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Heinrich Leopold WagnerWagner, Heinrich Leopold KinderpastoraleKinderpastorale (1777)

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Die Kinderpastorale von Heinrich Leopold Wagner erschien 1777 in der Straßburger Zeitschrift Der BürgerfreundDer Bürgerfreund.1 Sie wurde nur ein einziges Mal wieder gedruckt, das war im Jahr 1875 und ohne weiteren, erläuternden Kommentar.2 Die Germanistik konnte offensichtlich mit diesem Text nur wenig anfangen, auch hier stand das Votum von Erich SchmidtSchmidt, Erich der Rezeptionsgeschichte sperrig im Weg. Denn über die Kinderpastorale urteilt er: „herzlich unbedeutend und durchaus unselbständig“, das spätere „kecke Originalgenie“ Wagner sei in seiner Saarbrücker Zeit „noch sehr zahm und bescheiden“ gewesen.3 „Den Papa zu erfreuen verfasst er für die kleinen Günderrodes im Spätsommer 1773 ein mehr als harmloses ‚Kinderpastorale […]‘“4. Wagners Bekannter, der aus Straßburg stammende baden-durlacher Hofrat Friedrich Dominikus RingRing, Friedrich Dominikus, besaß ausweislich seines Bücherverzeichnisses die Kinderpastorale und außerdem eine verloren gegangene Romanze Wagners mit dem Titel Beweis dass die Kinder von je her klüger sind als die Eltern.5

Im Februar 1773 kam Wagner aus Straßburg nach Saarbrücken und nahm die Stellung eines Hofmeisters bei der Familie von GünderrodeGünderrode, Familie von an, ein Bruder der Sesenheimer Pfarrfrau BrionBrion, Friederike hatte ihm diese Stellung vermittelt. Schon in den 1770er-Jahren wurde von einem Gymnasialrektor Kiefer zwar eine erste Lesegesellschaft in Saarbrücken gegründet, doch entsprach diese offensichtlich nicht Wagners Vorstellungen, da sie sich vermutlich vorwiegend der Lektüre von Sachbüchern widmete.6 Im Juni 1772 war sogar Friederike BrionBrion, Friederike zu Besuch bei ihrem Onkel in Saarbrücken gewesen, ob Wagner ihr begegnete ist nicht überliefert. Am 9. Oktober 1773 zog Wagner über die kulturelle Diaspora vor Ort ernüchtert Bilanz. Die Gegend, in der er jetzt lebe, sei „fast eben so barbarisch“7, wie sein liebes Vaterland, schrieb er an Heinrich Christian BoieBoie, Heinrich Christian. WagnerWagner, Heinrich Leopold verbrachte die Jahre 1773 und 1774 in Saarbrücken und avancierte zu einer Art Privatsekretär des Präsidenten von GünderrodeGünderrode, Friedrich Maximilian von. Als sein Arbeitgeber infolge einer Intrige beim Fürsten in Ungnade fiel und auch Wagner selbst der Veruntreuung von Geld bezichtigt wurde, musste er gehen. Ende Mai 1774 wurde Wagner aus dem Territorium des Fürsten von Nassau-Saarbrücken vertrieben, er schreibt: „[…] mußte ich Freytag morgens mit Sack und Pack […] fort und nach Zweybrücken“8. In Saarbrücken lässt er 1774 noch den Phaeton, eine RomanzePhaeton, eine Romanze drucken, die dem Fürsten zu Neujahr 1774 gewidmet war und an deren Ende sich durchaus schon fürstenkritische Töne lesen lassen.9 Doch seine Erfahrungen und Beobachtungen aus der ‚barbarischen Zeit‘ schlagen sich vor allem unmittelbar in den danach veröffentlichten Texten nieder, wie etwa in seinem Roman Leben und Tod Sebastian SilligsLeben und Tod Sebastian Silligs (1776) und in dem Drama Die KindermörderinDie Kindermörderin (1776). Wagners Stellung als Hofmeister bei einer Familie der politischen Elite dieses Duodezfürstentums hat seine Sicht auf die sozialen und politischen Missstände eher noch geschärft. Familienmitglieder von Günderrode sind bereits im 17. Jahrhundert auf der nahen Burg Lichtenberg bei Kusel (Rheinland-Pfalz) nachgewiesen, doch es ist ein Zweig der Familie aus Hessen, der im 18. Jahrhundert in den Dienst der Fürsten von Saarbrücken tritt und dort ansässig wird.

