollte man nicht unbedingt mit einem Aufklärungslämpchen archäologische Arbeiten verrichten wollen. In seiner Fabel Die Fackel und das LichtDie Fackel und das Licht lässt Merck den Streit darüber, wer von beiden bedeutender, wichtiger für die Menschen sei, so enden: „O gebt euch beyde doch zufrieden! / Sie da ist gröser – sprach er zu dem Licht, / Und du bist nützlicher. – So war der Streit entschieden“ (W, S. 92)2. Merck spielt damit auf die Fackel als SymbolSymbol der AufklärungAufklärung an. Auch wenn diese Fackel der Aufklärung, die stets eine Aufklärung des Verstandes bedeutet, schnell abgebrannt ist, so bleibt uns immer noch das Licht, das die Besserung der Herzen erhellt. Für diese Allusion gilt, was Merck am 28. Juni 1774 Friedrich NicolaiNicolai, Friedrich brieflich erklärt: „Der Deuter genießt immer ein sicheres Vergnügen, wenn er den Sinn der Allusion getroffen zu haben glaubt“ (Br, S. 114).

Es mag also erstaunen, vielleicht sogar befremden, dass Johann Heinrich Merck als Lyriker angesprochen wird. Ist er uns denn als Gedichteschreiber bekannt? Finden wir seine Verse etwa in Schulauswahlen oder in Anthologien?3 Merck, der Prosaist, Merck der Briefschreiber, MerckMerck, Johann Heinrich, der kulturelle Redakteur, der in den wenigsten Fällen geschäftlich erfolgreiche Unternehmer in der Res publica litteraria, der aufgeklärten Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, Merck, der Rezensent und Beiträger der wichtigsten Literaturzeitschriften des 18. Jahrhunderts, Merck, der Paläontologe und naturwissenschaftlich interessierte und gebildete Laie,4 schließlich Merck, der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund oder Merck, der Kriegsrat – all diese Etikettierungen sind uns hinlänglich bekannt. Aber Merck, der Lyriker? Ein Autor, zu dessen Lebzeiten niemals ein Gedichtband erschienen ist?

Es nimmt nicht wunder, wenn wir einen Blick in die einschlägige, gleichwohl spärliche Forschungsliteratur zu Johann Heinrich Merck werfen, dass seine Lyrik keineswegs Gegenstand großen wissenschaftlichen Interesses bislang gewesen ist. Franz MunckerMuncker, Franz sieht in seinem Merck-Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie (1885)5 in den Fabeln LessingsLessing, Gotthold Ephraim und in Mercks lyrischen Versuchen den Einfluss der Dichter des Halberstädter und Göttingischen Kreises, aber auch den Einfluss HerdersHerder, Johann Gottfried am Werk. Muncker bescheinigt diesen Gedichten gleichwohl tiefe und zarte Empfindung.6 1911 bietet Hermann Bräuning-Oktavio in einem Aufsatz neu entdeckte Gedichte von Merck.7 In Helmut Prangs Monografie Johann Heinrich Merck. Ein Leben für andere (1949)8 finden sich nur marginale Bemerkungen zum Thema. Anders verhält es sich in einer späteren Publikation Hermann Bräuning-Oktavios, er veröffentlicht 19619 in einem Aufsatz auszugsweise, dann 1962 in einer Buchpublikation erstmals vollständig alle Fabeln aus der Feder Mercks. Es handelt sich dabei um die Darmstädter Handschrift, die heute in der Hessischen Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt aufbewahrt wird.10 Zuvor waren von den 73 Fabeln, von denen insgesamt nur noch 71 erhalten sind, schon 17 durch Karl Wagner 1835 veröffentlicht worden, allerdings teilweise mit erheblichen Weglassungen durch den Herausgeber. Gerhard Sauder würdigt die Fabeln und Gedichte Mercks in seinem Jubiläumsaufsatz von 1991.11 Walter Pabst (1993)12 druckt in seinem Aufsatz MercksMerck, Johann Heinrich Gedicht Michel Angelo ab und schließt eine 21-zeilige Paraphrase an. Zum 210. Todestag und 260. Geburtstag Mercks legte Walter Schübler ein Buch vor mit dem Titel Johann Heinrich Merck 1741–1791. Biographie (Weimar 2001). Diese Arbeit ist eine durch Kommentare unterbrochene Auslese aus Mercks Briefen, seinen Schriften und zeitgenössischen Dokumenten, eben ein „kaleidoskopisches Porträt“13. Auch hier finden wir über Mercks Lyrik wenig.

Man muss es also deutlich sagen, wenn es um die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik im 18. Jahrhundert geht, wird ein Name nie genannt, Johann Heinrich Merck. Über ihn als einen Lyriker zu sprechen bedeutet daher, sich einer poetischen Produktivkraft zu erinnern, die es erst freizulegen gilt. Wenn wir uns über Mercks Lyrik verständigen, müssen wir zwischen drei kleinsten Werkgruppen unterscheiden. Da sind zunächst die Fabeln zu nennen, dann die empfindsamenEmpfindsamkeit oder die lyrischen Gedichte (einschließlich der sogenannten Kasuallyrik) und schließlich die Satiren.14 Nach Arthur Henkel sind die Fabeln „wohl vor 1770“ (W, S. 633) entstanden. Hermann Bräuning-Oktavio datiert sogar genauer zwischen 1760 und 1770,15 doch gibt es für eine verlässliche Datierung keine Anhaltspunkte. Einige der Fabeln wurden im Göttinger Musenalmanach 1770, andere erst später von dem Merck-Forscher und Merck-Editor Karl Wagner 1835 oder sogar erst 1962 durch Bräuning-Oktavio zum Druck befördert. Die lyrischen Gedichte sind überwiegend in der Zeit Anfang der 1770er-Jahre geschrieben worden, Bräuning-Oktavio datiert die meisten dieser insgesamt 27 Gedichte hingegen auf das Jahr 1771.16 Doch ist das nicht mehr als ein Mittelwert, da er an anderer Stelle die Jahre 1770 bis 1772 als Entstehungszeitraum angibt.17 Die meisten davon wurden in zeitgenössischen Zeitschriften auch gedruckt. Spät, im November 1778, wird MerckMerck, Johann Heinrich WielandWieland, Christoph Martin für dessen Teutschen Merkur ein Gedicht schicken, das vorgeblich von einem Fräulein geschrieben sein soll. Im Merkur wurde es nicht gedruckt, und ob Mercks Angabe richtig war, lässt sich nicht mehr feststellen. Schwer jedenfalls ist es sich vorzustellen, dass Merck sieben Jahre nach dem Ende seiner empfindsamenEmpfindsamkeit Phase nochmals ein Gedicht aus jener Zeit hervorholt und es Wieland zum Druck anbietet. Die Schottischen LiederSchottische Lieder, die zu den lyrischen Gedichten gerechnet werden, sind Übersetzungen Mercks aus dem Englischen und wurden 1776 veröffentlicht. Zu den Verssatiren gehören schließlich insgesamt drei Texte in Reimform: die Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem JüngerenRhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem Jüngeren (1773), eine „burleske Prosodie in Knittelversen“,18 Pätus und Arria. Eine Künstler-RomanzePätus und Arria (1775) und die Matinée eines RecensentenMatinée eines Recensenten, die zwar schon 1776 an WielandWieland, Christoph Martin geschickt, aber erst 1838 durch Wagner veröffentlicht wurde. Aus der Zeit nach 1776 liegen kein Gedicht, kein einzelner Vers, keine Satire und keine Fabel von Mercks Hand vor. Das wirft natürlich die Frage auf, weshalb Merck, der von der Forschung treffend als „Autor der Diskontinuität“19 beschrieben wurde, nahezu plötzlich seine lyrische Produktion abbricht. Ein kleiner historischer Exkurs erlaubt eine Annäherung an die Antwort auf diese Frage. Dass Literatur gefährlich, genauer, dass ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel und mithin der Umgang mit Literatur bisweilen tödlich enden kann, zeigt das Ende des 78-jährigen hessischen Landgrafen Ludwig VIII., der während einer Theateraufführung tot zusammenbrach. Am 17. Oktober 1768 gab die Leppertsche Gesellschaft von George LilloLillo, George den Kaufmann von LondonDer Kaufmann von London auf dem Darmstädter Hoftheater. Von Charlotte BuffBuff, Charlotte erfahren wir Genaueres:

