Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 29
Ludwig Philipp Hahns Dramen (1776/1778)
ОглавлениеDie biografischen Fakten sind spärlich. Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp wurde am 22. März 1747 im pfälzischen Trippstadt geboren und starb am 25. Februar 1814 in Zweibrücken.1 Sein Vater war der Pfarrer in Trippstadt Johann Heinrich HahnHahn, Johann Heinrich, die Mutter hieß Maria ElisabethHahn, Maria Elisabeth, geborene Rheinwald. Aus dieser Ehe gingen neun Kinder hervor, das fünfte war Ludwig Philipp. Über seine schulische Ausbildung ist wenig bekannt, es wird angenommen, dass er eine Cameralschule (der Arzt und Dichter Johann Heinrich Jung-StillingJung-Stilling, Johann Heinrich war 1778 Lehrer an der Cameralschule in Kaiserslautern und August Ludwig SchlözerSchlözer, August Ludwig nennt in seinem Briefwechsel diese Cameralschule als Vorbild2) besucht hat und Latein und Hebräisch konnte.3 Diese Schulen dienten der Ausbildung des Nachwuchses von Staatsbediensteten. An der Universität Göttingen war Hahn nachweislich nicht immatrikuliert. Der dort geführte und mit der Dichtergruppe des Göttinger HainGöttinger Hain verbundene, aber schon 1779 verstorbene Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich, der in Zweibrücken lebte, wird gelegentlich mit Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp verwechselt.4 Ob es verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Familien der beiden Hahn-Dichter gibt, ist unklar, eher unwahrscheinlich.5 1768 ist Ludwig Philipp Hahn Revisionsaccessist in Zweibrücken. Am 30. Januar 1777 heiratet er die am 12. September 1748 in Annweiler geborene Charlotta Christine WahlWahl, Charlotta Christine, Tochter des Pfarrers Friedrich Gerhard WahlWahl, Friedrich Gerhard und Susanna Margarethe WernigkWernigk, Susanna Margarethe, in Odenbach am Glan. Aus der Ehe mit Ludwig Philipp sollen sechs Kinder hervorgegangen sein. Hahn selbst berichtet von zwei Söhnen, die wegen eines Studiums zu unterhalten seien. Seine Frau stirbt am 8. Januar 1811 in Zweibrücken.6 Seit wann Hahn in Zweibrücker Diensten war, ist unklar.
1776 erscheinen seine beiden Dramen Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa und Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg, im November 1776 wehrt er sich bei seiner Dienststelle gegen zusätzliche berufliche Belastungen, 1778 erhält er die Beförderung zum Marstallamtssekretär und sein drittes Drama Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken wird veröffentlicht. 1779 folgt die in Straßburg gedruckte Operette (Singschauspiel) SiegfriedSiegfried. Die Klage über Geldmangel bleibt ein durchgehendes Motiv in Hahns Amtszeit. Seit Beginn der 1780er-Jahre wird ihm Veruntreuung von Einnahmen vorgeworfen, wogegen er sich bis an sein Lebensende zur Wehr setzen muss. 1780 wird das einaktige Singspiel Wallrad und Evchen oder die ParforsjagdWallrad und Evchen publiziert.7 1784 wird HahnHahn, Ludwig Philipp zum Kammersekretär befördert. Er gründet im selben Jahr eine eigene Druckerei und erhält am 29. Juli 1784 die Druckerlaubnis für zunächst satirische und deutsche Schriften, am 23. Juni 1785 wird diese Erlaubnis um den Druck einer Zeitung erweitert.8 Hahn ist selbst journalistisch tätig. Er druckt Umrechnungstabellen für den Zahlungsverkehr. Sein Plan einer periodischen Schrift, unter dem Titul: Westricher Ephemeriden wurde zwar im Deutschen MuseumDeutsches Museum (Bd. 2, 1785, S. 282–287) öffentlich angekündigt, an dem die „Herren Geistlichen der drei Religionen, auch die meisten Herren Gelehrte unsers Westrichs und dessen Nachbarschaft, an diesen Ephemeriden mit arbeiten werden“ (S. 285f.), wurde aber offensichtlich nicht verwirklicht. Im Bereich der Literatur sollten „kritische und antikritische Anzeigen von Westricher gelehrten Produkten“ (S. 285) erscheinen. Unterzeichnet war diese Ankündigung mit „Gebrüder Hahn“ (S. 287). In dem im September 1785 geschriebenen „Vorbericht“ zu dem Buch Hauswirtschaftliche Beobachtungen und Erfahrungen über Die [!] Schädlichkeit der so genannten Neuländer- oder Viehgrundbiern, […]Hauswirtschaftliche Beobachtungen und Erfahrungen von einem J.M.K., das „von Ludwig Philip [!] Hahn, Herzogl Kammersekret. und Rechnungsrevisor“ (Zweibrücken, in Hahns Druckerei, 1785), „herausgegeben“ wurde, schreibt er: „Gegenwärtiger Aufsaz war eigentlich für die Westricher Ephemeriden, die im Februar d.J. von hier aus angekündiget wurden, bestimmt. Da deren Herausgabe aber, besonders darum, weil ich bei den eingekommenen Beiträgen, die, zur Unterhaltung der Leser, so unentbehrliche Mannichfaltigkeit vermisse, noch zur Zeit ausgesezt bleiben muß; […]“9. 1785 veröffentlicht Hahn in seiner eigenen Druckerei Sympathien des Dreisigsten Tages des Herbstmonats, 1785. Eine OdeSympathien des Dreisigsten Tages, das ist ein Huldigungsgedicht auf den Zweibrücker Herzog. 1786 erscheint ebenfalls in der eigenen Druckerei der Band Lyrische GedichteLyrische Gedichte. Ab 1789 darf Hahn auch Kalender drucken. 1790 wird das von ihm geschriebene Buch Mühlenpraktika oder Unterricht in dem Mahlen der Brodfrüchte für Polizeibeamte, Gewerbsleute und HauswirteMühlenpraktika oder Unterricht in dem Mahlen der Brodfrüchte veröffentlicht, das sogar noch 1820 eine zweite Auflage erlebte. Ab dem 29. Oktober 1790 muss sich HahnHahn, Ludwig Philipp zusätzlich auch um das Militärrechnungswesen kümmern. Am 3. Februar 1793 flieht er im Zuge der Wirren der Französischen RevolutionFranzösische Revolution mit dem seit 1775 regierenden Pfalz-Zweibrücker Herzog Karl II. August Christian (1746–1795) über den Rhein nach Mannheim. Doch schon kurze Zeit später ist Hahn im Dienst der Franzosen als Gerichtsschreiber am Justiztribunal in Zweibrücken tätig. Zweibrücken gehörte seit 1794 zu Frankreich. Aus den Dienstakten Hahns geht hervor, dass er vom Oktober 1794 bis März 1795 und vom Mai bis Oktober 1795 in Hanau und in Mannheim dienstlich tätig war.10 1796 ist er in französischen Diensten Bürgermeister in Contwig. Hahn versucht allerdings über viele Jahre hinweg, seine Wiedereinstellung in nun bayerische Dienste zu bewirken, doch ohne Erfolg. 1797 soll Hahn unter dem Pseudonym Johann Ehrlich das Buch Ueber den Gebrauch und Nuzen Verjüngter Wagen bei dem Fruchthandel nebst einer Anweisung zu deren VerfertigungUeber den Gebrauch und Nuzen Verjüngter Wagen bei dem Fruchthandel veröffentlicht haben.11 Erst nach Hahns Tod wird im Jahr 1824 seiner über Jahrzehnte hinweg gestellten Forderung nach Gehaltsnachzahlungen Recht gegeben.
Hahns literarisches Werk umfasst Dramen, Singspiele, Balladen, Gedichte und Erzählungen, Zeitungsprojekte und Gebrauchstexte. Eine vollständige Übersicht findet sich bei Werner.12 Allerdings muss zu dieser Druckübersicht noch das Gedicht hinzugefügt werden, das im Altenburgischen IntelligenzblattAltenburgisches Intelligenzblatt vom 2. November 1819 (möglicherweise wegen einer länger dauernden Drucklegungsphase der Zeitschrift) erst fünf Jahre nach Hahns Tod erschienen ist. Es ist unterzeichnet mit „Der Westricher Bänkelsänger“, ob das eine Titulatur ist, die HahnHahn, Ludwig Philipp für sich selbst in Anspruch genommen hat, oder ihm von den Herausgebern der Zeitschrift zugewiesen wurde, ist nicht mehr zu entscheiden. Das Gedicht ist nach der Angabe in den Lyrischen GedichtenLyrische Gedichte (1786, S. 50–53), worin es aufgenommen wurde, unter dem Titel Ein Liedchen, das kein Mädchen gerne singen wirdEin Liedchen, das kein Mädchen gerne singen wird, im Jahr 1769 entstanden. Weshalb es nach Hahns Tod nochmals nachgedruckt werden sollte, ist nicht bekannt.13 Den Band der Lyrischen Gedichte ziert eine Vignette des französischen Kupferstechers Jean Baptiste PillementPillement, Jean Baptiste (1728–1808). Die neu herausgegebenen Gedichte zeigen eine repräsentative Auswahl der ‚lyrischen Handschrift‘ Hahns.14 Das reicht vom Gelegenheitsgedicht, dem Widmungsgedicht, dem volksliedhaften Ton bis hin zum poetologischen Bekenntnis (Wie ich denkeWie ich denke). Besonders bemerkenswert ist Hahns „Parodie“ – so nennt er das Gedicht in der gattungstypologischen Beschreibung im Untertitel – Bei der Gruft Herzogs Christian, des ViertenBei der Gruft Herzogs Christian, des Vierten. Hahn parodiert darin Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniels Gedicht Die FürstengruftDie Fürstengruft (1781), die selbst schon als Parodie der realpolitischen Unrechtsverhältnisse in Württemberg gedacht war. Vor dem Hintergrund, dass Schubart zu Hahns Förderern gehörte, kann dies als Ausdruck einer Eintrübung dieses Freundschaftsverhältnisses verstanden werden.
Vermutlich erfuhren die drei Dramen Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776), Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg(1776) und Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken (1778) eine geringe Auflage. Heutzutage sind nur noch wenige Exemplare in öffentlichen Bibliotheken nachweisbar. Das Urteil der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist falsch und ungerecht, doch konnten sich die Geschmacksurteile der führenden Germanisten dieser Zeit behaupten. 1838 heißt es in einem zeitgenössischen Nachschlagewerk über Hahn: „Ein keineswegs talentloser, aber doch unklarer Dichter, der, von der Sturm- und Drangperiode in der deutschen Literatur fortgerissen, auch mit dieser verschollen ist.“15 Das endgültige Urteil über HahnHahn, Ludwig Philipps literarische Qualität fällte der Germanist Erich SchmidtSchmidt, Erich 1879, als er Hahn „ein Affe GoetheGoethe, Johann Wolfgang’s und KlingerKlinger, Friedrich Maximilian’s“ nennt, „sein Dichten gehört in die Pathologie der Geniezeit“.16 Ein Vor-Urteil, das dringend revidiert gehört.
Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776) ist Hahns erstes Drama und – soweit dies rekonstruierbar ist – auch sein erster literarischer Text, der zur Veröffentlichung gelangt. Das Drama erscheint in Ulm in der Druckerei von Johann Conrad WohlerWohler, Johann Conrad. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791), der Herausgeber der Deutschen ChronikDeutsche Chronik, den Druck vermittelt hat. Demzufolge könnte es zuvor einen mutmaßlich brieflichen Kontakt zwischen Hahn und Schubart gegeben haben. In Schubarts Korrespondenz ist allerdings kein brieflicher Beleg hierfür erhalten. Erich Schmidt behauptet einen längeren Aufenthalt Hahns in Ulm, wo er Schubart kennengelernt habe, was aber nicht belegt ist.17 Viel wahrscheinlicher ist, dass der Kontakt zwischen Hahn und Schubart über den gemeinsamen Dichterfreund Maler MüllerMaler Müller (1749–1825) in Mannheim hergestellt wurde, der schon 1765 zur Zeichenausbildung in Zweibrücken war, 1774 erstmals ein Gedicht im Göttinger MusenalmanachGöttinger Musenalmanach veröffentlicht und dadurch die Aufmerksamkeit – auch diejenige Schubarts – der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren bekommen hatte, und der sich ab 1775 in Mannheim aufhielt. In einem Brief vom 27. November 1776 an Müller schreibt Schubart: „Genies sind sichtbare Gottheiten, […]. Wie viel herrliche Gedanken hat KlingerKlinger, Friedrich Maximilian ohne Würkung verspritzt; da liegen sie nun im Mist und kannst lange warten, biß Aesops Hahn kommt, und das Edelgestein aufscharrt.“18 Ist das eine Anspielung auf Ludwig Philipp Hahn? Bereits am 25. August 1775 hatte Schubart den in Mannheim lehrenden Anton von KleinKlein, Anton von darum gebeten: „Dürft’ ich Sie nicht um einige literarische Neuigkeiten aus der Pfalz bitten? Sie können nicht glauben, wie mager mir die Neuigkeiten von der Pfalz einlaufen.“19 Dass von KleinKlein, Anton von den Kontakt zu Maler MüllerMaler Müller hergestellt hat, darf angenommen werden, aber wie verhielt es sich mit HahnHahn, Ludwig Philipp? Wusste von Klein von Hahns literarischen Ambitionen? Ob sich Hahn und SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel persönlich kennengelernt und ob sie sich in Ulm getroffen haben, ist nicht klar. Bis heute wird über Hahn kolportiert: „Eine Zeit lang hat er sich vielleicht in Ulm aufgehalten, wo damals Schubart lebte, der Hahns ‚Aufruhr‘ bei Wohler daselbst herausgab“20. Aber immerhin konnte nachgewiesen werden, dass der Vorbericht des Dramas tatsächlich aus Schubarts Feder stammt. Man stützte sich dabei auf die Angabe von Albrecht WeyermannWeyermann, Albrecht in dessen Buch Neue historisch-biographisch-artistische Nachrichten von Gelehrten und Künstlern, auch alten und neuen adelichen und bürgerlichen Familien aus der vormaligen Reichsstadt UlmNeue historisch-biographisch-artistische Nachrichten (Ulm 1829). Unter dem Eintrag Schubart, Nr. 2 „Vorreden zu“, findet sich in der Tat Hahns Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa. Allerdings ist dies letztlich kein Beweis für Schubarts Autorschaft. Ich konnte einen noch älteren Beleg finden, auf den sich möglicherweise Weyermann bezog, in Meusels Lexicon der […] verstorbenen Schriftsteller (1811, Bd. 11, S. 481), wo Schubart als Herausgeber von Hahns Stück genannt wird. Woher die Zuschreibung aber ursprünglich kommt, ist unklar. Schubart schreibt also ein begleitendes Vorwort zu Hahns Drama Der Aufruhr zu Pisa, er stellt damit Hahns Erstling in den Kontext der zeitgenössischen, avantgardistischen Literatur, der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang.
1768 erschien von Heinrich Wilhelm von GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von (1737–1823) die fünfaktige Tragödie UgolinoUgolino. LessingLessing, Gotthold Ephraim konnte zuvor das an ihn im Februar 1768 geschickte Ugolino-Manuskript lesen, Gerstenberg lag an seinem Urteil. Im Antwortbrief vom 25. Februar 1768 wies Lessing darauf hin, dass der körperliche Schmerz am schwierigsten literarisch darzustellen sei. Die Tatsache, als Zuschauer auf der Bühne Kinder hungern und sterben und alle beteiligten Personen dazu unschuldig leiden zu sehen, führt Lessing zu einer bemerkenswerten Feststellung. Noch nie habe er bei der Lektüre einer Tragödie das Gefühl gehabt, dass ihm das MitleidMitleid mit den Figuren zur Last geworden sei. Dieses Unbehagen am MitleidMitleid rühre daher, dass der Leser nichts über die Gründe für das unschuldige Leiden erfahren würde, die Figuren litten, ohne dass einsichtig geworden wäre, weshalb. Außerdem sei der Leser zu früh über den Ausgang des Stücks ins Bild gesetzt, bereits nach der Exposition wisse er, dass Ugolino und seine drei Kinder sterben müssten. LessingLessing, Gotthold Ephraim gibt GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von zu bedenken, dass das Stück, das ursprünglich mit Anselmos Tod aufhören sollte, doch in Ugolinos Selbstmord enden könne, um die Affektblockierung bei Lesern oder Zuschauern aufzulösen. Dies sei „die kürzeste die beste Art ein Ende zu machen“21. Gerstenberg nahm die Kritik an und änderte die Schlussszene, doch mit einer dramaturgisch entscheidenden Änderung: Ugolino tötet sich nicht selbst, sondern droht nur mit seinem Selbstmord. Im letzten Augenblick gelingt ihm die zivilisatorische Bändigung, er stirbt den Hungertod in christlicher Verklärung. Nicht zu Unrecht wurde darin eine neostoizistische Haltung der Hauptperson, wie sie von den christlichen MärtyrertragödieMärtyrertragödien des 17. Jahrhunderts bekannt war, gesehen. Ugolino droht von der Macht der Leidenschaft überwältigt zu werden und sich selbst zu töten, doch hält er sich im letzten Augenblick zurück, er reflektiert über seine beabsichtigte Tat als Katholik und nach bürgerlicher Denkungsart. Schließlich ergibt er sich in sein Schicksal, stirbt des Hungers und dem Zuschauer eröffnet sich eine heitere Aussicht. Gerstenberg skizziert damit sehr genau das Verlaufsschema der Erregung und der Bändigung von Leidenschaften der voraufklärungskritischen Literatur der 1760er-Jahre.
Der historische Hintergrund für Gerstenbergs Stück wie für HahnHahn, Ludwig Philipps Drama ist dieser: Graf Ugolino della Gherardesca (um 1220–1289) war um zunehmenden Machteinfluss in Pisa bemüht. Im Seekrieg zwischen Genua und Pisa im Jahr 1284 kommandierte Ugolino einen Teil der pisanischen Flotte. Ihm wurde aber Verrat vorgeworfen, da er sich in der entscheidenden Seeschlacht bei Meloria am 6. August 1284 sehr zurückgehalten hatte, was zur Niederlage Pisas entscheidend beitrug. Trotzdem wurde Ugolino im selben Jahr zum Podestà, dem Stadtoberhaupt der Stadtrepublik Pisa, gewählt. 1287 wurde er zum Herrscher über Pisa ausgerufen. 1288 kam es zu einer Verteuerung der Lebensmittelpreise, die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Bevölkerung führte. Bei einem solchen Kampf tötete Ugolino einen Neffen des Erzbischofs Ruggieri. Am 1. Juli 1288 wurde er gefangen genommen und in einem Turm neun Monate lang festgesetzt. Der Erzbischof, der sich inzwischen selbst zum Podestà ernannt hatte, ließ die Schlüssel zum Turm im März 1289 in den Fluss Arno werfen, Ugolino, seine beiden Söhne und seine beiden Enkel verhungerten.
Der Kern der Handlung wird in DantesDante, Alighieri Göttlicher Komödie (Inferno, 32. und 33. Gesang) beschrieben. Schon im so benannten, allerdings nur aus vier Sätzen bestehenden Vorbericht zum UgolinoUgolino weist GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von auf Dante hin. Er verzichtet auf ein breit angelegtes Figurenensemble, in fast schon minimalistischer Konzeption konzentriert er sich auf die vier Hauptfiguren Ugolino, den Vater von Anselmo, Gaddo und Francesco. Ugolinos Frau erscheint nur als stumme Person auf der Bühne, wenn sie als Leiche hereingetragen wird. Die Regeln der drei klassischen Einheitendrei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung werden von Gerstenberg streng befolgt. Auch der strukturelle Aufbau des Stücks entspricht den zeitgenössischen Erwartungen, die fünf Akte sind streng durchkomponiert. Hunger, Wahn und Todesbedrohung sind jene Themen, auf die Gerstenberg die Darstellung der Affekte gründet. Es kommt zu delirierenden Monologen und kannibalistischen Handlungen, wenn der dreizehnjährige Anselmo etwa im fünften Akt aus der Brust seiner toten Mutter ein Stück Fleisch herauszureißen versucht, sie regelrecht „annagen“ will, wie HerderHerder, Johann Gottfried in seiner Rezension schreiben wird. Hunger beseitigt augenblicklich jegliche zivilisatorische Schranke. Indem der Vater dazwischen tritt, kann gerade noch verhindert werden, dass Anselmo seine Absicht ausführt. Dem Vater gelingt es kaum, unter dem Druck von Hunger und Wahn die patriarchale Ordnung aufrechtzuerhalten. Die gefangenen und auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen kreisen in selbstbezüglicher Kommunikation, sie bilden eine Gruppenvereinzelung, die nur im Tod durchbrochen werden kann. Die Vereinzelung des Vaters wird am deutlichsten zu Beginn des vierten Akts. Beim Anblick des Leichnams seiner Frau und im Angesicht des eigenen Todes durchbricht er seinen Monolog dreifach mit der hyperbolisch gesteigerten Klage „einsam! […] ganz einsam! […] fürchterlicher als einsam!“22 Erst am Ende wird die irdisch-familiale Ordnung, die zu zerspringen drohte, in die höhere göttliche Ordnung eingeschrieben. Ugolino teilt dem Publikum mit: „Meine zerrissene Seele ist geheilt“23. Diese Schlusspassage mutet fast schon biblisch an, denn Ugolino findet in der Verklärung einen gnädigen Tod. Von empfindsamem Selbstmitleid überwältigt, richtet er an sich selbst den Appell zu männlicher Zucht: „Ich will meine Lenden gürten, wie ein Mann“24. Darin spiegelt sich die biblische Bescheidung, die Gott in seiner ersten Rede an Hiob diesem befohlen hatte: „Gürte deine Lenden wie ein Mann!“ (Hiob 38, 3) Ugolino hat die Selbstmäßigung verinnerlicht, er ist nun am Ende des Stücks nicht der kleingläubige Hiob, sondern ein tugendhafter Mann und Bürger. Die Freiheit in der äußerlichen Unfreiheit besteht für Ugolino und die Söhne nicht in der Tat und im Handeln, sondern in der emotionalen Versicherung der gegenseitigen Solidarität und in der GedankenfreiheitGedankenfreiheit. Damit lenkt dieses Stück auf drastische Weise den Blick nach innen auf das psychische Substrat der patriarchalen, kleinfamilialen, bürgerlichen Ordnung. Ob GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm vons UgolinoUgolino ein Vorläuferdrama des Sturm und DrangSturm und Drang darstellt, ist umstritten. Dem inneren Affektrausch der Figuren entspricht deren veräußerlichte pathetische Sprache, die zudem im Falle Gaddos, der kaum sechs Jahre jung ist, und Anselmos auch keineswegs altersadäquat ist. In dieser pathetischen, deklamatorischen Sprache und in der strengen formalen Geschlossenheit des Dramas gleicht der Ugolino am wenigsten dem elliptischen Sprechen der Sturm-und-Drang-Dramen. Doch geht es Gerstenberg nicht um die Darstellung eines historischen Geschehens, also um die politischen Machenschaften und stadtstaatlichen Herrschaftskämpfe. Gerstenberg möchte ein psychisches Detail geben und nicht die gesamte tragische Vor- und Hauptgeschichte aufrollen, ihn interessiert die psychische Binnenperspektive seiner Figuren. An den hochgestellten Persönlichkeiten werden bürgerliche VerhaltensstandardVerhaltensstandards der Affektbändigung vor Augen geführt. Insofern Dramen des Sturm und Drang Leiden bürgerlicher Individuen auf die Bühne bringen, mag Gerstenbergs Ugolino weiterhin als Vorläuferdrama des Sturm und Drang gelten. HerderHerder, Johann Gottfried hat Gerstenbergs Ugolino ausführlich in der Allgemeinen deutschen BibliothekAllgemeine deutsche Bibliothek von 1770 besprochen. Er bewundert die „tiefe innere Känntniß der Menschlichen Seele“25, die den Verfasser auszeichne und hebt besonders dessen Stärke bei der Charakterzeichnung der Figuren hervor. Er rückt den Autor in die Nähe ShakespeareShakespeare, Williams, er sei gar ein Genie. Doch auch kritische Töne unterbleiben nicht. So wird die zu blumenreiche Sprache ebenso gerügt wie der Hang des Stücks zum Deklamatorischen. HerderHerder, Johann Gottfried verbindet diese Kritik mit der Hoffnung, dass GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von eines Tages als der deutsche ShakespeareShakespeare, William Erfolg haben werde.