„Johann Maximilian v. Günderode war isenburgisch-birsteinischer Hofmeister. Er ist der Verfasser einer ausführlichen rechtsgeschichtlichen Darstellung über die deutsche Reichsverfassung im Mittelalter und über die Einteilung Deutschlands in Kreise unter den Kaisern Maximilian I. und Karl V. Sein Sohn Hieronymus Maximilian v. Günderode war zunächst hohenlohe-bartensteinischer Hofkavalier. Bereits vor 1762 trat er in die Dienste des Fürsten Wilhelm Heinrich und wurde bald Geheimrat und Kammerpräsident. Im Jahre 1762 wurde ihm der Nassauer Hof in Dudweiler, ein kleines Jagdschlößchen, verliehen. 1769 kaufte es Fürst Ludwig zurück und schenkte es seiner Geliebten, der Frau v. Dorsberg. Daneben hatte Günderode 1762 auch das heute abgerissene Haus an der Schloßmauer in Saarbrücken erworben, in dem Goethe als sein Gast 1770 wohnte. Bei der Beerdigung Wilhelm Heinrichs hielt er die Leichenrede. Er blieb auch unter dem Fürsten Ludwig zunächst im Amt, fiel aber 1773 in Ungnade. Der Fürst ließ ihn in so kränkender Weise davon in Kenntnis setzen, daß er in eine schwere Krankheit verfiel. Doch hat Ludwig ihn dann großzügig behandelt und ihm eine Pension von 1500 fl und 24 Klafter Brennholz jährlich ausgesetzt. Am 17. Dezember 1777 starb er, nachdem ihm seine Frau Susanne Maria Elisabeth geb. v. Stalburg ein Jahr früher im Tode vorausgegangen war. Beide wurden in der Stiftskirche in St. Arnual begraben. Seine Schwester Christine hatte 1761 den nassau-saarbrückischen Regierungsrat Karl v. Stalburg geheiratet, war jedoch schon 1762 im Alter von 23 Jahren gestorben.

Der Präsident hatte drei Kinder. Seine Tochter Karoline Wilhelmine Sophie Luise (*1761 in Saarbrücken) starb 1797 als Stiftsdame des Cronstettischen Stiftes in Frankfurt. Der älteste Sohn des Präsidenten Ludwig Franz Justinian Maximilian Anton Karl v. Günderode (*18. März 1763 in Saarbrücken) war in Saarbrücken Oberstleutnant und Hofmarschall und erhielt als Besoldung neben freier Kost und Logis 500 fl. Er emigrierte in der Französischen Revolution und wurde 1797 von Usingen nach Cadolzburg geschickt, um die Beisetzung des Fürsten Heinrich zu veranlassen. In Frankfurt war er später Senior der ständigen Bürger-Repräsentation und starb 1841. Besser besoldet als er in Saarbrücken war sein jüngerer Bruder Karl Wilhelm (*18. März 1765 in Saarbrücken), der als nassau-saarbrückischer Forstmeister neben freier Kost und Logis, Uniform und Pferd noch 600 fl erhielt. Er starb 1823 als Schöffe und Senator in Frankfurt.“10

Die Regierungszeit des 1718 geborenen Wilhelm Heinrichs von Nassau-SaarbrückenWilhelm Heinrich, Fürst von Nassau-Saarbrücken erstreckt sich über die Jahre 1741 bis zu seinem Tod 1768. Der Fürst gehörte keineswegs zu den aufgeklärtenAufklärung Duodezfürsten dieser Zeit, sondern vertrat eher einen spätbarockenBarock AbsolutismusAbsolutismus. Als Kammerpräsident war von GünderrodeGünderrode, Friedrich Maximilian von der höchste Beamte dieses Fürsten.

Mit der Gattungsbezeichnung Kinderpastorale ist ein Schäferspiel für Kinder gemeint. Demnach hat WagnerWagner, Heinrich Leopold den Text für Kinder gedichtet. Erich SchmidtSchmidt, Erich vermutet, dass der Autor das Stück schon in seiner Zeit als Hauslehrer bei der Familie von Günderrode in Saarbrücken „im Spätsommer 1773“11 geschrieben hat. Im Oktober 1773 gründete Wagner eine wenig erfolgreiche Lesegesellschaft in Saarbrücken, es sollten vor allem literarische Neuerscheinungen gelesen werden. Seine Lesegesellschaft existierte gerade einmal ein halbes Jahr bis zum April 1774.

Der Hinweis am Ende des Textes der KinderpastoraleKinderpastorale in der unteren Fußzeile „Hierzu wird ein Blatt Musik ausgegeben“ bezieht sich auf die beiden Kompositionen Mögen doch am Himmel hangen trübe Wolken ohne Zahl und Möchte man nicht rasend werden Ach und Zeter schreyn, die auf der unpaginierten Seite 153 eingefügt sind. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Kompositionen, die erste bezieht sich auf die ersten beiden Strophen des Gedichts TrostTrost und ist mit „Melancholisch“ überschrieben und im BürgerfreundDer Bürgerfreund Jahrgang 1777, 10. Stück, S. 154 abgedruckt. Die zweite Liedkomposition vertont die erste Strophe des Gedichts Klagen eines Petit-maître, z.t. Stutzer, ZieraffeKlagen eines Petit-maître, z.t. Stutzer, Zieraffe – (Der Bürgerfreund Jg. 1777, 10. St., S. 152), mit einer unwesentlichen Textumstellung und der Tempobezeichnung „Lustig“. Über den Komponisten ist nichts bekannt. Auch der Verfasser der beiden Gedichte ist unbekannt, sie sind aber gleichlautend jeweils mit der Verfasserangabe „der Kranke“ unterschrieben. Unmittelbar danach folgt auf der nächsten Seite WagnersWagner, Heinrich Leopold Kinderpastorale.