„Es rührte ihn [den Landgrafen] sehr, wie natürlich und ihm gewöhnlich; er fand es schön, erwähnte gegen den Prinzen George die darin steckende Moralen und bemerkte die guten Stellen; er klatschte in die Hände, und plötzlich sank er tot, unter einem Bravo! in die Arme des Prinzen George. […] Die jetzige Frau Landgräfin […] hat das Comödien-Haus zunageln lassen, wie es heisst, und will nie wieder Comödien in Darmstadt spielen lassen“20.

Vielleicht liegt die historische Lehre dieses Vorfalls darin, dass es ein Adliger war, der ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel gesehen hat und dabei einen Schlaganfall erlitt. Die Fabeltheoretiker nennen dies Fabula docet, also das Epimythion, die Moral der Geschicht, und dem späten MerckMerck, Johann Heinrich, dem Sympathisanten der Französischen RevolutionFranzösische Revolution, hätte dieser Vorfall, hätte er sich 1790 ereignet, sicherlich einige beißende Bemerkungen entlockt. Denn wie kritisch Merck Despotismus, Günstlingswirtschaft und Hofschranzentum gegenüber eingestellt war, belegen über die Jahre hinweg die Fabeln, zahlreiche einschlägige Briefstellen und Bemerkungen in seinen Prosaschriften.

Betrachten wir uns nun etwas genauer das Fabel-Werk und bleiben wir gleich bei diesem ersten Aspekt, der politischen Dimension von Mercks Fabel-Dichtung. Nicht die Form dieser Fabeln, sondern der Inhalt, also Mercks Gedanken „zu ethischen und sozialen Fragen“21 seien das eigentlich Interessante an diesen Gedichten, meinte Bräuning-Oktavio. Andere hingegen sahen in den Fabeln mehr oder weniger unbedeutende Jugendarbeiten. „Mehr als Gebrauchs- und Unterhaltungslektüre für den Geschmack des Tages“ (W, S. 33) seien sie schon damals nicht gewesen, sie erhöben sich nirgends über die zeitgenössische Bildungs- und handwerkliche Kunstfertigkeit, meinte Peter Berglar in seiner Einleitung zur Werkausgabe von 1968.

Merck bietet Höpfner am 16. November 1769 einige seiner Fabeln zum Druck an, fünf werden im Göttinger Musen-Almanach 1770 veröffentlicht.

„Ob Sie meine Fabeln in den Almanach sollen druken lassen? – Sie können sich doch vorstellen daß ein Bettler wegen seines schlechten Rocks nicht darf besorgt seyn, wenn man ihn dem Volck unter einer Versammlung reichgekleideter Männer zeigt – Es wird sich niemand über ihn aufhalten, weil niemand auf ihn Achtung giebt, und so kommt er doch mit Ehre zum Thor hinaus. Machen Sie mit was Sie wollen, schneiden Sie ab, setzen Sie zu, nehmen Sie was Sie wollen, aber setzen Sie nur meinen Namen unter nichts“ (Br, S. 33).

Merck bedient sich vorwiegend der Tradition der Tierfabeln, so finden sich in dieser Werkgruppe Titel wie Der Hahn und der Fuchs, Der sanftmüthige Wolf, Der Esel und das Pferd, Der Hahn und das Pferd, Der Adler und die Taube usf. Daneben greift MerckMerck, Johann Heinrich auch auf mythologische und historische Themen zurück, wie beispielsweise Sokrates, und Antisthenes, Der Gott Merkur und Amor, Prometheus und Jupiter, Pyrrhus und Xerxes. Mercks Fabeln sind Lehrfabeln, ohne dass sie sich in einem Tugendmoralismus erschöpfen. In dem Gedicht Der Mönch und die Junge FrauDer Mönch und die Junge Frau, worin der Geistliche seine Worte so verdreht, dass seine Verführungsabsichten camoufliert werden, ist weniger die Handlungsintention des Mönchs entscheidend als vielmehr die diskursive Gewalt, die er gegenüber der unwilligen, weil unverständigen Frau aufbringt. Am Ende spricht das lyrische Ich – und wir können darin durchaus den Autor selbst erkennen:

„So sieht ein jeder das, was er zu sehen hofft,

Und so betrügen wir uns offt.

So geht die Wahrheit stets verlohren,

Zwey Critiker beweisen, schimpfen sich,

Ein Jeder glaubt: die Wahrheit nur seh ich.

Und ich, ich seh zwey Thoren“ (W, S. 54).

Der politische Inhalt der meisten von Mercks Fabeln ist evident. Ich will in diesem Zusammenhang nur an zwei Äußerungen Mercks erinnern. Einmal verwendet er den Begriff der „KönigsSau“ (Br, S. 150), um den landgräflichen Autokraten zu kennzeichnen. Und zum zweiten notiert Merck nach dem Tod der Landgräfin, der Ton sei nun abscheulich geworden, das ganze Land seufze unter dem „Despotismus“ (Br, S. 157) des Landesherrn und seiner Vasallen. Mehr denn je ist Merck nun, 1777, darauf angewiesen, Kontakt mit Freunden brieflich herzustellen und zu pflegen (vgl. Br, S. 159). Fremde beträten kaum mehr Darmstädter Boden. „Ich bin hier in der hundetummsten Gesellschafft, u. höre das Jahr durch kein Wort, das mich freut. Es ist also kein Wunder, wenn ich ganz u. gar versaure“ (Br, S. 200f.), klagt er in einem Brief an Wieland vom 7. November 1778. Darmstadt nennt er gar den Lumpenort, er spricht von der elenden Lage „unsers lieben Örtgens […], wo man nichts als dummes Zeug sieht u. hört“ (Br, S. 207).