Mit seinem Drama Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa knüpft Ludwig Philipp Hahn 1776 an Gerstenberg an und bietet die dramatisierte Vorgeschichte zu dessen Ugolino. Ob Hahn die Kritik Herders an Gerstenbergs Stück gelesen hatte, ist nicht bekannt und eher unwahrscheinlich. Im Vorbericht des Herausgebers, der auf den 1. Dezember 1775 datiert ist, erklärt dieser, in Gerstenbergs Ugolino wehe der „Odem des Originalgeists“ (S. 10)26. Nur wenige edle und empfindungsvolle Seelen „fühlten, bebten, schauderten“ (S. 10) mit ihm. Der Verfasser des Aufruhrs zu Pisa wolle die bis dahin fehlende Vorgeschichte zu Ugolinos Verurteilung und Schicksal liefern. Als Leser werde man „nicht selten den jungen rüstigen Mann bewundern, der mit diesem Produkt das erstemal vor der Welt erscheint“ (S. 10). Es ist Hahns Debüt, mit dem er sich gleich in den Kontext des Sturm und DrangSturm und Drang stellt. Der Herausgeber (SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel) zitiert aus einem Brief Hahns – ob dies eine Fiktion ist oder Hahn tatsächlich einen Begleitbrief an Schubart verfasst hat und er ihm demnach das Manuskript des Aufruhrs zu Pisa geschickt haben muss, ist nicht bekannt. Darin räumt er ein, dass der Charakter der Figur Ugolino seines Dramas sehr rauh sei, woran man sich stören könne. Doch „Männerherzen“ werde er „erschüttern, daß sie schwanken, beben werden“ (S. 10). Hahn appelliert an die Leser oder Zuschauer, Ugolino nicht ihr MitleidMitleid zu verweigern. Er verlangt die vollkommene Identifikation mit seinem Protagonisten, obwohl er „das Uebertriebene in einigen Monologen“ (S. 11), was dem Deklamatorischen bei Gerstenberg entspricht, zugibt. Letztlich dient aber auch dies dem Ziel der absoluten Parteinahme für die Figur. Bemerkenswert ist Hahns Schlusssatz: „Sinds doch immer Menschen und Brüder, deren Handlungen wir darstellen!“ (S. 11) Das kann durchaus als sein poetologisches Programm verstanden werden. Der Herausgeber fährt in seinem Text fort und hebt „Männlichkeit, Großheit in den Gesinnungen, fassender Dialog und Sprachstärke“ (S. 11) als Qualitätsmerkmale des Dramas und seines Autors hervor. Die deutschtümelnde Schlusspassage des Herausgebertextes muss man als Zugeständnis an den Sprachduktus der Zeit verstehen, damit soll lediglich der Hinweis auf die Befreiung von Theater- und Schreibkonventionen der AufklärungAufklärung durch den Sturm und DrangSturm und Drang gegeben und weniger ein nationalstaatliches Konzept beschworen werden.
Das Stück spielt im 13. Jahrhundert in Pisa. In der Expositionsszene wird die Ständekritik schon vorgetragen, wenn sich die Wache, die Ugolino beschützen soll, gegen Herrschaftsprivilegien zur Wehr setzt. Der Senator Sismondi wird von ihr angehalten und verwahrt sich dagegen, er kommt vom Erzbischof, dem Gegenspieler Ugolinos. Für die Wache ist der Senat insgesamt „ein hölzerner Hanswurst“ (S. 14). Am Ende dieser ersten Szene wird von der Wache auf ein Vorkommnis hingewiesen, das mit Ugolinos weiterem Schicksal in direktem Zusammenhang steht, das er selbst aber noch nicht kennt – wie auch die Leser oder Zuschauer nicht. Die beiden Bürger Balthasar und Pietro, die übrigens im Verzeichnis der Dramatis Personae nicht namentlich aufgeführt sind, diskutieren über Graf Ugolino, dessen Gefangennahme und Absetzung als Feldherr gerüchteweise unmittelbar bevorstünde. Wenn Ugolino tatsächlich einen Staatsstreich plane, den Senat absetze und die Macht für sich allein beanspruche, so könnte man das sogar verstehen, führt Balthasar aus. Doch die „Freyheit“ (S. 16), womit das Leitwort des Stücks genannt ist, wäre verloren. Die beiden Bürger exponieren Ugolino und Erzbischof Ruggieri Ubaldini als handlungstragende Antipoden des Stücks. Ein Machtkampf zwischen ihnen scheint unausweichlich. Ugolinos Vetter Ruzzellai, der zu seinen Freunden zählt, will von ihm erfahren, welche „wichtige Sache“ (S. 17) Ugolino plane. Zugleich macht dieser Dialog deutlich, dass Ugolino durchaus machtbewusst und selbstsüchtig ist und auch intrigiert. Er will Ruzzellai nicht zum Mitwisser haben und fragt in einem Bild, „was den Tieger so wild mache? – Nicht wahr, die Freyheit? Denn siehst du nicht, wie er so zahm ist, wenn er im eisernen Kefig sitzt?“ (S. 17) Wen meine Ugolino, fragt Ruzzellai, der erklärt und damit den politischen Ausgangspunkt des Stücks ausspricht: „Unser Staat ist ein gefesseltes Thier, ohne Freyheit, in seine Sclaverey so verliebt, daß es beständig an der Kette leckt, als wenn sie in Honig getaucht wäre“ (S. 17).
In der vierten Szene liest man Ugolinos ersten Monolog. Er lässt die Zuschauer und Leser wissen, was er vorhat und spricht sich selbst Mut zu. Die Worte, die er dabei wählt, zeigen, dass er nicht als Ehrenmann und nur aus lauteren politischen Absichten handeln will. In seiner Selbstwahrnehmung ist ihm seine Heimatstadt Pisa Dank schuldig, denn nur er allein habe sie „vom Joch des Tyrannen losgekauft, mit meinem Blut losgekauft“ (S. 19). Daraus leitet er seinen Führungsanspruch ab, er will das neue Stadt- und Staatsoberhaupt werden. HahnHahn, Ludwig Philipp hält sich bei der Charakterisierung von Ugolinos politischen Ambitionen durchaus an die historischen Fakten. Die innerfamiliäre Gegenspielerin zu Ugolino ist seine Frau Gianetta. Sie erkennt ihre zunehmende Veränderung und reflektiert diese kritisch und sie beklagt sich darüber, dass sie Ugolino nicht an seinen geheimen Plänen teilhaben lässt. Sie bezeichnet sich selbst als „ein gottloses, ehrsüchtiges“ (S. 22) Weib, womit sie aber vor allem das entscheidende Handlungsmotiv Ugolinos unterstreicht. Sie ahnt die nun einsetzende katastrophale, tragische Entwicklung für ihre Familie und für die Stadt.
Der zweite Akt beginnt wieder mit einem Monolog Ugolinos, der den Standesunterschied zwischen sich als einem Vertreter des Stadtadels und den Senatoren, die handwerklichen Berufen nachgehen, betont. Seiner Frau eröffnet er, dass er den Erzbischof „durch Gewalt“ zu einem „Huldigungseyd“ (S. 25) zwingen wolle. Er befürchtet, dass Ruggieri seinen Sturz vorbereite. Selbst seinen engsten Freunden stößt Ugolino durch sein sprunghaftes, beleidigendes und aggressives Gebaren vor den Kopf. Der Vertraute Ruzzellai verrät ihm, dass der Senat über Ugolinos Pläne im Bilde sei, doch Ugolino lässt Ruzzellai festnehmen. Immer mehr entwickelt sich Ugolino zur Karikatur eines Selbsthelfers, wie ihn GoetheGoethe, Johann Wolfgang im zehnten Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit als Handlungstypus einer Sturm-und-DrangSturm und Drang-Figur bezeichnet hat.27 Die Figur des Götz von Berlichingen dient als Beispiel dafür. Ugolino tritt zwar – durchaus auch sprachlich durch die häufigen Interjektionen Ha! – als Kraftkerl auf, doch im Grunde ist er der Anti-Held des Sturm und Drang. Ugolino nennt sein Gewissen und damit die Instanz, die sein eigenes Handeln kritisch hinterfragen könnte, den „Argwohnsteufel“ (S. 32), er dämonisiert damit die Gewissensfreiheit und lehnt jegliche Kontrolle politischen Handelns durch ein individuelles, religiös und ethisch fundiertes Gewissen ab. Die Spiegelgeschichte, die Hahn wie in einer Erzählung einfügt, nimmt den weiteren tragischen Verlauf vorweg: Der Sohn Gaddo hat einen kleinen Vogel gefunden, und sein älterer Bruder Anselmo will diesen fliegen sehen. Im freien Herumfliegen in einem geschlossenen Zimmer, von dem Anselmo und Gaddo sprechen, liegt die Analogie: Ugolino meint frei zu sein, in Wirklichkeit aber ist er Gefangener seiner politischen Machtgier und wird bald zum realen Gefangenen des Erzbischofs. In der zweiten Szene des zweiten Akts bringt der Sohn Francesco die Nachricht von der Gefangennahme des Vaters. Nun lässt Anselmo den Vogel fliegen und spricht ihm seine „Freyheit“ (S. 35) zu – aus dem Textverlauf geht aber nicht eindeutig hervor, ob sich dies schon im Freien oder noch im Zimmer abspielt. Kurz darauf werden auch die drei Söhne Ugolinos gefangen genommen.