Die Adressierung der Kinderpastorale richtet sich an den „rechtschaffenen“ Vater, an dessen Geburtstag das Stückchen aufzuführen sei. Das Adjektiv bezieht sich auf die bürgerliche Tugendbürgerliche Tugend der Rechtschaffenheit und wird durch die Herausstellung besonders betont. Nicht irgendein Vater ist gemeint, sondern der rechtschaffene Vater. Rechtschaffenheit und Tugendhaftigkeit sind fast schon Synonyme in der Semantik bürgerlicher Selbstfindung. Nur drei Personen treten in diesem Dramolett auf, die Schäferin Dorilis und die Schäfer Milon und Daphnis. Die Namen leiten sich aus der griechischen Mythologie her. Dorilis ist ein codierter Figurenname aus der Schäferdichtung. Von LessingLessing, Gotthold Ephraim ist ein Gedicht überliefert, das er in der ersten Buchveröffentlichung seiner Sinngedichte von 1753 An die DorilisAn die Dorilis betitelte, in der zweiten Auflage von 1771 in An die CandidaAn die Candida umbenannte, und das zeitgenössisch oft nachgedruckt wurde:

„Dein Hündchen, Candida, ist zärtlich, tändelnd, rein:

Daß du es also leckst, soll das mich wundern? nein!

Allein dein Hündchen lecket dich:

Das wundert mich.“12

Möglicherweise hat Wagner hierauf angespielt, auch wenn es keine inhaltliche Nähe zur Kinderpastorale gibt. Allerdings vermag in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Gedicht die Opposition zwischen der Reinheit (sc. Rechtschaffenheit) des Hundes und der Unreinheit (sc. UnrechtschaffenheitLessing, Gotthold EphraimBriefe, die neueste Literatur betreffendAllgemeine deutsche BibliothekLettre du Comte de Mirabeau a *** sur M.M. de Cagliostro et LavaterMüller (Oberprediger)Cagliostro13, um das Adjektiv aus dem 106. von Lessings Briefen, die neueste Literatur betreffendBriefe, die neueste Literatur betreffend aufzugreifen) der Frau bzw. zwischen Mensch und Tier auch die Dichotomie von Mann und Frau als ein bürgerliches GenderstereotypGenderstereotypbürgerlich widerzuspiegeln und damit auf Wagners Herausstellung der väterlichen, männlichen Rechtschaffenheit zu verweisen. Ähnlich hypothetisch muss die Deutung von Milon ausfallen. Vielleicht ist die Verwendung dieses Namens eine Referenz gegenüber WagnersWagner, Heinrich Leopold Dichterfreund Maler MüllerMaler Müller und seiner Idylle Bacchidon und Milon, eine Idylle; nebst einem Gesang auf die Geburt des Bacchus. Von einem jungen MahlerBacchidon und Milon, eine Idylle (Frankfurt, Leipzig 1775). Daphnis, ebenfalls der griechischen Mythologie entnommen, ist ein Sohn des Hermes und Hirte auf Sizilien. Daphnis und ChloeDaphnis und Chloe, ein spätantiker Liebesroman von LongosLongos aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, hat Wagner wohl nicht im Blick gehabt, da dies ein für die Kinder eines rechtschaffenen Vaters ungebührliches Sujet dargestellt hätte. Der im Text genannte Musiker Lykas ist ebenfalls ein Namen aus dem Setting eines Schäferspiels. Auf welche historische Person aus Wagners Umfeld sich der Name aber beziehen könnte, ist nicht zu verifizieren.