Schon Bräuning-Oktavio hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Mercks Fabeln soziale, ethische und politische Fragen enthalten.22 Ein unvoreingenommener Leser kann dem nur zustimmen, und es nimmt auch nicht wunder, dass dem so ist, dient doch die Gattung der Fabel seit ihrer äsopischenÄsop Gebrauchsform auch als Medium der teils subtilen, teils deutlichen Machtkritik. Im Jahrhundert der AufklärungAufklärung erlebt diese Gattung eine förmliche Renaissance und Weiterentwicklung. Man hat dies in der Forschung u.a. auch mit der Emanzipationsbewegung des BürgertumsEmanzipation des Bürgertums zu erklären versucht.23 So ruft denn der Fabeldichter MerckMerck, Johann Heinrich den Königen zu: „Ihr Wort kann alles – nur allein / Den innern Werth kans nicht verleyhn“ (W, S. 56). An anderer Stelle, in einem Streitgespräch zwischen Springbrunnen und Bach, argumentiert der Brunnen, dass er Teil der höfischen Repräsentationskunst sei, der Bach hingegen nur dem Pöbel diene. Der Bach erwidert, niemals wolle er mit dem Springbrunnen tauschen, denn so hoch dessen Strahl steige, so tief sei auch sein Fall (vgl. W, S. 58f.). In der Fabel Der Hund, das Pferd und der StierDer Hund, das Pferd und der Stier beklagen sich diese drei Tiere bei Zeus darüber, dass sie unglücklich mit ihrem Los seien. Der Hund moniert, stets treu und wachsam zu sein und dafür von seinem Herrn an die Kette gelegt zu werden. Zeus verspricht ihm eine Sklavenmoral, zukünftig solle der Hund gerne an der Kette liegen. Der Hengst fürchtet, jetzt zwar noch als Reittier gebraucht zu werden, dann aber als Ackergaul zu enden. Zeus beruhigt ihn, er gebe ihm das Bewusstsein seiner Stärke, jederzeit könne er zukünftig seinen Reiter abwerfen. Schließlich tritt der Stier hervor, er beklagt, dass er zu jeder Jahreszeit schwere Arbeit leisten müsse und diese stetig zunehme. Der Göttervater verleiht ihm die Eigenschaften der Trägheit und der Langsamkeit, um sein Joch zukünftig geduldiger zu tragen. Das Fabula docet am Ende enthält den Schlüssel zur politischen Lektüre dieser Fabel und hat folgenden Wortlaut:

„Wer sieht in diesem Bild nicht die polit’sche Sitten

Der Deutschen, Frantzen und der Britten,

Da ists die Freyheit, die der Bürger Hertz erhitzt,

Dort ists die Liebe zu den Potentaten,

Und hier die Trägheit, die den mächtigsten der Staaten

In seiner alten Form beschützt“ (W, S. 91f.).

Die Frage ist nur, welchem Sinnbild welche Nation zugeordnet wird.

Die Fabel Der Löwe und der BucklichteDer Löwe und der Bucklichte indes kann als eine Parabel auf MercksMerck, Johann Heinrich Leben als Autor gelesen werden:

„Der Löw verließ von Wuth entbrannt,

Sein Lager, um den Thäter zu entdecken,

Der seine Jungen ihm entwandt,

Sein Schmertz erfüllt das Land mit Schrecken,

Itzt traf er einen häßlich Kleinen Mann,

Der Bucklicht war, im Walde schlafend an.

Sein Grimm, geschäfftig sich zu rächen,

Weckt bald den Armen Fremdling auf.

‚Wer bistu Freund? – du willst nicht sprechen?

Erschrocken sah der Fremdling auf:

Ich bin Aesop. – ‚Aesop?

‚Der Richter über Ruhm und Lob?

‚Dich muß ich wol zufrieden lassen,

‚So schlecht es mir auch itzt gefällt,

‚Wenn ich nicht will, daß noch die spätste Welt

‚Mich soll als einen Wütrich hassen.

Ihr, die ihr von Natur nicht menschenfreundlich seyd,

Ihr Grossen seyds, weil es die Klugheit euch gebeut.

Beschützet das Talent, den Redner und den Dichter

Sie geben die Unsterblichkeit.

Die NachWelt, die nicht gern verzeyht,

Hört sie allein, als eure Richter.“ (W, S. 100)

Der Dichter als Bucklichter, in der Gestalt des Fabeldichters ÄsopÄsop, kann nicht auf Schutz und Förderung durch seinen Landesherrn hoffen. Zugleich ist ihm, dem Autor Merck, diese Aufgabe zu gering, nur für die Unsterblichkeit und den Ruhm der Mächtigen zu sorgen. Welche Konsequenz Merck aus dieser Einsicht gezogen hat, können wir nur vermuten. Tatsache hingegen ist, dass Merck plötzlich aufhört Fabeln zu schreiben. Weshalb? War es die Erkenntnis der so oft beschworenen Wirkungslosigkeit der Literatur? Waren seine Fabeln gelehrte Spielereien mit einer antiken Tradition? Oder war es die Einsicht, dass die Adressaten seiner Fabeln sich nicht um die politische Intention oder kritische Programmatik dieser Art von Literatur scherten?