Ugolino bedient sich wieder der Tiger-Metapher, nun ist „der Tieger ein feuerspeyendes giftiges Ungeheuer worden! – Kurz! alles hat sein natürliches Wesen verlassen und ist in ein bösartiges Thier ausgeartet“ (S. 38), später wird übrigens sein Sohn Anselmo als „der junge Tieger“ (S. 64) bezeichnet. Ugolino sieht seine Mitmenschen nur noch als Gefahr, von denen eine elementare Bedrohung ausgeht, gegen die er sich zur Wehr setzen muss. Er delegiert damit die Verantwortung für sein Handeln an Andere und an die Zeitläufte und inszeniert sich so selbst als derjenige, der reagiert, rettet und verteidigt. Allerdings unterliegt diese Denkfigur dem Trugschluss, dass er selbst von dieser Verwandlung ins Animalisch-Böse ausgenommen sei, wenn tatsächlich „alles“ im Sinne von alle gemeint ist. Die Sprache Ugolinos bedient sich mehr und mehr elliptischer, parataktischer Ausdrucksformen, Gedankenstriche über Gedankenstriche häufen sich (vgl. beispielsweise III/4). Parallel zu Ugolinos politischem Scheitern gerät auch die Ehe zwischen ihm und Gianetta in eine Schieflage. Er pathologisiert die Anteilnahme seiner Frau, er nennt ihr Seufzen eine „Krankheit“, ein „melancholisches Weib“ (S. 41) sei ihm unerträglich. In wiederholten Imperativen, die seine patriarchale Haltung auch im binnenfamiliären Bereich betont, verwahrt er sich gegen Gianettas Vorwürfe und Anteilnahme. Da sie krank sei, solle sie zu Bette gehen, und Ugolino begleitet diese Empfehlung nicht fürsorglich, sondern imperativisch: „Merk dir das!“ (S. 41) Seine Erkenntnis, er sei „ein Scheusal, ein Mörder, ein Ungeheuer!“ (S. 41), kommt offensichtlich zu spät, wenn es denn eine Erkenntnis ist und nicht Ausdruck von Selbstironie. Er erklärt schließlich seiner Frau doch, was vorgefallen ist. Der Senat hat ihn zum „Meuterer“ und „Stöhrer der öffentlichen Ruhe“ (S. 42) erklärt. Nun ist er ein Gefangener. Ugolinos bis dahin aggressive, stabile Gefühlslage bricht zusammen und er beginnt „bitterlich“ (S. 42) zu weinen. Der Gebrauch dieses Adjektivs lässt die Deutung zu, dass HahnHahn, Ludwig Philipp hier – wie später auch im Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken – absichtsvoll an Petrus denken lässt, der JesusJesus dreimal verleugnete (vgl. Mt 26, 75). Diese kurze Textpassage spiegelt sprachlich den Affektverlauf Ugolinos wider, in acht Zeilen gelingt es Hahn, den Wechsel vom hartherzigen und kampfbereiten zum mitleidsvollen und weinenden Mann zu beschreiben. Erst danach, als er vom Raub seiner Kinder erfährt, charakterisiert Ugolino sich selbst als „rasend“ (S. 43) und nimmt damit das Attribut eines Kraftkerls des Sturm und DrangSturm und Drang für sich in Anspruch.
In der achten Szene wird Ugolino entwaffnet und gefesselt auf die Bühne geführt, in der neunten Szene treffen erstmals der Erzbischof Ruggieri Ubaldini und der Graf aufeinander. Auf der Handlungsebene könnte das Stück nun enden, doch HahnHahn, Ludwig Philipp bemüht noch einmal denselben Umfang, um das tragische Geschehen weiter zu steigern. Im vierten Akt wird dem Publikum schon der Hungerturm am Bühnenrand gezeigt, der als SymbolSymbol für gescheiterte Machtambitionen gelten kann. In einer Gerichtsverhandlung wird Ugolino vom Senat verhört. Doch statt sich zu verteidigen, besteht er darauf, dass der Erzbischof anwesend sein solle. Diese Szene bestätigt, dass Ugolino immer noch mit seinen politischen Gegnern spielt und er den Senat als republikanische Institution nicht ernst nimmt. Das kulminiert in dem Vorwurf, die Senatoren seien „Feyertagsmacher“ (S. 55), die Fensterreden hielten. Ein vernünftiger Mensch könne sie nicht „fürchten“ (S. 55), also nicht ernst nehmen und nicht respektieren. Für Ugolino ist offensichtlich, dass er sein „Vaterland zu inniglich geliebt habe!“ (S. 56), darin bestehe sein Verbrechen. In der zweiten Szene begegnen sich die beiden Antagonisten wieder. Ruggieri bekräftigt das Todesurteil über Ugolino. Dieser nimmt für sich ein finales charakterologisches Argument in Anspruch, er sei so und könne nicht anders sein (vgl. S. 58) und wehrt damit einen Glaubenssatz des Sturm und Drang ab: „Man kann, was man will; / Man will, was man kann!“28 Diese Formel geht zwar auf LavaterLavater, Johann Caspar zurück, aber sie ist erst durch den Sturm-und-Drang-Apostel Christoph KaufmannKaufmann, Christoph populär geworden. Lavater hatte in seinen Physiognomischen FragmentenPhysiognomische Fragmente als eine Übersteigerung von IndividualitätIndividualität das wahre, volle und ganze GenieGenie definiert, „das kann, was es will, und nur das will, was es kann“29, wohingegen der durchschnittliche Mensch nur kann, „was er kann, und ist, was er ist“30. Somit erweist sich HahnHahn, Ludwig Philipps Ugolino als ein Durchschnittsmensch, gar als ein Anti-Genie. Anders hingegen sein Sohn Anselmo, der in Gefangenschaft von seiner Freiheit träumt und auf den Rat seines Bruders hin großmütig zu sein wie sein Vater antwortet: „Das kann ich, wenn ich will! […] aber zum freyen Mann hat mich Gott gemacht“ (S. 63) und nicht der Erzbischof. Gott habe ihm Hände gegeben, um sie „gegen den Tyrannen“ (S. 64) zu gebrauchen. Dass Hahn damit das Motto von SchillerSchiller, Friedrichs RäubernDie Räuber vorwegnimmt, zeigt umso mehr, wie nahe sich diese Dramen des Sturm und DrangSturm und Drang sind. Im Juni 1781 wird Schiller sein Drama Die Räuber veröffentlichen, am 13. Januar 1782 wird es in Mannheim uraufgeführt. Die zweite verbesserte Auflage, die sogenannte Löwenausgabe, erschien 1782 und zeigt einen Löwen als Titelvignette mit dem Motto ‚in Tirannos‘ [= gegen die Tyrannen], das ein Zitat Ulrichs von HuttenHutten, Ulrich von ist aus der Zeit von dessen Fehde mit dem württembergischen Herzog im 16. Jahrhundert.
Im vierten Akt, sechste Szene, verlangt Hahn in der Regieanweisung „Eine Minutenlange Pause“ (S. 65). Das ist mehr als ungewöhnlich, da es die Theaterpraxis nicht nur der Zeit herausfordert. Diese Pause soll die Bedeutung von Ugolinos folgendem, langen Monolog betonen. Er reflektiert nun über seinen Sturz und stellt die Ursachen dafür nur bei seinem Gegenspieler, dem Erzbischof, fest, den er als ein „giftiges Insect“ (S. 65) tituliert. Er stellt Ruggieri dar, wie seine Situation als Gefangener und Gedemütigter „ein Gemälde voll Natur und Affect“ (S. 66) sei und zitiert damit ein poetologisches Programm des Sturm und Drang, Natur so darzustellen, wie sie ist, und Affekte, wie sie tatsächlich sind. Daran schließt sich die bildsprachlich wohl schönste Textstelle an, wenn Ugolino den Erzbischof fragt: „Oder willst du lieber, daß ich dir ein Solo spiele – ein gräßliches, ungewöhnliches, hier mit meinen Ketten? (Er rasselt.) Hör! es klingt anmuthig – Ists nicht so? – Ha!“ (S. 66) Den Künsten Malerei und Musik wäre es möglich, Ugolinos Lage authentisch darzustellen, mit Hahns Text Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa leistet das nun auch die Dichtkunst. Das ist der Anspruch des Autors Hahn. Die einfachen Bürger sprechen die Wahrheit aus, eine Kammerfrau der Gräfin meint über den Erzbischof, „der Senat ist sein Sclave“ (S. 68), er wird zu dessen Machtinteressen missbraucht. Gianetta ist dem Wahnsinn verfallen, ihre Raserei ängstigt alle. Im fünften Akt, dritte Szene flicht Hahn einen delirierenden Diskurs der Gräfin ein, auch ihr Auftritt mit „fliegenden Haaren“ (S. 72, Regieanweisung) ist ein sichtbares Attribut des Wahnsinns. Sie lässt alle zivilisatorischen Schranken fallen und will sich dem Erzbischof sexuell anbieten, indem sie sich entblößt und ihm ihren Busen zeigt: „Seht, so muß man verliebte Tyrannen entwaffnen! Ha, ha, ha! und so will ich ihn entwaffnen!“ (S. 73) Doch dazu kommt es nicht, denn der Kerkermeister händigt ihr einen Brief aus, der vorgeblich von Ugolino geschrieben ist, in Wahrheit aber vom Erzbischof mit einem unsichtbaren Gift bestäubt wurde, das bei Hautkontakt tödlich wirkt, womit HahnHahn, Ludwig Philipp nochmals eine überraschende Wendung im dramatischen Ablauf implementiert. Gianetta wird bald darauf sterben, zuvor tritt aber noch Francesco auf, der sich durch einen Sprung vom Turm aus dem Gefängnis befreit hat. Er trifft auf den Erzbischof und wird wieder gefangen genommen. Der endgültige Verlust seiner „Freyheit“ (S. 79), die er kämpfend auch seinem Vater wieder verschaffen wollte, bringt auch ihn dazu, „bitterlich“ (S. 79) zu weinen, angesichts der Tatsache, dass er nicht mehr handeln kann. Ruggieri konfisziert nun das gesamte Eigentum und Vermögen von Ugolinos Familie, und auch Francesco wird vom Erzbischof selbst vergiftet. Jetzt, da sein Gegenspieler und dessen Familie entweder ermordet oder gefangen gesetzt ist, zeigt sich Ruggieri in einem Monolog. Er zitiert in zynischer Umkehrung das lukanische Gleichnis JesuJesus vom Feigenbaum, der keine Früchte trägt (vgl. Lk 13, 6–9). Stattdessen will der Erzbischof „den schädlichen Baum“ mitsamt der Wurzel „ausreißen“ (S. 81). Für ihn ist die Religion eine „Festung“, in der „der unwissende Sclave“ „ewig eingesperrt“ bleibt (S. 81). Auch dieser Monolog zeigt Züge von Raserei. Ruggieri lässt die Särge mit den Leichnamen von Gianetta und Francesco in den Turm zu den Gefangenen bringen. Persönlich schließt Ruggieri anschließend ab und wirft den Schlüssel „vor euern Augen in den Arno“ (S. 83). Damit endet Hahns Text aber nicht, vielmehr hat der Autor seinem Stück – und dadurch bestätigt er, dass er ein Lesedrama konzipierte und weniger an die Spielbarkeit des Stücks dachte – einen Anhang beigefügt, in dem der Leser einen Blick in den Hungerturm wagen könne. Hahn zitiert umfassend und nahezu wörtlich aus der Teilübersetzung von DantesDante, Alighieri Göttlicher KomödieGöttliche Komödie von Johann Nicolaus MeinhardMeinhard, Johann Nicolaus, worin es um den familiären Kannibalismus im Hungerturm geht.31
Zu den sprachlichen Besonderheiten dieses Stücks gehören: „wie der Bratenwender rangste“ (S. 16); GrimmGrimm, WilhelmGrimm, Jacobs Deutsches WörterbuchDeutsches Wörterbuch bietet das Verb rangen und führt als Beleg eben diese Textstelle aus HahnHahn, Ludwig Philipps Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa an. Allerdings wird im Dialekt das Verb ranksen mit k geschrieben, es könnte sich demnach um einen Druckfehler handeln; ranksen bedeutet im Pfälzischen knarren oder quietschen; die viermalige Verwendung des Adverbs „heunt“ (S. 20 u. S. 31) heißt so viel wie heint und bedeutet pfälzisch heute Nacht oder heute Abend; die „Reffe“ (S. 58) ist im Pfälzischen eine Futterleiter über der Futterkrippe im Stall; „Spasel“ (S. 62), spaseln bedeutet im Pfälzischen fesseln, spannen, hier im Sinne von Fessel am Fuß; die „Geleiche“ (S. 65) sind im Pfälzischen die Glieder einer Kette, ist aber auch im Hochdeutschen belegt; die „Recompenz“ (S. 70) ist die Belohnung; „Henkersimbs“ (S. 70) ist hochdeutsch die Henkersmahlzeit, auch im Pfälzischen bedeutet Imbs der Imbiss; „hinterdacht“ (S. 70) ist hochdeutsch, der Infinitiv heißt hinterdenken im Sinne von besinnen; „der Zwick“ (S. 72) ist hochdeutsch, kann ein geschlechtlich unterentwickeltes Zwittertier bedeuten, aber auch das Kneifen meinen. Gianetta würde damit ihren seelischen Schmerz körperlich spüren; „Feldratzen“ (S. 75) ist hochdeutsch und pfälzisch und bedeutet Feldratten; „des Mäders Sense“ (S. 76), eigentlich Mähder (offensichtlich ein Druckfehler?), hochdeutsch und pfälzisch für Mäher.
Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg (1776) ist Hahns zweites Drama. Es erscheint 1776 in der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig, die auch schon GoetheGoethe, Johann Wolfgangs Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers 1774 verlegt hatte. Das Drama wird knapp in der Allgemeinen deutschen BibliothekAllgemeine deutsche Bibliothekbesprochen. Wie sein erstes Stück erscheint auch dieses Drama anonym. Graf Karl von Adelsberg ist schwer gichtkrank. Er leidet an unerträglichen Schmerzen. Er wird in der ersten Regieanweisung als „Podagrämer“ (S. 93) bezeichnet. Ein Podagrämer ist ein Mensch, der an Podagra (Gicht) leidet, wie das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch der Brüder Grimm ausweist, das einen Stellenbeleg in Maler MüllerMaler Müllers Fausts Leben dramatisiertFausts Leben dramatisiert (1778) anführt.
In seinem Eingangsmonolog bekennt der mobilitätseingeschränkte Graf, dass er nicht mehr leben wolle, er könne vor lauter Schmerzen nicht mehr. Am Ende des Dialogs mit seinem Vertrauten und „Geheimschreiber“ Reichhard, wie er im Verzeichnis der Dramatis Personae genannt wird, findet sich die bemerkenswerte Regieanweisung: „rollt den Grafen ins Nebenzimmer“ (S. 94). Später im vierten Auftritt des zweiten Akts lautet die Regieanweisung und Figurenrede bei dem Bürgermeister „Peter Gickel“ (S. 107), der nur als Schulz bezeichnet wird: „(der den Graf auf einem Rollstuhl auf die Bühne bringt.) He! He! ’s geht leicht drüber weg, mit so einem Stuhl“ (S. 104). Unter dem Aspekt der Disability StudiesDisability Studies handelt es sich hierbei um die singuläre Darstellung eines Rollstuhls in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Allein schon diese Tatsache macht HahnHahn, Ludwig Philipps Stück zu einem wichtigen kulturgeschichtlichen Zeugnis. Das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch bietet drei Referenzstellen für das Wort Rollstuhl, die aber alle wesentlich jünger sind: Einmal Gottlieb Konrad PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrads Prosaische VersucheProsaische Versuche (achter Teil, 1812), worin seine Prosa der Jahre zwischen 1793 und 1805 versammelt ist: „Seit vorgestern litt der Oberste ziemlich stark an seinem Podagra. Dennoch wollte er nicht im Bette bleiben; zwey Bediente mußten ihn jeden Morgen in seinem Rollstuhl ans Kaminfeuer schieben.“32 Ferner GoetheGoethe, Johann Wolfgangs Faust IIFaust II (1832), worin es von Mephistopheles in der Regieanweisung zu Vers 6772 heißt: „der mit seinem Rollstuhle immer näher ins Proszenium rückt“. Und schließlich dieser Beleg aus NiebuhrNiebuhr, Barthold Georgs Kleinen historischen und philologischen SchriftenKleine historische und philologische Schriften (1828): „Er ward aus dem Bette nur Nachmittags in einen Rollstuhl gebracht“33, heißt es über den Vater des Autors.
Der Jude „Schmul Narnes aus Odenbach“ (S. 96) soll gehängt werden, ihm werden Kumpanei mit dem Dieb und „Mörder“ (Personenverzeichnis) Hänsel vorgeworfen. Ein ordentliches Gerichtsverfahren gibt es nicht, sondern die Entscheidung über Leben und Tod ist allein von der Laune des Grafen abhängig. Hahn integriert in dieser Nebengeschichte ein wichtiges Zeugnis seiner Herrschaftskritik. Damit folgt er einem Merkmal der zeitgenössischen Dramatik des Sturm und DrangSturm und Drang. Auch sprachlich ist das Stück dem Sturm und Drang verpflichtet, wenn es zahlreiche Wörter aus dem pfälzischen Dialekt übernimmt, die aber einem Juden in den Mund gelegt sind, mit einer Ausnahme, als nämlich der Schulz vom „Hinkelhabicht“ (S. 141) spricht, was pfälzisch Hühnerhabicht bedeutet. Jene Wörter sind also weniger jiddisch, als vielmehr pfälzisch-dialektale und regionale Wörter.34 Zu diesen sprachlichen Besonderheiten im Text, die in der Forschung bislang keine Rolle gespielt haben, zählen: „Kluppen“ (S. 95), das bedeutet eigentlich Wäscheklammern, hier im Sinne von Folterzangen gemeint; „Zalmer“ (S. 96) sind kleine Münzen, Zall oder Zalmer bedeutet Kreuzer und jiddisch Münzeinheit; „Schabes“ (S. 97) ist im Pfälzischen die Krätze, hier jiddisch Schabbes im Sinne von Sabbat gemeint; „Mischemaschinne“ (S. 116) ist selbsterklärend; „gedalkt“ (S. 116 u. S. 117), pfälzisch dalakern bedeutet verprügeln; „Ette“ (S. 117) ist jiddisch und heißt Vater; „Ganver“ (S. 96, S. 117 u. S. 123), das Verb ganfen, das mit f geschrieben wird, bedeutet im Pfälzischen stehlen, ein Ganfer ist also ein Dieb, hier eventuell Druckerfehler; „diwren“ (S. 117), das Verb diwwern oder dibbern bedeutet im Pfälzischen heimlich reden, hier im Sinne von erklären; „Schaude“ (S. 117 u. S. 122) heißt pfälzisch eigentlich Schoten, einfältiger, dummer, jähzorniger, närrischer Mensch, Possenreißer; „Rosch“ (S. 117) ist pfälzisch für Kopf; „Goie“ (S. 117), eine Goje ist jiddisch eine Nichtjüdin; „Banum“ (S. 117 u. S. 122) ist vielleicht vom pfälzischen Banem oder Bonem für Gesicht abgeleitet, hier im Sinne von Mund; „broches“ (S. 117), pfälzisch eigentlich broges, bedeutet verkracht, verfeindet, beleidigt, zornig, böse; „Schabesdeckel“ (S. 122), eigentlich Schabbesdeckel, pfälzisch für Zylinderhut für den Besuch in der Synagoge; „Ische“ (S. 122), pfälzisch und jiddisch bedeutet Judenfrau; „Erv“ (S. 124), eigentlich Erf geschrieben, ist pfälzisch für Bürge, hier eventuell Druckerfehler; „tov“ (S. 124), pfälzisch tof oder duf(t) für klug. Die Tatsache, dass HahnHahn, Ludwig Philipp den Anschein erweckt, der Jude spreche jiddisch, in Wirklichkeit aber vorwiegend Wörter des pfälzischen Dialekts gebraucht, unterstreicht, dass der Autor Hahn gar nicht daran interessiert ist, eine sprachhistorisch beglaubigte und damit authentische Wiedergabe historischer Wirklichkeit zu liefern. Er stellt durch diese Sprachdystrophie ein poetologisches Regeldenken fundamental in Frage. In seinem nächsten Stück Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken wird Hahn dies noch weiter fortführen, nun aber ignoriert er historische Sachverhalte. Dass ihm dies von der wilhelminischen GermanistikGermanistik des späten 19. Jahrhunderts als ein eklatanter Fehler und als ein schriftstellerisches Versagen ausgelegt wurde, erstaunt angesichts der Tatsache, dass die Gallionsfigur dieser Germanistik selbst mit historisch ungenauen oder frei erfundenen Daten und Sequenzen gearbeitet hat, man denke etwa an Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Drama Maria StuartMaria Stuart (1800).
Hahns Stück spielt auf der Burg Adelsberg, eine gespielte Zeit wird nicht festgelegt, es kann also sowohl im Mittelalter als auch in Hahns Gegenwart spielen. Der Autor zeichnet eine starke Frauenfigur, die sich selbst bald „rasend“ nennt und damit dem Typus einer rasenden Sturm-und-DrangSturm und Drang-Frau entspricht. Sie will Reichhard zu einer Liebe zwingen, die dieser vehement zurückweist. Aber Karoline geht weit über den diskursiven Rahmen hinaus, sie nötigt Reichhard zu einem Kuss, sie bedrängt ihn körperlich, berührt ihn, obwohl sich Reichhard entschieden dagegen wehrt. „Du musst mich lieben“ (S. 98) lautet ihre kategorische Anweisung. Karoline verfolgt den Plan, Reichhard zur Mittäterschaft an der Ermordung ihres Mannes zu verleiten. Mit der emphatischen Interjektion Ha! bedient sich Reichhard eines sprachlichen Merkmals der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik. In einem kurzen Monolog im fünften Auftritt antwortet die Gräfin Karoline darauf mit einem dreifachen Ha! und offenbart damit sukzessive neben ihrer kriminellen Energie auch ihren Wahnsinn. Reichhard räsoniert in aufgeklärter Tradition über den Liebesimperativ der Gräfin und kann diesen noch mit folgender Überlegung parieren: „O beym Himmel! wer den Menschen, den seine Leidenschaften elend gemacht haben, nicht beklagt, nicht herzlich bemitleidet, ist ein Barbar“ (S. 102). Zugleich muss er aber erkennen, dass die bloße Berührung, der bloße körperliche Kontakt „wie ein Bliz, durch Mark und Bein“ (S. 102) geht und alle vernünftigen Disziplinierungsregularien zum Entgleisen bringt. Karoline kombiniert ihren Liebesimperativ mit einer körperlichen Züchtigung („Gibt ihm einen sanften Schlag“, S. 102), bevor sie Reichhard um den Hals fällt und ihn küssen will. Sie nennt ihn „rasend“ und „vom Bösen besessen“ (S. 103) und projiziert damit ihre eigene Seelenlage auf den Mann, der sich ihrem Willen nicht unterwirft und ihr nicht gehorcht. Sie wünscht sich sogar seinen Suizid (vgl. S. 103). In einer berechnenden Eigendiagnose erklärt sie Reichhard, dass sie lange ihrer Neigung habe widerstehen wollen, doch sie lasse sich nicht verdrängen, was ihr ein Beleg für die Intensität und Echtheit ihrer Gefühle sei. Karoline bedient sich dabei der zeitüblichen Metapher vom Dammbruch und bettet ihre individuelle Affektlage in einen allgemeinen Leidenschaftsdiskurs ein, mit der entscheidenden Frage, wie eine Selbstbändigung von solch gewaltigen Leidenschaften überhaupt möglich sei. Ihre „Neigung […] riss’ alle Schranken nieder, überstieg alle Dämme der Vernunft. Ich bin eine Thörin – eine rasende, leichtfertige Thörin, und doch gäb ich mein Leben um Berührung deiner Lippen“ (S. 103). HahnHahn, Ludwig Philipp wiederum fügt dieses wilde Begehren ein in den für den Sturm und Drang spezifischen Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen einer Emanzipation der LeidenschaftenEmanzipation der Leidenschaften. Das populärste Beispiel hierfür ist sicherlich GoetheGoethe, Johann Wolfgangs WertherDie Leiden des jungen Werthers-Roman (1774). Im dritten Aufzug dieses zweiten Akts bietet Hahn das erste von zwei Liedern dar (im Original nicht paginiert). Zuerst kommt der Liedtext im Haupttext des Dramas, danach folgt die Komposition mit der Satzbezeichnung ‚traurig, schmachtend‘. Ein Schäfer singt und bietet mit dem Text die Kontrafaktur zum Handlungsgeschehen mit umgekehrten Geschlechterrollen. Der Komponist ist nicht bekannt. Ob HahnHahn, Ludwig Philipp möglicherweise selbst das Lied komponiert hat, bleibt Spekulation.