Die beiden Kinder und Geschwister Dorilis und Milon bestreiten im Wesentlichen diese Dialogszene des ersten und zweiten Auftritts, aus der der kurze Text besteht. Dorilis ist gerade im Begriff, eine Blume vom Blumenstock zu pflücken, als Milon interveniert. Sie solle das lassen, es sei eine schöne Blume, die ihr gebrochen nichts nütze. Dorilis hält dem entgegen, dass gerade darin der Endzweck einer Blume liege, gepflückt zu werden. Schon in der Minnelyrik enthielt die poetische Ausdrucksform ‚eine Blume brechen‘ die Semantik codierter SexualitätSexualität. Das kann bei Wagners Endreimtext ausgeschlossen werden. Geblieben ist aber der implizite Appell zu einer symbolischen Deutungsymbolische Deutung, das bedeutet, dass zunächst einmal die Gewaltinskriptur erkannt werden muss, die der Akt des Brechens enthält. Der Text wirft die Frage nach dem Nutzen und nach dem Endzweck auf und liefert inkludent die Antwort mit, Nutzen und Endzweck werden nur erreicht, wenn ein bestehender Zustand (die Blüte am Wurzelstock) zuvor gewaltsam verändert wird. Nicht jede Veränderung beruht auf einem sanften Vorgang. Milon bringt als ein weiteres Kriterium nun die SchönheitSchönheit in den Dialog mit ein, genauer die Naturschönheit. Die Blume sei in voller Blüte und so schön, deshalb dürfe sie nicht gepflückt werden. Dorilis entgegnet, ihre Schönheit sei der Grund, weshalb sie gepflückt werden müsse. Schließlich versucht es der Bruder mit dem Hinweis auf die christliche TugendTugend der Güte. Die Schwester solle aus lauter Güte (und das meint aus lauter Mitgefühl) darauf verzichten, die Blume zu pflücken. Dieses Argument überzeugt sie, und sie lässt davon ab. Allerdings fordert sie ihren Bruder dadurch heraus, dass sie ihm darlegt, nur ein einziges Wort lasse ihn seine Meinung ändern, und fordert ihn zu einer Wette heraus. Der Wetteinsatz ist das Band an seinem Hirtenstab, das ihm viel bedeutet. Dorilis provoziert sein Ehrverständnis, und in dem Augenblick, als er erfährt, dass die Blume nicht für sie selbst bestimmt ist, sondern dem Vater zu dessen Geburtstag dargebracht werden soll, ändert Milon seine Meinung und pflückt selbst die Blume. Angesichts des heutigen Festes würde er sich wünschen, dass die Blume noch schöner wäre.

Nebenbei drückt sich in dieser kurzen Handlung ein bemerkenswertes Detail historischer GeschlechterstereotypieGeschlechterstereotype aus. Während die Schwester zunächst diejenige, ist, die souverän die diskursiven Ansprüche und Verbote ihres Bruders kontert und sich sogar mit Spott darüber hinwegsetzen will, ist es der Bruder, der Idee und Absicht der Schwester kapert und zu seiner eigenen Sache macht. Verbot er ihr zunächst die Blume zu pflücken, so pflückt er sie nun selbst. Und wollte die Schwester ursprünglich die Blume dem Vater zu dessen Geburtstag schenken, so nimmt sie nun der Bruder, um sie dem Vater zu „weyhn“ (S. 157) und damit die schwesterliche Bescheidenheit der Verehrung im Akt der Weihe zu überbieten. Dorilis hält ihren Bruder, der sogleich zum Vater will, noch zurück, sie wollen auf Daphnis warten. Die Schwester kennt den Grund, weshalb sich Daphnis verspätet und gerade, als sie das Milon erklären will, tritt Daphnis im zweiten Auftritt auf. Seine Stimmung ist traurig, steht also in vollkommenem Kontrast zur Stimmung der beiden anderen Geschwister und auch zur erwarteten Stimmung des Festereignisses. Daphnis muss eingestehen, dass ihm eine Geburtstagsüberraschung für den Vater misslungen ist. Er hatte Lykas beauftragt, ein Gedicht auf diesen Tag zu verfassen, vielleicht auch ein Lied zu komponieren, wenn man die Wörter „Haberrohr“ (S. 155), „Loblied“ (S. 155) und „anzutönen“ (S. 155) tatsächlich wörtlich nimmt. Doch Lykas hatte das abgelehnt, er könne einen solch bescheidenen und tugendhaften Mann wie den Vater der Kinder nicht mit seiner kümmerlichen Kunst ehren. Milon entscheidet für die geschwisterliche Gruppe, was zu tun ist, er weist jegliche Verantwortung der Geschwister für diese Panne zurück und fordert alle auf, nun gemeinsam zum Vater zu gehen. Daphnis und Dorilis zittern vor lauter Anspannung.

Der dritte und letzte Auftritt besteht nur aus acht Zeilen, aber alle drei Geschwister sprechen abwechselnd. Milon nähert sich als erster dem Vater, was darauf hindeutet, dass er innerhalb des Geschwisterverbands der Älteste ist. Dieser Auftritt, wie die Kinder vor den auf der Bühne nicht präsenten Vater treten, ruft sofort das Bild einer herrschaftlichen Audienz auf, die monastische Leerstelle muss im bürgerlichenbürgerlich Patriachat nicht personal besetzt sein, um restriktiv und repressiv zu wirken, die Internalisierung des väterlichen Gebots hat längst stattgefunden.