Im 18. Jahrhundert können wir eine rege Gattungsdiskussion der Fabel beobachten. Der prominenteste Vertreter ist zweifelsohne LessingLessing, Gotthold Ephraim, doch dürfen dabei die zeitgenössisch breit rezipierten, anderen Fabeldichter und Fabeltheoretiker nicht übersehen werden, wie beispielsweise de La MotteLa Motte, Antoine Houdar de, La FontaineLa Fontaine, Jean de, LichtwerLichtwer, Magnus Gottfried, PestalozziPestalozzi, Johann Heinrich, PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad, GellertGellert, Christian Fürchtegott, HagedornHagedorn, Friedrich von, BreitingerBreitinger, Johann Jakob, BodmerBodmer, Johann Jakob, TrillerTriller, Daniel, GleimGleim, Johann Wilhelm Ludwig und GottschedGottsched, Johann Christoph. Gellert habe sogar, so konnte Bräuning-Oktavio nachweisen, in seinen letzten Vorlesungen 1769 die Fabeln Die Fichte und die EicheDie Fichte und die Eiche und Die Tanne und die EicheDie Tanne und die Eiche von Merck als beispielhafte Muster dieser Gattung vorgetragen.24 Doch anders als Gellert reduziert MerckMerck, Johann Heinrich nicht die Inhalte seiner versifizierten Fabeln auf ein tugendpädagogisches Programm. Und Merck setzt sich auch in Widerspruch zu LessingLessing, Gotthold Ephraim. Waren also die Fabeln Mercks möglicherweise eine Reaktion auf Lessings Fabeltheorie? Ohne hier nun einen akademischen Streit nur beginnen, aber nicht mit guten Argumenten zu Ende bringen zu wollen, sei wenigstens so viel gemutmaßt: Mercks versifizierte Fabeln können – und das wäre in der Forschung ein Novum – als Kontrafakturen zu Lessings Fabeltheorie gelesen werden. Hatte sich Lessing vehement gegen die Versifizierung und stattdessen für die Episierung der Fabel ausgesprochen, so unterminiert Merck genau dies, er setzt sich einfach über das Vorbild Lessing hinweg. Salopp gesagt: Merck macht 1770 etwas, das Lessing 1759 tabuisiert hatte. Lessing hatte in seinem Buch Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten InhaltsFabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts (1759) folgende Definition einer – selbstredend guten – Fabel gegeben: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel“25. In der Verbindung von Moral und Poesie sah Lessing, der auch als der „intellektualistische Fabeldichter“26 des 18. Jahrhunderts bezeichnet wurde, die besondere Herausforderung dieser Gattung. Eine eigene Untersuchung wäre es wert, die Nähe zwischen den Fabeln von Gottlieb Konrad Pfeffel (vgl. etwa dessen Poetische VersuchePoetische Versuche von 1761) und denjenigen Mercks zu diskutieren.

In der zweiten Werkgruppe der lyrischen oder empfindsamenEmpfindsamkeit Gedichte27 begegnen wir Titeln wie An Herrn LeibMed. L., Bey einer Schlittenfahrt, An den Mond, Bey Wiederkunft des Mond im Monat May, An den Mond. 2, Den 1ten Aug., Lila an ihr Lämmchen, Lila über ihren Stab, Bey einer OhnMacht oder Bey den Klagen Lila’s über die Langsam ankommenden Briefe. Diese Gedichte sind überwiegend situationsgebunden, Gelegenheitsgedichte eben, Gebrauchsgedichte, Widmungsgedichte, Huldigungs- und Auftragsgedichte und im Rollenspiel versteckte Liebesgedichte. Verglichen mit den Liebesgedichten von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, denen MerckMerck, Johann Heinrich immerhin wahre LeidenschaftLeidenschaften bescheinigt (vgl. Br, S. 145), ist dies ein Ton, den er selbst nie getroffen hat, möglicherweise auch nicht treffen wollte.

Das erste Gedicht der Sammlung kann gleichsam als Introitus gelesen werden, der rückblickend Bilanz zieht.

Elegie

„Wohin? – was seh ich weit und breit?

Verflogne Jugendträume –

Mein liebster Wunsch war Eitelkeit

und ew’ger Gram im Keime!

O Gott! sein volles Hertz so sehn

in bittrer ThränenFluth zergehn!

Komm, Gruftkleid! mich mit Freuden

in Brautgewand zu kleiden.“ (W, S. 111)

Diese ElegieElegie könnte durchaus nachträglich als Eingangsgedicht von Merck in seiner handschriftlichen Gedichtsammlung platziert worden sein, gleichsam als Rückblick auf die vor ihm ausgebreitete poetische Produktion, eben seine verflogenen Jugendträume. Die Datierung von Bräuning-Oktavio auf Herbst 1774 wäre demnach wenig überzeugend. Auch Henkel zweifelte diese Jahreszahl schon an, schließt aber nicht aus, dass das Gedicht gar nicht von Merck, sondern von HerderHerder, Johann Gottfried sei (vgl. dazu W, S. 637).

Man könnte etwas despektierlich den jungen Merck – oder, wie er von Herder genannt wurde, den „Herrn Kriegs- und LustVersezahlmeistern Merk“28 – jener Jahre auch den Lila-Launebär der Darmstädter EmpfindsamenEmpfindsamkeit nennen, der schon zeitgenössisch die Grenze zum Kitsch überschritt.29 Er lebe wie ein Schwärmer unter den Rosen der Freundschaft, lässt er Höpfner wissen (vgl. Br, S. 65), gesäumt von zwei Freundinnen, deren körperliche Gestalt und deren Esprit er lobend erwähnt. Gemeint waren damit Luise von ZieglerZiegler, Luise von, die Lila der Gedichte und des empfindsamen Zirkels, und Caroline Flachsland, genannt Psyche, Herders spätere Frau. Im Grunde ist diese empfindsameEmpfindsamkeit Phase aber schon in dem Moment vorbei, wo HerderHerder, Johann Gottfried an Caroline Flachsland unter dem Datum des 20. April 1771 schreibt: „Der Mensch ist zu Etwas beßerm in der Welt da, als eine Empfindungspuppe, oder ein Empfindungströdler zu seyn“30. Ende 1771 kündigt Merck Höpfner an, dass er ihm bald den ersten Band seiner Gelegenheitsgedichte schicken werde. Darunter befänden sich „nicht weniger als Vier MondOden“ (Br, S. 59). Allerdings sind nur drei Mond-Oden überliefert. Zum Druck dieser Gelegenheitsgedichte kam es nie. Die Handschrift hat sich aber erhalten und befindet sich heute noch in Familienbesitz.

In Mercks empfindsamen Gedichten findet sich – neben dem eher zeit- und genrebedingten tändelnden Ton einiger Verse – aber auch ein politischer, gesellschaftskritischer Akzent. Beispielsweise wenn es am Ende des Gedichts Als Lila zwey junge Bäume in ihren Gärten fällen saheAls Lila zwey junge Bäume in ihren Gärten fällen sahe heißt:

„Aber die Welt des Hofes glaubt

Weil rothes Bluth nicht floß – kein Stöhnen

Kein Zuken folgt – sie wähnen

Daß sie nichts übels thun“ (W, S. 138).

Das Gedicht Im Merz. An A. + W.Im Merz ist nur vordergründig ein Naturgedicht, wie der Titel vielleicht suggerieren könnte:

„Des Sehers Blik, der in dem MeeresSchoos

der Zukunft, sich der Ahndung Zauberschloß

Erschaft, und in dem öden Labyrinth

dich ferne schon in EngelsKlarheit findt!

Sieh wie er dämmert! Von der Wahrheit

Fernen Sonnenfahrt! Und von der Menschheit

Tasten wir ermüdet! Hingebeugt

Zur Brust ersinkt sein Haupt! Und ihm entsteigt

der Hofnung Lächeln, ihre Zähne nie!