Karolines Mann Graf Karl von Adelsberg ist ein kranker Mann, der seine Burg ebenso als Kerker empfindet wie er seinen Körper als giftgetränkt erfährt. In seinem Zimmer atme er Moder, spricht er zu seinem Vertrauten Schulz. Das ist ein bildlicher Hinweis darauf, dass das alte Regime bereits dem Untergang geweiht ist, die Ritterherrlichkeit und Obrigkeitswillkür wird keinen weiteren Bestand haben. Hierin bleibt der Autor Hahn dem zeitgenössischen Verständnis des Sturm und DrangSturm und Drang als einer Haltung der Rebellion gegen Ständeunterschiede treu. Auch wenn der schmerzgeplagte Graf, der über „die höllische Pein!“ (S. 107) klagt, an Gicht leidet, so macht seine Zurschaustellung auf der Bühne in einem Rollstuhl deutlich, dass er eine Macht und Handlungssouveränität für sich beansprucht, die er in Wahrheit gar nicht mehr hat. Er will sich aus seinem Rollstuhl erheben, fällt aber zu Boden und wird erst später vom Schulz wieder in den Rollstuhl gesetzt (vgl. S. 111). Die Botschaft lautet: das alte System hat sich überlebt. Krankheit und Behinderung werden somit zu politischen Metaphern in Hahns Stück. Dass die Gräfin ihren Mann nicht liebt, ihn abstoßend findet und ihn sich lieber tot wünscht, ist dem Grafen nicht verborgen geblieben. Sie bezeichnet ihren Mann als „Höllenbraten“ und „Weibermörder“ (S. 110), dem sie am Ende des sechsten Auftritts eine Ohrfeige gibt, dass ihm die Mütze vom Kopf fällt – all das sind Hinweise darauf, dass der Liebesimperativ von Karoline sich auf Gewalt gegen Männer gründet. Sie ohrfeigt nicht nur den eigenen Mann, sondern auch den begehrten Mann Reichhard.
Das zweite Lied mit der Satzbezeichnung ‚aufgeräumt, bäurisch‘ (vgl. III/1; im Original nicht paginiert) singt Hänsel, der als Mörder gefangen genommen worden und vom Grafen in absolutistischer Willkür zum Tode verurteilt worden ist. Dieser Liedtext konterkariert Karolines Handlungsweise und nimmt das tragische Ende vorweg. Zugleich offenbart das Lied, dass Karolines Liebesimperativ ihren Mitmenschen nicht verborgen geblieben ist. Hänsel dient auch als Kontrastfigur zur Adelswillkür, er ist derjenige, der eine dezidierte Sozialkritik vorträgt, dabei ist er gefesselt und im Gefängnis verwahrt. Über die Obrigkeit sagt er: „Ihr seyd doch Diebe, und just des Galgens so – ja öfter noch würdiger, als ich und meines Gleichen. Warum? Uns abzuhalten, braucht man nur Hüter, gute Schlösser und Riegel; aber vor euch ist so gar unsers Herrgotts Schazkammer nicht sicher, und stund ein Cherub mit einem feurigen Schwerdt an der Pforte. Wie das zu verstehen sey, ist leicht zu begreifen.“ (S. 113) Diese monologische Reflexion über die soziale und politische Ungleichheit ist an die Zuschauer oder das Lesepublikum adressiert, da Hänsel in dem gesamten Auftritt allein bleibt. Erst danach tritt die Gräfin auf und versucht, Hänsel als Mörder ihres Mannes zu dingen. Hänsels Monolog wird somit zum hermeneutischen Schlüssel für diese nachfolgende Szene. Als er im dritten Auftritt wieder allein ist, resümiert er: „Das Weib ist rasend“ (S. 116), später wird er ihr sogar „den Teufel im Leib“ (S. 119) attestieren. In ihrem Monolog zu Beginn des vierten Aktes weist dies Karoline aber entschieden zurück, sie sei „weder rasend, noch in Verzweiflung“, sondern „ganz kaltblütig“ (S. 125). Und bezeichnenderweise trägt sie in diesem Zusammenhang die Rechtfertigung von Adelswillkür vor: „Ich bin Gräfin – allein Herr über mich – Uber die Geseze erhaben, lach den Vorurtheilen des Pöbels“ (S. 125). Damit rechtfertigt sie den Mord an ihrem Mann. Ein drittes Mal wird die Sozialkritik thematisiert durch Schulz, als er im Gespräch mit der Gräfin darauf verweist, dass der gesellschaftliche Unterschied in den Verhaltensweisen zum Ausdruck komme. Es mache einen Unterschied, ob einen „ein gemeiner Mann“ oder „ein grosser Herr“ ungerecht behandle, von diesem müsse man manches „einstecken“ (S. 129), man müsse sich Launen gefallen lassen, über vieles hinwegsehen und vieles überhören. Respekt vor den Dienern repräsentiere Respekt vor den Herren (vgl. S. 130), womit er vor allem an Respekt vor seiner eigenen Person denkt. Auch der Jude beklagt sich über die Aristokratenwillkür, dass er ohne Gerichtsverfahren eingesperrt wurde, „und, wie ich wissen will, warum? weiß es kein Mensch, ich auch nicht“ (S. 122). Das nimmt in erschreckender Klarheit die Verhaftung SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniels am 23. Januar 1777 in Blaubeuren und seine anschließende Inhaftierung auf der Festung Hohenasperg ohne Gerichtsverfahren und Urteil vorweg.
Das Geschlechterbild der Gräfin ist eindeutig, „’s ist des Mannes Sache, zu agiren, und der Frauen ihre nach des Mannes Willen sich zu bequemen“ (S. 121), sagt sie zu Reichhard und fordert ihn auf, nicht länger „den blöden Schäfer [zu] machen“ (S. 121). Dies ist auch eine deutliche Absage an jegliche Form anakreontischAnakreontiker Kodierung von Liebe und Begehren. Die Gräfin will, dass ihr Begehren seinen Adressaten findet, ohne dass dies zivilisatorisch anverwandelt oder gesellschaftlich legitimierbar sprachlich kodiert werden muss. An diesem Punkt ist die Figur Karoline ausgesprochen modern und emanzipativ. Da sie aber die Rolle der rasenden Frau und damit ein Sturm-und-DrangSturm und Drang-Merkmal wählt, bleibt dieser emanzipative Ansatz auf der Strecke. Reichhards Frauenbild hingegen ist der Zeit verpflichtet, „Weiber sind Weiber! schwache, zerbrechliche Gefässe – wollen Mannsarbeit thun, die Ameisen! und bleiben halben Wegs liegen“ (S. 126).
Im fünften Akt bewegt sich Reichhard an der Grenze zum Wahnsinn. Er rechtfertigt vor sich den Mord am Grafen, seine Wahnvorstellungen kulminieren am Ende des zweiten Auftritts, die in der Regieanweisung im dritten Auftritt so bilanziert werden: „Wie aus’m Schlaf erwachend“ (S. 136). Reichhard sieht und hört Dinge, die nicht existent sind, er steigert sich in seinen Wahn hinein. Karoline kommentiert dies mit den Worten: „deine Vernunft ist eingeschlafen, drum redet deine Zunge so albernes Zeug“ (S. 137). Im letzten Augenblick vor seinem Tod fährt der Graf plötzlich aus seinem Schlaf auf und zitiert SenecaSenecas De brevitate vitaeDe brevitate vitae: „Das Leben ist kurz und der Schmerzen viel“ (S. 138). Danach wird er von Hänsel erstochen. Reichhard ist Mitwisser. In der Attitüde eines Kraftkerls des Sturm und DrangSturm und Drang tritt er auf und bekennt schließlich diese Tat, indem er sagt: „Nun, so wollt ich, daß der ganze Weltbau, diese in der Luft schwimmende Kugel, ins Unermeßliche hinabstürzte, und mit der ganzen Natur zertrümmert da läg, wie eine zerstörte Stadt!“ (S. 141) Am Ende fantasiert sich Karoline in die Rolle einer Donna Diana aus dem Drama Der neue MenozaDer neue Menoza (1774) von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) hinein, wenn sie angesichts ihrer drohenden Verhaftung zu sich selbst sagt: „Sey starck, Karoline! wenn du kannst; bewaffne dich mit Unverschämtheit und List, und beweise, daß auch ein Weib eine männliche Seele haben, ohnerröthend der Tugend ins Gesicht speyen und die Wahrheit Lügen beschuldigen könne!“ (S. 142) HahnHahn, Ludwig Philipps Frauenfigur der Gräfin Karoline erinnert also an diese Figur der Donna Diana aus dem Neuen MenozaDer neue Menoza, die erklärt: „Laß uns Hosen anziehn und die Männer bei ihren Haaren im Blute herumschleppen. […] Ein Weib muß nicht sanftmütig sein, oder sie ist eine Hure“ (II/3). Hänsel ist gefasst, er hat die Tat gestanden und Karoline verraten, die nun verhaftet wird. Graf Wallrad, der Onkel von Gräfin Karoline, ergreift sie und resümiert in guter aufgeklärter Tradition sein fabula docet: „So ist, leider, der Mensch beschaffen! Seine Leidenschaften erheben ihn in den Himmel, und stossen ihn in die Hölle hinab; machen ihn zum Engel, und zum Thier. Wehe dem, der sich ihnen überläst!“ (S. 144) Reichhard hat sich selbst gerichtet, die Gräfin folgt ihm. Das Stück schließt mit einer direkten Publikumsanrede durch Graf Wallrad: „Erst tödtet der Mensch die Tugend, dann sich selbst. – O spart eure Thränen, guten Leute!“ (S. 145) Der Germanist Erich SchmidtSchmidt, Erich fand die „Figur des mannstollen Machtweibes“ in diesem Drama „ekelhaft“.35 Das ist natürlich keine analytische Bewertungskategorie, sondern ein moralisches Urteil, das weder dem Stück selbst noch der Literaturgeschichte des griechischen und römischen Altertums gerecht wird. Starke Frauengestalten, und wenn sie auch in der Liebe enttäuscht sind, Intrigen spinnen oder von Machtambitionen besessen scheinen, sind eine feste Motivgröße der europäischen KulturKulturgeschichte- und LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte. Das Stück ist viel eher auch ein Stück über die Tatsache, dass gesellschaftliche Macht (der Adelsstand) zwar die Entdisziplinierung der Leidenschaften ermöglicht, zugleich aber deutlich macht, dass diese Emanzipation der Leidenschaften eine falsch verstandene Befreiung von ihrer Repression bedeutet. Die Botschaft des Stücks lautet: Liebe lässt sich nicht erzwingen, schon gar nicht mit dem Hebel der Ständedistinktion. Genau davon spricht auch HahnHahn, Ludwig Philipps letztes Drama Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken, nun aber aus der Sicht eines Mannes.