Dieses historische Beispiel von GebrauchslyrikGebrauchslyrik, das Lykas verweigerte, liefern die drei Kinder nun selbst in den Schlussversen. Die Blume wird dem Vater in Ehrfurcht überreicht als ein SymbolSymbol des Dankes und der Unterwerfung, die durchaus auch angstbesetzt ist. Denn Ehrfurcht vereint Ehre und Furcht. Die Analogie, wie sie Daphnis betont, liegt darin, dass die Kinder auch ihr gesamtes späteres Leben als Ausdruck der Ehrfurcht gegenüber ihrem Vater verstanden wissen und nur ihm zu Gefallen („Vergnügen“, S. 160) es führen wollen. Damit spiegelt das Gedicht bürgerliche Erziehung wider. Einmal „belohnt“ (S. 160) die Blume die Kinder selbst, wenn sie dem Vater „Vergnügen“ (S. 160) bereitet. Zum anderen wird auch das gesamte Leben der Kinder als ein „Lohn“ (S. 160) verstanden, der dem Vater entrichtet wird. Die Kinder werden in einer Währung entlohnt, die in der Anerkennung durch den Vater besteht. Väterliche Liebe ist das begehrte Zahlungsmittel.

Auch wenn WagnerWagner, Heinrich Leopold, oberflächlich betrachtet, mit der KinderpastoraleKinderpastorale ein unbedeutendes Literaturgenre beliefert haben mag, so wird doch in der TiefenskripturTiefenskriptur deutlich, dass die Harmlosigkeit eines Textes und die Leichtigkeit seiner Reime nichts darüber aussagen, was in der Tiefe unausgesprochen als Zeitkritik ruht.

Die Kinderpastorale muss extrinsisch im Kontext der aufgeklärtenAufklärung Kinder- und Jugendliteratur gesehen werden. Dabei kommt den Vätern im Prozess von Enkulturation und Sozialisation die zentrale Rolle zu, diese „findet ihren Ausdruck in der Hochschätzung, mit der in den Texten die Bezeichnungen ‚Vater‘ und ‚väterlich‘ gebraucht werden.“14 Der Vater verkörpert und repräsentiert für die Kinder wie auch für die Familie insgesamt jene „zivilisierten Standards, die sie in ihrem Sozialisationsprozeß einüben sollen; in ihm sind diese Standards personifiziert“15. Die propagierte Liebe zur TugendTugend wird durch ihn verkörpert und appelliert an die Kinder, in der Regel die Söhne, „sich selbst den Geboten der Sittlichkeit gemäß zu verhalten“, was wiederum die Grundlage der Liebe der Kinder zum Vater darstellt; „Liebe zur Tugend und Liebe zum Vater gehen in eins“.16 Dieser Prozess hat zur Folge, „daß die Über-Ich-Instanz, deren Stellung im psychischen Apparat des Einzelnen infolge des familialen Wandels eine wesentliche Stabilisierung und Verstärkung erfährt […], maßgeblich väterlich bestimmt ist.“17 Zu den wichtigen Autoren dieser väterlichen Kinder-Literatur gehören unter anderem Christian Felix WeißeWeiße, Christian Felix (1726–1804), der ab 1775 in Leipzig das Wochenblatt Der KinderfreundDer Kinderfreund herausgab, und Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich (1746–1818).

Die Opposition zwischen aristokratischem Privatunterricht durch einen Hofmeister und öffentlichem, bürgerlichenbürgerlich Schulunterricht hat der Dichter Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) in seinem Drama Der Hofmeister oder Vorteile der PrivaterziehungDer Hofmeister (1774) dargestellt, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von WagnersWagner, Heinrich Leopold KinderpastoraleKinderpastorale, eventuell sogar schon bei deren Entstehung, also bereits gedruckt vorlag.