Nur sie, der Wehmuth bittre Thräne, sie

die trübe Mahlerin der Schöpfung nur

Füllt ihm sein Aug, und mahlt ihm die Natur

Im Nebel! deine Mutter! die so schön

In allen ihren Kindern ist! Verwehn

will seinem Ohr ihr Schluchzen schon

der Sympathie und Liebe Lauten Ton.

Sein Arm in Wüsten taumeln, tastet kalt

Statt KörperSchöne, flache WandGestalt!

Gewebe des verkehrten Teppichs! Sie

die HimmelsSchön’ auf Erden wandelnd, wie

sie Plato dachte, Alcamenes Hand

Erschuff, wie sie in Coischem Gewand

sich deinem Gang, und deinem Aug enthüllt

die sah er niemals im verklärten Bild!

Drum blik’ ihm in sein adelgläubig Hertz

den süßten HofnungsStrahl; den bittren Schmertz

der Menschheit, der sein inneres verzehrt

den halt an seinem Ort, wies WürgeSchwerd!

Die Balsamthräne, die dir gern entfliest

Heil eh’ er friedsam seine Straße zieht

Des Pilgers Wunden, die ihm Wahn und Trug

der grosen Sklav’ u. NarrenErde schlug!

Sey ihm ein Quell des Lebens in dem Sand

der Wüste, wo das Schiksal dich verbannt!

dein Bild geh’ ihm nicht wie ein Wetterstrahl

Vorüber, es begleit ihn in dem Thal

des Lebens, wenn er WolkenHöhen klimmt,

da wo er des Abgrunds Steinweg nimmt

Da auch wo gebeugt er stille steht

Schein es ihm in TugendMajestät

Reich ihm hohes Lächeln, BeyfallDank

Und Liebe deines Augs zum Labetrank.

Und geht er jenseits hin, woher er kam

So seys dein Bild, das ihn der Erd’ entnahm

den Edlen zuführt, die den Lauf vollbracht

Und ihm die Edlen zuführt, die die Nacht

Jahrhunderte noch hält, die nach ihm spät

Als Säugling seines Geists, der unverweht

Von Zeit und Neides Wind in Tausend blüht,

Ihn Vater grüßen mit den Thaten Lied.“ (W, S. 119f.)

Natürlich sind diese Verse nicht ohne das große Vorbild KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb zu denken. Doch es ist fast schon ein pindarisch-hölderlinscher Ton, den MerckMerck, Johann Heinrich da anklingen lässt. Wer sich hinter den Adressaten ‚A.‘ und ‚W.‘ verbirgt, ist bislang nicht entschlüsselt. Über die Bedeutung des Buchstabens W belehrt uns ein Barockautor. Von Abraham a Sancta ClaraAbraham a Sancta Clara stammt das Buch Mercks WiennMercks Wienn (1680).31 Das ist eine sogenannte Pestschrift, eine Mischung aus Pestbeschreibung, Predigt und einem Totentanz, die einem strengen rhetorischen Ordnungsprinzip gehorcht. In Mercks Wienn ist nun zu lesen:

„W. Ist endlich der allerschwäreste Buchstab; nichts als W.W. widerholte jener armer Tropff der etlich 30. Jahr als ein verlassener Krippel bey dem Schwem-Teuch zu Jerusalem lage: nichts als W.W. sagte jener vnberschambte Gast vnd gastige Bößwicht Malchus / als ihme der behertzhaffte Petrus ein Ohr abgehauen / vermeinend / der ohne Ehr ist / soll auch ohne Ohr seyn; nichts als W.W. sagte jener starcker Samson / da ihme die Philisteer auß Anlaitung der liebkosenden Dalilæ die Augen außgestochen / vnd als er nun Stockblind war / hat er erst gesehen / das einem liederlichen Weib nicht zutrauen; W.W. sagte jener hipsche Printz Absolon / da er mit seinen Haaren am Aichbaum hangen gebliben: fürwar hat nicht bald ein Baum schlimmere Frucht tragen / als diser: mit einem Wort W.W. ist ein schmertzlicher Buchstab / ein lamentirlicher Buchstab / vnd auß allen der jenige / so der Menschen Gmüther hefftig entrüstet / vnd selbige Trostloß machet.

Liebster Leser / solchen widerwärtigen vnd trangseeligen Buchstaben wirst du folgsamb antreffen / nicht ohne Verwunderung.“32