Hahns Drama Robert von Hohenecken (1778) ist sein erster literarischer Text, den er auf dem Titelblatt mit seinem Namen auszeichnet, das also nicht anonym erscheint. Der Untertitel ‚Ein Trauerspiel‘ macht deutlich, dass auch dieses Drama wie die beiden anderen zuvor der Gattung der TragödieTragödie zugehört. Der Text erscheint ebenfalls in der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig im Jahr 1778. Robert von Hohenecken dreht die Perspektive des Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg gerade um. Nun ist es ein Mann, der Ritter Robert von Hohenecken, der eine Frau begehrt und sie zwingen will, ihn zu lieben. Das Stück ist einem Freiherrn von Hacke gewidmet, das ist Franz Karl Joseph von HackeHacke, Franz Karl Joseph von (1727–1780), der kurpfälzer Oberstforst- und Oberstjägermeister. Zu seinem vom Vater geerbten Besitz gehörten u.a. der Ort Trippstadt, der kurpfälzische Anteil der Herrschaft Wilenstein und die Dörfer Mölschbach und Stelzenberg, Orte, die auch in Hahns Drama genannt werden. In seinem im Dezember 1777 geschriebenen Vorbericht nimmt der 29-jährige Autor Hahn, der sich noch als „ein junger Mann“ (S. 151) tituliert, Stellung zur Kritik an seinen beiden zuvor erschienenen Stücken. Insofern gewähren diese Seiten auch Einblick in Hahns schriftstellerisches Selbstverständnis. Er deutet an, dass Robert von Hohenecken sein vermutlich letztes Stück sein wird. „Nicht alles um uns her liebt die Lektür – die vaterländische Lektür. Meine beyde vorige theatralische Schriften sind für viele Leute zu original – zu seltsam, wollt ich sagen. Sie sollten, meynt man, weniger possirliches – ungeschliffenes – sollten mehr sanfteres – empfindsameres – sollten – was weis ich, was noch mehr? enthalten und nicht enthalten“ (S. 151). HahnHahn, Ludwig Philipp setzt sich vor allem gegen die desavouierende Kritik zur Wehr. Er argumentiert selbstbewusst, fast schon empört, wenn er seinen Kritikern zuruft: „Und meynt ihr nicht, daß ich euch hätte weinen machen können, wie gepeitschte Kinder, vom Anfang bis zum Ende des Stücks, wenn ich gewollt?“ (S. 151) Namentlich greift er den streitlustigen Kritiker Albrecht WittenbergWittenberg, Albrecht (1728–1807) an, der in einer Rezension im Beytrag zum Reichs-PostreuterBeytrag zum Reichs-Postreuter (95. Stück, 50. Woche, Montag, 9. Dezember 1776) „seinen Geifer über meinen Karl von Adelsberg ausschüttete“ (S. 151).36 Hahns Poetik, genauer: seine Autopoetik, stellt die klassische Funktionsbestimmung eines Trauerspiels in Frage. Denn galt bislang, dass die Zuschauer oder Leser einer TragödieTragödie durch die dargebotene Handlung affektiv ergriffen werden sollten, damit die KatharsisKatharsis (Reinigung oder Befreiung) von den Affekten FurchtFurcht und MitleidMitleid eingeleitet würde, so verzichtet Hahn auf diese Affekte in der Wirkung einer Tragödie, die für ihn das weinerlich-empfindsame Erbe des deutschen Trauerspiels darstellen, und will stattdessen sein Publikum an „grosse – schauerliche – herzerschütternde Scenen gewöhnen“ (S. 151). Allerdings bleibt dies etwas unscharf, denn Hahns Beschreibung gründet sich durchaus auf die affektive Wirkung einer Tragödie, wenn er statt Furcht Größe und statt Mitleid Herzerschütterung vom Trauerspiel verlangt. In diesem Punkt folgt Hahn der Dramenprogrammatik des Sturm und DrangSturm und Drang, dass Weinen („das ewige Geleyer der Weinerlichkeit“, S. 151) und empfindsamEmpfindsamkeite Betroffenheit allein nicht genügen, sondern die WirkungWirkung einer Tragödie auf ihrer existenziellen Erschütterung beruht. Goethes Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen (1773) gilt hier den jungen Autoren des Sturm und Drang als Referenztext und fand viele Nachahmer. Allein zwischen 1775, beginnend mit Friedrich Maximilian KlingerKlinger, Friedrich Maximilians (1752–1831) OttoOtto (1775), und 1811 erschienen 38 Ritterdramen, die meisten davon schlechte Kopien und weitab vom ursprünglichen Impuls GoetheGoethe, Johann Wolfgangs. Wenn Hahn schreibt: „Ich will Menschen sehen – handeln sehen, wahre Menschen – keine künstliche Narren – keine gemahlte Puppen –“ (S. 151), so meint man, er zitiere wiederum LenzLenz, Jakob Michael Reinhold. Der hatte in seinem zwischen 1773 und 1775 geschriebenen Essay Über Götz von BerlichingenÜber Götz von Berlichingen gefordert: „Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, […] nicht empfindeln […]“37. Allerdings wurde dieser Text erst 1901 veröffentlicht. Das unterstreicht aber, wie sehr HahnHahn, Ludwig Philipp im Denken des Sturm und DrangSturm und Drang verwurzelt ist. Hahn aber kündigt an, dass er kein weiteres Drama mehr schreiben wolle, die Kritik – obwohl es auch zustimmende, ermunternde, gar euphorische Kritik gab – hatte ihn zu sehr getroffen.
Die Sprache in Hahns Drama ist dann derb, wenn sie zur Charakterisierung des Soziolekts unterer Gesellschaftsschichten dienen soll. So nennt Velten, ein Knecht des Adelbert von Willstein, Robert von Hohenecken beispielsweise einen „Venuskeil“ (S. 173), was schlicht das männliche Geschlechtsteil bedeutet. Eine ähnliche sprachliche Anspielung macht auch Schlick, der ebenfalls Berta begehrt. Im Gespräch mit Adelbert sagt er über sie: „ich wollt dir den Pflug gekeilt haben“ (S. 205), auch er will Berta umbringen. Keilen kann pfälzisch plagen oder quälen bedeuten, ist aber auch überregional belegt. Eindeutige pfälzische Idiome verwendet Hahn nur an drei Textstellen. Das Wort „Marzebille“ (S. 187) ist mundartlich als Substantiv nicht belegt, es kann aber durchaus eine dialektale Zusammensetzung von pfälzisch Warze (dann müsste ein Druckfehler angenommen werden) als Metapher für Frau und dem pfälzischen Bille als einem doppelseitigen Werkzeug zum Bearbeiten von Mühlsteinen verstanden werden, immerhin hat sich Hahn bekanntlich mit der Mühlentechnik später intensiv befasst. Darüber hinaus führt das Goethe-WörterbuchGoethe-Wörterbuch den Namen Marzebille auf und erklärt ihn als „Zusammenziehung des Namens Marie Sybilla“, es sei ein „usueller appellativischer Personenname für Klatschbase“,38 der im Verzeichnis der Dramatis Personae der Satire Hanswursts HochzeitHanswursts Hochzeit Erwähnung findet, doch war dieser von GoetheGoethe, Johann Wolfgang 1775 geschriebene Text zu Hahns Lebzeiten noch nicht veröffentlicht, erst 1836 erfolgte die Publikation.39 Auch die böhmische Sage MarzebillaMarzebilla kennt den gleichlautenden Namen, wenngleich ihre Verwendung bei Hahn eher unwahrscheinlich ist:
„In der Gegend von Preßnitz befindet sich ein Berg, Namens ‚Bartelwulfenberg‘. Hier soll vor Jahren ein Schloss gestanden haben. Der Besitzer desselben hatte eine Tochter, die in ein Nonnenkloster ging. Hier hatte sie eine Liebschaft mit einem Ritter und kam zu Falle. Sie entfloh und starb im Elend. Seit dieser Zeit lässt sie sich nun im Kaiserwalde bei Preßnitz öfter sehen und ist allgemein bekannt unter dem Namen Marzebilla. […]“40.
Das Wort „Wäcklein“ (S. 190) ist vermutlich ein Druckfehler und muss Wecklein heißen, was die Diminutivform für Weck ist und Brötchen heißt. Und schließlich „Knittel“ (S. 201) bedeutet im Pfälzischen der Traubenklotz.
Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken spielt im 15. Jahrhundert. Doch ist die Angabe der gespielten Zeit nebensächlich, da der Autor alle historischen Details willentlich ignoriert. So zum Beispiel, dass Berta von kleinen Turnieren berichtet, die um ihretwillen veranstaltet worden seien (vgl. S. 171). Enne wird als eine junge Mennonitin bezeichnet, die es freilich im 15. Jahrhundert noch gar nicht gab, der Gründer dieser Freikirche Menno Simons wurde erst 1496 geboren; in HahnHahn, Ludwig Philipps Gegenwart spielten die Mennoniten eine wichtige Rolle in den Glaubensdiskussionen zwischen Zweibrücken und Trippstadt. Bemerkenswert ist die Frage, die Enne stellt und die durchaus doppeldeutig ist: „Hat der Hahn schon gekräht?“ (S. 176) Oder Kartoffeln werden als einzige Nahrungsgrundlage der Bauern erwähnt, doch wurde die Pflanze erst Mitte des 16. Jahrhunderts in Deutschland eingeführt. Für ein Sturm und DrangSturm und Drang Drama bleibt es unerheblich, ob die Daten und Fakten stimmig sind, sie dienen nur als Staffage für den bedeutungsvollen Gegenwartsbezug. Die Orte sind alle historisch belegt, größtenteils existieren die Dörfer und Burgruinen heute noch. Hohenecken ist inzwischen ein Stadtteil von Kaiserslautern. Als weitere regionale Orts- und Gewandnamen werden genannt: Annweiler, Waschlauter und Kaltenbach (S. 154), Lamprecht (S. 155), Fischbach und Nabenberg (S. 155), Johanniskreuz und Leimen (S. 157), St. Martin, (Kaisers-)Lautern und Frankenweid (S. 158), Lauberhof (S. 161), Aspach (S. 164, = Aschbacherhof, Kirchenruine St. Blasius in Asbach, gehörte historisch zum Amt Wilenstein), Hirschsprung (S. 169), Hornungsdelle und Stölzenberg (= Stolzenberg, heute ein Naturschutzgebiet, S. 177), Schopp und Schmalenberg (S. 180), Einsiedel (S. 181), Enkenbach (S. 200), Bann und Mispelstein (S. 201). Diese Regionalisierung zieht sich durch das gesamte Stück, es macht den Robert von Hohenecken freilich nicht zu einer Heimattragödie, sondern Hahn will mit dieser Anbindung an regionale und authentische Namen unterstreichen, dass sein Thema aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit hervorgegangen ist. Es unterstreicht den Anspruch auf Authentizität. Die Koloquinte (vgl. S. 202), die Robert von Hohenecken in der vierten Szene des fünften Akts erwähnt, womit seine Speisen „gewürzt“ (S. 202) seien, ist ein Bitterkürbis, auch Teufelsapfel genannt, und ist giftig. Seit dem 16. Jahrhundert ist diese Pflanze im heutigen Südwesten Deutschlands bekannt. Der u.a. durch seinen Hinweis auf den historischen FaustFaust, Johannes (Georg) bekannt gewordene Wormser Stadt- und Leibarzt Philipp BegardiBegardi, Philipp beschreibt sie in seinem Index sanitatis. Eyn Schöns und vast nützlichs Büchlin / genāt Zeyger der gesundheyt / […]Index sanitatis von 1539.