Der Kompositionstyp der PastoralePastorale hat in der Geschichte der sakralen und profanen Musik seinen festen Platz und eine erstaunlich lange Tradition.18 Die antikenAntike Muster der Hirtendichtungen eines TheokritTheokrit, eines VergilVergil und eines OvidOvid werden in den Bucolica der RenaissanceRenaissance fortgeführt. BoccacciosBoccaccio, Giovanni und SannazarosSannazaro, Jacopo Dichtungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert erfahren öfters Kompositionen. Den Pastor fidoPastor fido (1590) von GuariniGuarini, Battista, der über 125-mal vertont wurde, nennt der frühbarockeBarock Theoretiker Christian Friedrich HunoldHunold, Christian Friedrich (Pseudonym Menantes) in seiner Allerneuesten Art, / Zur / Reinen und Galanten / Poesie / zu gelangen […]Allerneueste Art, / Zur / Reinen und Galanten / Poesie / zu gelangen (Hamburg 1722) die Quelle aller Opern. Einen entscheidenden Anstoß erfährt die dramatisierte Pastorale durch Torquato TassosTasso, Torquato fünfaktiges Hirtenspiel AmintaAminta (Uraufführung 1573, gedruckt 1780). Bei PraetoriusPraetorius, Michael finden sich 1619 Pastoralkompositionen. Zahlreiche Opern mit pastoralen Stoffen und Motiven sind überliefert. GluckGluck, Christoph Willibald (Il re pastoreIl re pastore, 1756) und MozartMozart, Wolfgang Amadeus (Il re pastoreIl re pastore, 1775) komponierten italienische Pastorali, sowie TelemannTelemann, Georg Philipp, HasseHasse, Johann Adolf, JommelliJommelli, Niccolò, Carl Philipp Emanuel BachBach, Carl Philipp Emanuel und HaydnHaydn, Joseph. In Frankreich erfreut sich die Pastoraloper bis zur Revolution großer Beliebtheit. Danach verlieren die Schäferdichtungen und Schäferkompositionen vollkommen ihre Bedeutung, gelten sie doch nun als Inbegriff der dekadenten KulturKultur des Ancien Régimes. In Deutschland komponierte J.H. ScheinSchein, Johann Hermann pastorale Lieder (WaldliederleinWaldliederlein, 1621, und Hirtenlust, 1624). Die Gedichte Des Daphnis aus Cimbrien GalatheeDes Daphnis aus Cimbrien Galathee (Hamburg 1642) und Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene FlorabellaDes Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella (Hamburg 1666) von Johann RistRist, Johann beinhalten entsprechende Liedeinlagen. StielerStieler, Kaspar von, ZesenZesen, Philipp von, HarsdörfferHarsdörffer, Georg Philipp, Sigmund von BirkenBirken, Sigmund von und Johann KlajKlaj, Johann sind hier weiter als Beiträger zur Gattung zu nennen. Mit GeßnersGeßner, Salomon IdyllenIdyllen (Geßner) (1756) zieht in die PastoraldichtungPastorale ein wenig codierter empfindsamerEmpfindsamkeit und erotischer Subtext mit ein. Erst in GoethesGoethe, Johann Wolfgang Schäferspiel Die Laune des VerliebtenDie Laune des Verliebten (1768, gedruckt 1806) verliert sich diese historische Spur. Um 1800 wird die bereits epigonal gewordene Schäferdichtung endgültig verabschiedet.

In der geistlichen MusikMusik, vor allem in der Weihnachtsmusik, finden sich pastorale Reminiszensen in den Hirtenkompositionen wieder. Hierfür stehen SchützSchütz, Heinrich und BachBach, Johann Sebastian mit ihren Weihnachtsoratorien und Abbé VoglerVogler, Abbé Georg Joseph mit seinen Messen. Ludwig van BeethovenBeethoven, Ludwig van nennt seine Symphonie Nr. 6 in F-Dur (op. 68, Uraufführung 1808) die ‚Pastorale‘. In der Gegenwart ist der 1945 geborenen Waliser Robert JonesJones, Robert zu nennen, der zahlreiche Orgelwerke und Messen komponiert hat. Aber seine PastoralmessePastoralmesse aus dem Jahr 2016, die sich in Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus, Agnus Dei gliedert, erfreut sich großer Beliebtheit, da diese Missa pastoralis gemeinhin als melodiös, rhythmisch und liedhaft gilt.

Eine spezielle Kinderpastorale ist in der MusikMusikgeschichte- und LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte bisher allerdings nicht bekannt. Lediglich der italienische Jesuitenpater und Dichter Giovanni GranelliGranelli, Giovanni (1703–1770) kann hier genannt werden. Seine dreiaktige sogenannte Kinderpastorale heißt im Original L’ Educazione. Azione Pastorale per la picciola famiglia della Duchessa di CassanoL’ Educazione(1767) und wurde, soweit wir sehen, nicht übersetzt.19 Nun soll Heinrich Leopold WagnerWagner, Heinrich Leopold des Italienischen kundig gewesen sein, das behauptet zumindest Erich SchmidtSchmidt, Erich unter Hinweis darauf, dass Wagner in seiner Zeit als Hofmeister bei der Familie von GünderrodeGünderrode, Familie von in Saarbrücken deren Bibliothek nutzen durfte und englische und italienische Studien trieb.20 Ist er dabei möglicherweise auf GranelliGranelli, Giovannis Stück gestoßen und hat sich zu seiner KinderpastoraleKinderpastorale anregen lassen?