Widerwärtig und drangseelig, schmerzlich und lamentierlich sei dieser Buchstabe – bei Merck jedenfalls oder zumindest im Kontext von Mercks Darmstadt bekommt das W eine andere, weniger pejorative Bedeutung. Mercks A und W scheinen ein Paar zu sein. Eingangs wird ein Gebäude imaginiert („Zauberschloß“), das als Ausdruck von Sesshaftigkeit, von Schutz wie auch von materiellem und immateriellem Reichtum verstanden werden kann. Das angesprochene Du erweist sich durch die „EngelsKlarheit“ als Frau. Damit ist am Ende des Eingangssatzes das Rollenverhältnis aufgespannt. Der männliche Seher erschafft sich in der Imagination ein zukünftiges weibliches Du, das als Engel verklärt wird und damit einen empfindsamenEmpfindsamkeit ToposTopos zitiert. Der Seher und Imaginator hofft und lächelt, wird also mit grundsätzlich positiven Begriffen beschrieben. Als wehmütig indes charakterisiert der Dichter die Stimmung des Mannes. Positive Gefühle wie Sympathie und Liebe sind bedroht, die Wehmut scheint Besitz zu ergreifen von diesem Mann. Der Grund für diese Missstimmung wird sogleich benannt: „Statt KörperSchöne, flache WandGestalt“, statt der geliebten Frau selbst teilhaftig zu werden vermag der Mann sie nur zu imaginieren, gleichsam als Projektion an die Wand zu werfen. Das „Gewebe des verkehrten Teppichs“ kann als MercksMerck, Johann Heinrich Metapher für Texturen verstanden werden, womit jene literarischen Imaginationen gemeint sind, die über die reale Liebessehnsucht des Mannes nicht hinweghelfen. Führt man diesen Gedanken weiter, dann thematisiert Merck an dieser Stelle des Gedichts die grundlegende Bedeutung von Kunst, ihre Imaginationskraft und ihren defizitären Modus, der darin besteht, nichts als eben dies, Imagination zu sein. Denn noch befinden wir uns ja gleichsam im Zauberschloss, das ebenfalls imaginiert wurde, und dessen Bewohnerin, die engelsgleiche Frau, nur ein Simulakrum der wirklichen Geliebten ist. Als unvergleichlich schön wird sie beschrieben, selbst PlatonPlaton und der griechische Bildhauer AlcamenesAlcamenes träumten von diesem Vexierbild des Körperschönen. Das ‚Coische Gewand‘ spielt, für die zeitgenössischen Leser deutlich zu erkennen, auf die Nacktheit des Frauenkörpers an. Doch allein dem Imaginator war es bislang weder in der Realität noch in der Fantasie vergönnt, den Körper der Schönen unverhüllt zu erblicken. Nun wird vom Dichter die Adressatin des Gedichts angesprochen, sie solle ihren Geliebten erlösen und die sonst reichlich fließenden Tränen – auch dies selbstverständlich eine Anspielung auf die empfindsamenEmpfindsamkeit Tränen – zur Linderung seiner Sehnsucht und seines BegehrensBegehren vergießen. Die Frau solle den Mann erhören, bevor dieser wieder gehe („seine Straße zieht“). ‚Die große Sklav- und Narren-Erde‘ verschuldet ursächlich die peinigenden Qualen der Liebenden. Ist dies am Ende Mercks Abrechnung mit dem Problem der empfindsamen Sublimation? Das Gedicht lässt diese Interpretation durchaus zu, wenn es auch darauf nicht zu reduzieren ist. Der Autor fordert von der Frau, nicht länger den Konventionen der Zeit zu gehorchen und dem schamhaften Blick zu folgen, sondern dem Geliebten direkt ins Auge zu sehen, und ihm die ‚Liebe ihres Augs‘ als ‚Bild‘ in die Seele zu senken. Dieses Bild habe bis über den Tod hinaus Bestand. Die Bedeutung der Imaginationskraft von Kunst im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen findet dort ihre Grenzen, wo sie die großen Gefühle der Menschen eben nur imaginiert, ohne dass diese Gefühle durch Realien unterfüttert sind. Vielleicht ist dieses Gedicht ein Rollengedicht, und MerckMerck, Johann Heinrich spricht verschlüsselt von sich selbst, mithin rührten diese Zeilen dann aus Mercks Brautzeit her. Vielleicht beziehen sich die Verse aber auch auf HerderHerder, Johann Gottfried und Caroline FlachslandFlachsland, Caroline – dann wären allerdings die Initialen A und W nur schwer zu erklären – oder auf ein anderes Paar aus seinem Umfeld. Der Buchstabe W ist, um Abraham a Sancta ClaraAbraham a Sancta Clara nochmals zu zitieren, durchaus ein ‚allerschwäreste[r]‘, ein ‚schmertzlicher‘ und ‚lamentirlicher‘ Buchstabe. Auch wenn man dieses Rätsel der unaufgelösten Buchstaben nicht lösen kann, so bleibt doch jedenfalls die Erkenntnis, dass Im MerzIm MerzMercks schönstes und bestes Gedicht ist, es ist einzigartig in seinem lyrischen Werk.

Merck gehörte wie viele andere, junge Autoren der Zeit zu den KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb-Begeisterten und beteiligte sich maßgeblich an einer ersten Sammlung der bis dahin verstreuten und teils nur in Abschriften zirkulierenden Gedichte dieses Dichters. Das Ergebnis war das Projekt einer Darmstädter Ausgabe der OdenOden (Klopstock) Klopstocks. Im Brief vom 29. Dezember 1770 an seinen Gießener Freund Julius HöpfnerHöpfner, Julius macht Merck auf diesen Druck von Klopstocks OdenOden (Klopstock) aufmerksam, der unter seiner Regie in einer limitierten Auflage von 34 Exemplaren entsteht, Höpfner möge das Register der Oden durchsehen (vgl. Br, S. 43). Diese Darmstädter Ausgabe von 1771, mithin das Darmstädter Exemplar der Landgräfin, wurde 1974 von Jörg-Ulrich Fechner als Faksimile, reich kommentiert, neu gedruckt.33 Der Anlass dieser Ausgabe, die von Herder wegen ihrer vielen Fehler herb gescholten wurde (u.a. rügte er die Rechtschreibschwäche der Hessen in toto),34 war der 50. Geburtstag der Landgräfin am 9. März 1771. In seiner KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb-Begeisterung verfasste MerckMerck, Johann Heinrich selbst eine Ode im nämlichen Stil, betitelt Bey der Sammlung der Klopst.Bey der Sammlung der Klopst. Oden in D. Oden in D. In Mercks Rezension von Klopstocks OdenOden (Klopstock), die in den von ihm betreuten Frankfurter gelehrten Anzeigen vom 28. Januar 1772 erschien, ist Mercks Begeisterung für Klopstock zu erkennen: „Er, der Schöpfer unsrer Dichtkunst, des deutschen Numerus, der Seelensprache des Vaterländischen Genius […]“ (W, S. 527f.). Seine Oden (1771) seien Werke der Ewigkeit (vgl. W, S. 528), die weder gelobt noch getadelt gehörten. Man könne diese Poesie nicht zergliedern, analysieren, sondern: „Man trete herzu und empfinde!“ (W, S. 529) Klopstock gilt ihm als Muster für jüngere Poeten, seine Verse seien von feinster dichterischer Diktion gekennzeichnet, Klopstock sei „der gröste lyrische Dichter der Neuern“ (W, S. 531). Ein Jahr später am 7. Februar 1773 schickt er Friedrich Heinrich JacobiJacobi, Friedrich Heinrich „die versprochene Revision meines eigenen Urtheils“ (Br, S. 83). Sie sollte in WielandsWieland, Christoph Martin Teutschem Merkur erscheinen, doch kam der Abdruck von Mercks Manuskript nicht zustande. Merck distanziert sich darin nicht grundsätzlich von seiner überschwänglichen Beurteilung von 1772, kritisiert jedoch den jugendlichen, pathetischen und gelegentlich übers Ziel hinausschießenden Ton.35 Doch in nur zwölf Monaten ändert sich diese Einschätzung. Nach einem Besuch Klopstocks in Darmstadt Anfang Oktober 1774 heißt es zunächst wieder emphatisch: „Ich wandle unter den großen Eichen und Fichten, wie unter Antiken“ (Br, S. 120). Aus der Rückschau überrascht dieser geradezu plötzlich vollzogene Wechsel in der Beurteilung Klopstocks. An Friedrich NicolaiNicolai, Friedrich teilt Merck unter dem Datum vom 6. Mai 1775 nämlich mit, er müsse aufrichtig gestehen, dass er Klopstock nach seiner Vorstellungsart nie für einen wahren poetischen Kopf gehalten habe (vgl. Br, S. 133). Merck bescheinigt dem Vorbildpoeten zwar einen klaren und hellen Menschenverstand, gleichwohl rügt er dessen Weltkunde und Weltkälte. Den Dichter Matthias ClaudiusClaudius, Matthias charakterisiert Merck übrigens im Kontrast zu Klopstock als trefflich und selbstständig, er sei Klopstock im Äußeren nicht unähnlich, „nur mehr Poetische Laune u. Leichtigkeit“ (Br, S. 149). Ende 1777 spricht Merck schon von der ‚Klopstockischen Sekte‘, die sich in der deutschen Literatur Gehör verschaffe. Er rechnet Wielands Poesie zu diesem leidigen Luxus, die Porzellanarbeiten gliche, zerbrechlich, aber schön, kunstvoll, aber unnütz (vgl. Br, S. 165). Das „Poetische Schmeißland“, heißt es an WielandWieland, Christoph Martin am 8. Mai 1778, werde zum Teufel gehen, „wir sind alle so wenig Poeten, daß uns jeder französische Valet darin zuvorthut, u. doch will jeder Esel, der in den Mond schauen kann, einer seyn“ (Br, S. 178). Im selben Jahr schimpft MerckMerck, Johann Heinrich auch auf das empfindsameEmpfindsamkeit ‚JacobiJacobi, Friedrich Heinrichsche Zeug‘, das ebenfalls kein Mensch brauchen könne (vgl. Br, S. 176). Wenig später heißt es gar, die Jacobis seien Scheißkerle (vgl. Br, S. 191), unausstehlich eitel. Am 30. November 1778 schreibt Merck an Wieland: „Gott gebe Dir zum Poemate langen Muth, u. liebende Gedult […]. Ich denke alle die schiefe Kerls von Mr. KlopstoksKlopstock, Friedrich Gottlieb Suite werden zusammt dem Wesentl.en ihrer Religion in 20 Jahren verstäubt seyn, daß man sich einander wird ins Ohr erklären müssen, was das vor eine Art von Poesie war“ (Br, S. 205). Früher sei dies Wortschwulst gewesen, nun müsse man von Gedankenschwulst sprechen, der gerne als Tatenschwulst ausgegeben werde. Die national-chauvinistische Attitüde dieser Dichtung werde sich hoffentlich nicht durchsetzen und nur auf dem Papier stehen bleiben. Merck bezieht also unzweifelhaft und in der Wortwahl sehr deutlich Position: Aus der Lektüre schöner Schriften entstehe ein empfindsamer Platonismus, den er stürzen wolle. Dies betreffe vor allem die Mond- und Liebesgedichte und den „Klopstokischen Fraß“ (Br, S. 207), so ist es in einem Brief an Wieland vom Januar 1779 zu lesen. Mercks Klopstock-Ära, seine empfindsame Phase und mithin die Zeit seiner lyrischen Produktion ist mit diesen deutlich distanzierenden Bemerkungen nun endgültig vorbei.