Die dritte Szene im ersten Akt zeigt Ritter Adelbert von Willstein, wie er über Reichtum und Liebe räsoniert. Lieber wolle er auf alles Geld der Welt und sogar auf eine Kaiserkrone verzichten, er wolle lieber in einer Hütte im Wald als in einem Schloss wohnen, wenn er darum seine Liebe Berta von Flörsheim erhielte. Damit ist bereits eine Konfliktlinie vorgezeichnet, es geht im Stück nicht um ritterliche Tugenden oder politische Konstellationen im großen Maßstab eines Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen, sondern es geht in erster Linie um eine Liebestragödie. Denn Berta wird auch vom benachbarten Ritter Robert von Hohenecken begehrt. In diese Liebeskonstellation ist also zugleich der Konflikt zwischen den beiden männlichen Protagonisten und Repräsentanten des Adels eingeschrieben. Liebe wird zu einem Besitzverhältnis. Berta wird von beiden Rittern als Objekt begriffen, über dessen Besitz gestritten werden kann. Die Ritter tragen damit einen Konflikt ihrer GeschlechterrollenGeschlechterrollen aus, der keineswegs nur die Frühe Neuzeit kennzeichnet, sondern genau ein zentrales sozial- und mentalitätsgeschichtliches, eben ein kulturgeschichtliches Thema des 18. Jahrhunderts darstellt. Im Kern geht es um die Frage, ob die Grundlage einer partnerschaftlichen Beziehung eine Liebesheirat oder eine Konvenienzehe darstellt. Die Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang engagieren sich literarisch für das Modell einer uneingeschränkten Liebesheirat. In der fünften Szene begegnen sich die beiden Ritter erstmals. Mitten im Gespräch zwischen den Rittern trifft die Nachricht ein, die Hohenecker hätten Vieh gestohlen und einen Gefolgsmann von Adelbert erschossen. Nun wird das Gespräch feindselig, die Ritter beginnen, sich gegenseitig zu belauern. Eine alte Fehde zwischen den beiden droht wieder aufzubrechen. Für Robert ist dieser räuberische Übergriff Ausdruck seines Zorns darüber, dass Adelbert und Berta als Paar zusammenkommen wollen. Selbst Bertas Tod will er in Kauf nehmen, um seinen Besitzanspruch auf sie zu unterstreichen. Sie wird zur Handelsware, da Robert seinem Nachbarn anbietet, zukünftig Frieden und Freundschaft mit ihm zu pflegen, wenn er ihm Berta überlässt. Dass eine kriegerische Auseinandersetzung bar jeglicher Vernunft ist, erkennt Adelbert, gleichwohl befürwortet er einen militärischen Gegenschlag gegen Robert. In manchen Fehden sei „der Hirnlose am glücklichsten“ (S. 162). Der gesamte erste Akt dient der expositorischen Darlegung der Voraussetzungen für den Showdown zwischen Adelbert und Robert, der sich sehr schnell abzeichnet.
Im zweiten Akt erfährt man die Binnenperspektive von Berta. Sie hält sich in einem Eichenwäldchen auf und erklärt ihre Gefühle. Schlüsselwörter wie Herz, fühlen, ach, süsse Vorstellung, heiße Sehnsucht etc. fallen und weisen diesen Monolog als eine empfindsamEmpfindsamkeite Reflexion aus. Berta alludiert sogar den biblischen Vers aus Psalm 73, 25: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“, wenn sie bekennt: „Hätt ich meinen Adelbert, fragt’ ich nichts nach Himmel und Erden, fragt’ ich nichts nach Purpur und Gold“ (S. 164). Also auch Berta würde auf ihren durch ihre adlige Geburt vermachten Besitz verzichten wollen, wenn sie eine Liebesbeziehung mit Adelbert eingehen dürfte. In der sechsten Szene des zweiten Akts lässt Robert erstmals seine kraftgenialische Interjektion Ha! hören und über Berta klagt er: „Was hab ich dir denn Leids gethan, Berta! daß du mein nicht achtest, oder was findest du an mir, das dir misfällt? Bin ich denn so häßlich und krippelhaft, daß du dich meiner schämen müstest? […] Berta würde – sie müste mich lieben“ (S. 169). Aus diesem Konjunktiv wird sehr schnell ein imperativischer Indikativ: Berta muss Robert lieben! Dieser erträgt aber die Zurückweisung durch Berta nicht. In der siebten Szene begegnen sich die beiden, und Robert bezeichnet sich als „rasend […] aus Liebe zu dir“ (S. 170), womit er bereits die Verantwortung für sein bevorstehendes Handeln zurückweist. Er nimmt Berta gefangen und verschleppt sie auf sein Schloss. Robert will Bertas Liebe erzwingen. Nun wird also der Liebesimperativ von einem aristokratischen Mann formuliert, anders als in HahnHahn, Ludwig Philipps Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg. Robert stellt die begehrte Frau in einen Schuldzusammenhang, er begründet sein Handeln mit deren Zurückweisung. Für Berta hingegen ist Robert ein „Fräuleinräuber“ (S. 172), der ihr Gewalt androht in einer Formulierung, die fast schon an ein späteres GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Zitat aus dessen ErlkönigErlkönig (1782) denken lässt: „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“. Bei Hahn heißt es: „und gehst du nicht freywillig mit, so führ ich dich mit Gewalt davon“ (S. 172). Berta weist diese Drohung entschieden zurück, ist sich aber bewusst, dass ihre weibliche Geschlechterrolle ihr keinerlei Handlungsalternative zulässt. Dennoch verbalisiert sie diesen historischen Sachverhalt, indem sie den individuellen Einzelfall für das männliche Geschlecht generalisiert: „so leicht es euch Männern auch ist, über den Leib eines Weibes zu siegen, so – und zehentausendmal schwerer, ist der Sieg über ihre Neigung. Ich liebe dich nicht“ (S. 172).
Das Thema der Sozialkritik, das von Adelbert und Berta durch ihren möglichen Verzicht auf Reichtum und Privilegien bereits angedeutet worden war, findet im dritten Akt seine Fortsetzung. Adelbert reitet mit seiner Gefolgschaft aus und trifft auf Bauern, die zur Burg Hohenecken gehören und mutmaßen, dass Adelbert sie ausrauben wolle und deshalb schnell ihr Hab und Gut verstecken. Adelbert reagiert auf diesen Vorgang mit den Worten: „Ich suche mein Leben [gemeint ist Berta, M.L.-J.] hier, und keine armselige Beute, und find ich das nicht, was kann dem todten Leichnam die Habseligkeit der ganzen Welt nüzen? Er modert, und läg er in Gold“ (S. 181). Die umgekehrte Perspektive, also den Blick von unten, entfaltet der Trippstadter Bauer Fuchs, der in einer langen Rede auf die soziale Ungleichheit hinweist und die ‚armen Bäuerlein‘ gegen die ‚reichen Herren‘ in Stellung bringt (vgl. S. 184). Würde in der Bibel stehen, dass die Bauern immer nur Kartoffeln essen müssten und seien Wild und Fisch nur für die Reichen? Der reiche Bauer Schlick bezeichnet die Liebesfantasien von Berta im vierten Akt als „romantisch“ (S. 187); das ist ein früher Wortbeleg für das Modell einer romantischen Lieberomantische Liebe, lange vor Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrichs frühromantischem Roman LucindeLucinde (1799). Über Berta urteilt er geringschätzig, womit er Robert von Hohenecken seine Liebe zu Berta ausreden möchte, sie habe „sonsten nichts hinten und nichts vornen“ (S. 189). Aber mit diesem „nonnennmässigen“ (S. 189) des Aussehens und der Haltung begründet Robert seinen Liebeswahnsinn („rasend“, S. 189).
Die vierte Szene des vierten Akts zeigt Robert von Hohenecken an den Grenzen des Wahnsinns. Er fantasiert eine Liebe, die auf Gewalt und Verleugnung gründet. Hahn zitiert wie schon im Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa ein religiöses Bild, das an Petrus erinnern soll, als er JesusJesus dreimal verleugnete, wenn er in einem Monolog in der vierten Szene des vierten Akts zwischen seiner Sturm und DrangSturm und Drang-Interjektion Ha! und dem Hinweis, dass er gleich „bitterlich weinen“ (S. 192) werde, hin und her schwankt. Das Kraftgenialische in seiner Person demaskiert sich auf diese Weise selbst und es wird deutlich, dass Kraft und das goethesche Selbsthelfertum bei ihm Rollen sind, derer er sich bedient, um seinen Liebesimperativ durchzusetzen. Es fehlt ihm jegliche politische oder gesellschaftlich relevante Qualität. Robert überschätzt sich selbst vollkommen. Der Selbsthelfer mutiert in seiner Person zu einer Autoaggression, die ihn am Ende sich selbst töten lässt. Er fantasiert sich Berta als arm und mittellos, gar nackt solle sie zu ihm kommen und fragt sich: „Was ist denn nun an meinem Anspruch Gottloses oder Unbilliges? Bin ich ein Barbar oder ein Räuber?“ (S. 192) Der Hinweis auf sein „zärtliches Herz“ (S. 192) versucht, das mit einem empfindsamEmpfindsamkeiten Codewort einzufangen, was sich längst nicht mehr kontrollieren lässt: seinen irrationalen Besitzanspruch auf Berta. Dies wird an späterer Stelle noch deutlicher, als er Berta erklärt, dass weinen „eine Schande für einen Mann“ (S. 197) sei. Robert entscheidet sich für eine Mischung aus „Verzweiflung und Wuth“ (S. 193), mit der er diesen Anspruch durchsetzen will. Es kommt schließlich zum Zweikampf zwischen den beiden Rittern. Was für den einen sein „Recht“, ist für den anderen sein „Besiz“ (S. 194). Berta bestätigt wiederholt ihre Zuneigung zu Adelbert, für sie ist diese ein Werk Gottes. Eine solche „zärtliche Liebe zu zerreissen, die Gott gestiftet hat, ist Teufelsgeschäft“ (S. 195). Berta argumentiert also theologisch, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Adelbert verheiratet ist, während die beiden Männer ihren GeschlechterrolleGeschlechterrollenn treu bleiben und die Frau verdinglichen und zum Liebesbesitz erklären. Berta weist damit auch Adelberts Wunsch, sie solle sich retten, indem sie sich unterwerfe, entschieden zurück. HahnHahn, Ludwig Philipp entwickelt diese dramatische Situation tragisch noch weiter, als Adelbert sich dafür entscheidet, lieber sterben als auf Berta verzichten zu wollen. Die Regieanweisung lässt ihn „traurig“ (S. 196) abgehen. Da Berta Robert schwach gesehen hat, nimmt er dies zur Begründung sie zu ermorden, verwirft diese Tötungsfantasie aber schnell wieder, er wendet diese Aggression nun gegen sich selbst, er will sich töten. Zuvor aber fordert er einen einzigen Kuss von ihr.
Am Ende der sechsten Szene tritt Adelbert mit seinem Schwert in der Hand auf und will sich mit Robert in einem ritterlichen Zweikampf messen. Der weicht dem aus, er sucht die schlafende und gefesselte Berta auf und „küst Sie“ (S. 207). Er holt damit nach, was er von ihr gefordert hatte. Die Zurückweisung durch Berta ist für ihn eine tödliche Kränkung, die er nicht länger ertragen kann. Er setzt sein Schwert auf dem Boden auf und lässt sich hineinfallen, aber nicht ohne dabei Berta, die aufwacht, theatralisch zum Herschauen aufzufordern. Sein Tod ist für ihn ein „Versöhnopfer“ (S. 207), dessen überhöhte Bedeutung er mit einer Träne Bertas hervorkehrt. Danach folgt die Bitte um MitleidMitleid, um einen mitleidsvollen Blick und um ein Lächeln. Der Forderungskatalog Roberts will kein Ende nehmen, denn als Adelbert dazukommt, verlangt er von diesem Verzeihung für seinen Umgang mit Berta. Am Ende verzeiht ihm Adelbert und Robert stirbt. Am nächsten Tag wollen Berta und Adelbert bereits heiraten; diese Heirat versteht Berta pikanterweise als einen Verzicht auf ihre wiedergewonnene „Freyheit“ (S. 210). Diese dramatische Zuspitzung lebt von ihrer Übertreibung. HahnHahn, Ludwig Philipp geht es nicht um eine realistische Beschreibung psychischer und sozialer Konflikte, sondern um deren Überzeichnung durch das Pathos von Sprache und Handlung. Darin eine parodistische Absicht erkennen zu wollen und Robert von HoheneckenRobert von Hoheneckenals Parodie eines Ritterdramas zu verstehen, ist sicherlich nicht falsch. Auch in diesem Punkt ist Hahn der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik verpflichtet.