Im Titel nennt Wagners Kinderpastorale den richtigen Zeitpunkt, wann diese Schäferdichtung aufzuführen sei, nämlich „am Geburtstag eines rechtschaffenen Vaters“, was prinzipiell auf jeden Geburtstag eines Vaters zutreffen kann, sofern er rechtschaffen ist, es muss also nicht ein bestimmter Vater wie etwa der Saarbrücker Präsident von Günderrode gemeint sein. Das religiöse Verständnis von Rechtschaffenheit leitet sich aus der jüdisch-christlichen Tradition her. Ein rechtschaffenes Leben zu führen und rechtschaffen zu handeln gewährt nach dem Buch der Sprüche Salomos (Spr 10ff.) ein langes Leben, bewahrt vor einem vorzeitigen Tod und erleichtert generell das Leben.21 Rechtschaffenheit kann sogar einen sozialen Kollektivwert darstellen. Der Frevler ist das Gegenteil eines Rechtschaffenen. Nach ZedlerZedler, Johann Heinrichs Universal-LexikonGrosses vollständiges Universal-LexikonUniversal-Lexikon (1741) bedeutet „rechtschaffen“ auch wahr und wahrhaftig. Ein rechtschaffener Christ, so Zedlers Beispiel, ist ein wahrer Christ und dient der ethischen Charakterisierung von Gesinnung und Handlung eines Menschen. Ein rechtschaffener Vater ist demnach ein wahrer Vater, also ein Vater, wie er sein sollte und dem zeitgenössischen Ideal entspricht, eben ein „rechtschaffenes Wesen in Worten und Wercken […]; er muß in der Wahrheit also seyn, wie er sich äusserlich anstellet“22. Die Idealtypisierung der Menschen, wie sie sich in der zeitgenössischen Literatur und auch in der Kinderpastorale wiederfindet, nimmt bemerkenswerterweise auch ein Beitrag aus dem BürgerfreundDer Bürgerfreund zum Anlass seiner Kritik, der ein Jahr vor Wagners Kinderdramolett unter der Überschrift Vom Lesen der RomanenVom Lesen der Romanen erschienen ist.

„Eine der schädlichsten Wirkungen der Romanen ist, daß sie uns das wahre Maaß zur Beurtheilung der Menschen, aus den Augen rücken. Indem sie uns lauter Muster von Standhaftigkeit, von Muth, Treue, Verläugnung, Aufopferung – darstellen, so machen uns diese Bücher zu bekannt mit der Vorstellung einer Vollkommenheit, davon wir in der Welt so wenig Beyspiele antreffen. Sie füllen uns den Kopf mit Idealen an, verrücken uns den Gesichtspunkt, aus welchem wir die Dinge betrachten sollen, und schaffen um uns herum eine ganz andere Welt als die wirkliche ist. Wenn wir nun aus diesem süßen Traume, durch unangenehme Vorfälle, durch Disharmonie unseres Selbsts, mit der Gesellschaft, erweckt werden; wann uns die eingebildeten Vollkommenheiten entschlüpfen: so werden wir unzufrieden, misvergnügt, und sehen uns als den unglücklichen Gegenstand eines hartverfolgenden Schicksals an. Daher kommt es, daß uns so selten der wirkliche Genuß befriedigt, weil er unserm Ideal nicht entspricht. Wie reizend, und doch wie gefährlich, in mehr als einem Verstande gefährlich, ist nicht eine blühende Einbildungskraft! Daher entsteht so oft Muthlosigkeit, Melankolie, Sättigung, Ekel; daher so manche unglückliche Ehen, weil keines von den Eheleuten so ist, wie sich es das andere vorgestellt, und man in diesem vertrauten Umgange das nicht findet, was man, nach Anleitung der Komödie, der Oper, oder des Romans, zu finden glaubte. Hat man jemals kaltes Blut, und mit der Natur der Dinge übereinstimmende Begriffe nöthig, so ist es beym Freyen. Und wenn hat man sie wohl weniger? – Wenn sich jedermann ächte, unüberspannte Ideen von dem Menschen, und den Zufällen die ihn betreffen, machte, so würde man sich nicht dem Zorn, der Wuth, dem Unwillen, der Melankolie, der Verzweiflung, der närrischen ausschweifenden Liebe – überlassen; eine freudige Gelassenheit würde die Stelle der LeidenschaftenLeidenschaften einnehmen; Unglücksfälle, die man sich oft als möglich vorgestellet, würden weniger drücken; der Verlust der Güter, der Freunde – weniger darnieder schlagen und muthlos machen; Biegsamkeit, Nachgiebigkeit, Gefälligkeit, Ueberlegung und überdachte Mildthätigkeit würde den Menschen beleben; eine gewisse Gleichmüthigkeit würde die Triebfeder seiner Handlungen seyn; den Ehestand zu einem beglückten Umgang, und das goldene Zeitalter, das leyder bisher immer nur noch in den Schriften der Dichter existirt zu haben scheint, unter uns aufblühen machen: gerade deswegen, weil wir es in der Welt und in uns, und nicht in zauberischen Feen-Mährchen suchten.“23