Mit der Verssatire Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem JüngerenRhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem Jüngeren (1773), die von HerderHerder, Johann Gottfried postwendend parodiert wird,36 bekennt sich Merck am Ende seiner Dichterkarriere noch einmal als Poet. Die ersten acht Zeilen lauten:

„Der Herrn Poeten giebt es viel.

Zehn fehlen, Einer trifft das Ziel.

Mein liebes Deutschland hast du denn

Drey Dichter auf einmal gesehn?

Es trägt in funfzig Jahren kaum

Ein Sprößchen unser Lorbeerbaum.

Doch greift darnach ein jeder Thor

Als käms aus allen Hecken vor.“ (W, S. 155)

Nach der Poetenware frage man nicht, fährt MerckMerck, Johann Heinrich fort, um dann einige Ratschläge für junge Dichter zu geben. Man stehe früh auf, rufe die Musen an, meditiere und beginne zu schreiben:

„Streich aus, schreib drüber, corrigire,

Setz zu, schneid ab, und inserire,

Und will es gar an einem Ort

Mit der Erfindung nicht mehr fort,

So kratz dich hier, und kratz dich dort.“ (W, S. 157)

Natürlich orientiert sich Merck an SwiftSwift, Jonathan,37 doch das sind fast schon Wilhelm-Busch-Busch, WilhelmTöne, die er da anschlägt. Die Lehre seiner Satire heißt immerhin: „Und jeder kleinere Poet / Beißt immer den, der vor ihm geht“ (W, S. 162). Insgesamt unterstreicht der satirische Ton aber die innere Distanz des Autors zu seinem Medium. Dies lenkt den Blick auf poetologische und poesietheoretische Überlegungen, die Merck vornehmlich in seinen Briefen anstellt, und die möglicherweise die Frage beantworten können, weshalb Merck seine lyrische Produktion abbricht.

Mercks Gedichte sind insgesamt mehr traditionell als innovativ. Verglichen mit den marktgängigen Konkurrenten eines LessingLessing, Gotthold Ephraim, GleimGleim, Johann Wilhelm Ludwig, HagedornHagedorn, Friedrich von oder GoetheGoethe, Johann Wolfgang liegt es nahe, von einer Selbsteinsicht Mercks in die Unzulänglichkeiten seiner eigenen poetischen Produktion zu sprechen. Doch greift dies zu kurz. Mercks Verzicht auf eine Tätigkeit als Lyriker ist eine grundsätzliche, möglicherweise auch eine existenzielle Entscheidung. Als These könnte man formulieren: Der Verzicht Mercks, von einem bestimmten historischen Moment an weiterhin Gedichte zu schreiben, beruht auf der prinzipiellen Einsicht in die Wirkungs- und Folgenlosigkeit der Poesie. Mercks Verzicht bedeutet eine Protesthaltung gegen die Massenware seiner Zeit. Die Bedeutung der Lyrik in Mercks Oeuvre liegt vor allem in Mercks signifikanter Abwendung von der Lyrik. Der Poet Merck legt die Feder aus der Hand, ohne dass wir verlässlich wissen, worauf diese Entscheidung beruht. Vom April 1776 jedenfalls stammt sein äußerst entschiedener Ausruf: „Der Teufel hole die ganze Poesie“ (Br, S. 147). Allerdings finden sich in demselben Brief auch die beachtlichen Worte: „Wir sind doch nur in so fern etwas, als wir was für andere sind“ (Br, S. 147). Diese Koppelung des eigenen Selbstbewusstseins an die Wertschätzung durch andere führt im Umkehrschluss dazu, dass die mangelnde Wertschätzung der eigenen Poesie erheblich die produktive Antriebskraft mindert. Dieser Wandel spiegelt sich wiederum in MercksMerck, Johann Heinrich sich rapide verändernder Wertschätzung KlopstocksKlopstock, Friedrich Gottlieb.

Das führt zur grundsätzlichen Betrachtung von Mercks Poetologie. In dem fiktiven Dialog Ein Gespräch zwischen Autor und LeserEin Gespräch zwischen Autor und Leser (1780) moniert er, dass man in Deutschland so wenig an den Einfluss der Intellektuellen auf das gesellschaftliche Leben glaube (vgl. W, S. 422). In demselben Dialog plädiert er auch für eine strikte Trennung von Werk und Biografie eines Autors. Ob Fürst oder Autor, schreibt er in einem Brief, er wünsche sich von guten Menschen, für gut gehalten zu werden, ungeachtet von Amt und Ansehen (vgl. Br, S. 45). So kritisiert er etwa an dem Halberstädter Vater-Dichter GleimGleim, Johann Wilhelm Ludwig, er habe es nicht verstanden, dass seine Darmstädter Freunde „den Autor von dem Menschen absonderten“ (Br, S. 55). In dieser Trennung von Autor und Werk zeigt Merck übrigens eine erstaunliche Nähe zu LessingsLessing, Gotthold Ephraim siebtem LiteraturbriefLiteraturbrief (1759), worin es heißt: „Was geht uns das Privatleben eines Schriftstellers an? Ich halte nichts davon, aus diesem die Erläuterungen seiner Werke herzuholen“38. Man kann diese Passagen durchaus als eine sehr frühe radikale Abkehr jeglicher biografistischen Methodik in der Wissenschaft verstehen. Mehr noch, Merck hält auch die Frage nach der Werkintention und der Wirkungsabsicht eines Kunstwerks für völlig belanglos und nähert sich damit erheblich den Überlegungen eines Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp zur Kunstautonomie in dessen Schrift Über den Begriff des in sich selbst VollendetenÜber den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785). So betrachtet sind Mercks poetologische Reflexionen erstaunlich modern.

Von der grundsätzlichen Befähigung seiner Landsleute zum Dichten hat Merck wenig gehalten. Über den Deutschen schreibt er in einem Beitrag für LavaterLavater, Johann Caspars Physiognomische FragmentePhysiognomische Fragmente etwa, sein lyrischer Geist wandle auf einsamem Pfad, „daher die großen oft gigantesken Gesinnungen; aber selten der helle Blick des Traumes und der lebhaften Erscheinung“ (W, S. 364). In dem Aufsatz An den Herausgeber des T.[eutschen] M.[erkur]An den Herausgeber des T.[eutschen] M. [erkur] (1777) bemerkt er kritisch über den Bildungsnotstand: „Wenn von der Literatur eines Landes die Rede ist, so fragt man nicht, wie ansehnlich die Bibliothek des Fürsten seye, sondern welche Masse von Kenntnißen unter den Privatleuten circulire“ (W, S. 374). Merck spricht in diesem Zusammenhang von der „Kultur der Kunst“ (W, S. 374), die er als ein „Stück der Sitten-Masse meiner Zeitverwandten“ (W, S. 374) begreift. Er klagt über die Geringschätzung, welche Kunst und Literatur seiner Zeit durch die Zeitgenossen erführen. Auch dies ist eine ebenfalls völlig zeitlose und somit aktuelle Klage. Dass MerckMerck, Johann Heinrich dabei einen textualistischen Kulturbegriff zugrunde legt, wonach beispielsweise ein Gemälde als Text begriffen werde und als ein Text zu lesen und zu verstehen sei, ebenso wie man menschliche Verhaltensweisen und Umgangsformen „Buchstabe vor Buchstabe“ (Br, S. 136) lesen könne, ist ebenso modern (vgl. W, S. 377). Kultur wird somit zum Ergebnis eines exegetischen Vorgangs, worin das „Buch der KunstBuch der Kunst“ das „Buch der NaturBuch der Natur“ (W, S. 376) erschließt. KulturKultur ist bei Merck die Identität der Lektüre des Buchs der Kunst und des Buchs der Natur.

Die Unerfahrenheit der jüngeren zeitgenössischen Autoren wird von Merck 1778 aufs Korn genommen. Er verknüpft damit das Bekenntnis, dass er sich selbst längst nicht mehr zu den Poeten rechnet. „Die Herren Poeten sollen sich zu uns Jägern verhalten, wie die Stubenhunde zu den Hühnerhunden. Sie mögen das gerne genießen, was die andern gefangen haben“ (W, S. 395). Er spottet sogar im gleichen Jahr gegenüber WielandWieland, Christoph Martin über den ganzen Imaginationskram der Schriftstellerei (vgl. Br, S. 167). „Die Dichterey verhält sich ohngefähr wie der Wein. Die meiste Nachfrage darnach ist immer da, wo er nicht mehr wächst“ (W, S. 402), fährt er an anderer Stelle fort. Ob Merck dabei auch an sich selbst gedacht hat, bleibt spekulativ. Ab dem Jahr 1781 wird der Ton noch kritischer. Er habe kürzlich die Beobachtung gemacht, schreibt Merck, dass die meisten Poeten traurig, träge und missvergnügt, dumpf, abgespannt, kraftlos und niedergeschlagen seien, während Gelehrte munter, behände und stets gegenwärtig wären (vgl. W, S. 440). In einem melancholischen Ton fährt er fort: „So sehe ich aber es geht mit der Poesie wie mit der Liebe. Es ist ein Zustand der nicht dauern kann, und dessen traurige Folgen auf das ganze Leben des Menschen ernsthafter sind, als man oft im Anfange überlegt […]“ (W, S. 440f.). Er unterscheidet zwischen Poesie treiben (gleichsam als einer Lebensform) und Poesie schreiben (vgl. W, S. 442). Es überrascht kaum, dass Merck dem Lebens- und Handlungsmoment hier den Vorrang einräumt. Natürlich gebe es auch von Zeit zu Zeit einen guten Schriftsteller, konzediert er spöttisch, er nennt die Zahl von eins zu 5000 (vgl. W, S. 491). Insgesamt hält er die zeitgenössischen Schriftsteller jedoch für recht große Barbaren (vgl. W, S. 494). Die Schweizer hingegen seien die wahrhaft Aufgeklärten. „Trotz und Kühnheit gegen Vorurtheil, Haß gegen alle Sklaverey in Worten und Werken“ (W, S. 208) findet er bei ihnen. Diese und ähnliche Äußerungen haben ihm den Vorwurf Heinrich Christian BoiesBoie, Heinrich Christian eingetragen, er neige sich „zu sehr nach den Ausländern hin“39. Und auch über die Leserinnen und Leser seiner Zeit urteilt MerckMerck, Johann Heinrich enttäuscht: „Das Publikum […] hier […] ist wie es allenthalben ist, ungerecht“ (Br, S. 45). In einem Brief vom 10. September 1771 an Sophie von La RocheLa Roche, Sophie von hatte der Briefeschreiber und der Kritiker, der Prosaist und der Essayist, der Lyriker und der Naturwissenschaftler in einer Mischung aus Enttäuschung und Selbstüberschätzung schon geschrieben: „Wenn Sie wüßten, wie oft ich in meinem Leben bin verkannt worden“ (Br, S. 53).

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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