WagnersWagner, Heinrich Leopold ‚versteckte‘ Dedikation im Untertitel der KinderpastoraleKinderpastorale mit dem Wortlaut „aufzuführen am Geburtstag eines rechtschaffenen Vaters“ adressiert also das gesamte Stück an einen idealtypischen, nämlich rechtschaffenen Vater, einen Vater, wie er sein sollte. Auch das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen MundartGrammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von AdelungAdelung, Johann Christoph betont diese Wortbedeutung von Rechtschaffenheit. Dort wird neben der Nennung des rechtschaffenen Glaubens und des rechtschaffenen Sohns auch auf den Begriff der rechtschaffenen TugendTugend verwiesen. Weiter heißt es: „In engerer Bedeutung ist rechtschaffen, Neigung und Fertigkeit besitzend, das zu thun was recht ist, bloß weil es recht ist, und in dieser Neigung gegründet“24. Damit ist das Wort in den bürgerlichenbürgerlich TugenddiskursTugenddiskurs der Zeit implementiert. Das schlägt sich etwa im Titel der Ratgeber- und Erziehungsliteratur nieder, denen am Anfang des Jahrhunderts wie am Ende die Rechtschaffenheit als ethischer Fixpunkt dient, der durch eine aufrichtige christliche Erziehung zu erreichen und zu sichern ist, wie etwa in Der getreue Hoffmeister adelicher und [!] bürgerlicher JugendDer getreue Hoffmeister adelicher und bürgerlicher Jugend / oder Aufrichtige Anleitung wie so wol ein junger von Adel als anderer / der von guter Extraction, soll rechtschaffen aufferzogen werden / er auch seine Conduite selbst einrichten und führen müsse […] (Leipzig 1703) von August BohseBohse, August und Der durch die Wissenschaften zur Rechtschaffenheit gebildete Jüngling: Eine Rede […]Der durch die Wissenschaften zur Rechtschaffenheit gebildete Jüngling von Karl Joseph BattistaBattista, Karl Joseph (Prag 1781), deren Thema bereits in Schulprogrammen zuvor distribuiert worden war, wie beispielsweise in der Rede von der Beförderung der Rechtschaffenheit als dem Hauptzweck alles Unterrichts in Gymnasien und gelehrten SchulenRede von der Beförderung der Rechtschaffenheit, bey der Einführung der neuen Lehrer des Altonaischen Gymnasii […] (Altona 1771) von Georg Ludwig AhlemannAhlemann, Georg Ludwig. Auch die anonym erschienenen Beyspiele daß Tugend und Rechtschaffenheit das sicherste Mittel zur menschlichen Glückseligkeit sey gezeiget in den Begebenheiten verschiedener FreundeBeyspiele daß Tugend und Rechtschaffenheit das sicherste Mittel zur menschlichen Glückseligkeit sey (Frankfurt, Leipzig 1772) gehören in die Reihe dieser didaktisch-literarischen Texte. Auch in manchen zeitgenössischen Dramen taucht im Titel der Begriff der Rechtschaffenheit in Verbindung mit TugendTugend auf, und 1795 erscheint in Wien anonym ein Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung ächter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung, an ihre ZeitgenossenManifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung ächter Freunde. Dem Begriff der Rechtschaffenheit gelingt seit der ReformationReformation in der frühbürgerlichen und bürgerlichen Gesellschaftbürgerliche Gesellschaft eine unvergleichliche begriffsgeschichtliche Karriere, dessen sozio- und psychohistorische InskripturenInskriptur und Kongruenzen von religiöser Pflicht, gesellschaftlicher Erwartung und juristischem Selbstbild noch längst nicht ausgeleuchtet sind. Möglicherweise hat sich WagnerWagner, Heinrich Leopold von den Dramatischen KinderspielenDramatische Kinderspiele anregen lassen, die sind zwar anonym erschienen, aber schon in einer der ersten Rezensionen von 1769 wurde der aus Colmar stammende Schriftsteller und Pädagoge Gottlieb Konrad PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad (1736–1809) als Verfasser vermutet. Pfeffel hatte 1760 in Colmar eine Lesegesellschaftliteraturhistorischkulturhistorisch25 gegründet, die bis 1820 bestand, und 1773 eine École militaire, ebenfalls in Colmar, für die Söhne lutherischer oder reformierter Aristokraten.26 In der ‚Deutschen Gesellschaft‘ in Straßburg, die bis zu seiner Abreise im März 1776 von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold geleitet wurde, las auch WagnerWagner, Heinrich Leopold seine KindermörderinDie Kindermörderin vor.27 Auf den Unterschied zwischen den Kinderschauspielen nach 1765 und dem aufgeklärtenAufklärung Schuldrama, die sich in Adressaten, Aufführungsort, GeschlechterdistinktionGeschlechterdistinktion und didaktischer Intention unterscheiden, wurde aus theatergeschichtlicherTheatergeschichte Perspektive aufmerksam gemacht.28 Die Dramatischen KinderspieleDramatische Kinderspielemüssen als ein typisches Zeitdokument in diesem Kontext der Kinderdramen der AufklärungAufklärung gesehen werden.29 An den Anfang seiner Dramatischen Kinderspiele, die von Arnaud BerquinBerquin, Arnaud (1749–1791) im selben Jahr auch ins Französische übersetzt wurden,30 setzt PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad folgendes Widmungsgedicht:

„An Doris.

Laß mich, o Doris, dem Gefühle

Und dir, ein Opfer weihn.

Die Muse dieser Kinderspiele

Muß eine Mutter seyn.

Sey stolz auf dieses Titels Ehre,

Den selbst der Wilde schätzt,

Und der noch mehr als wälsche Chöre

Des Weisen Ohr ergötzt.

Kein Reiz kann dein Geschlechte krönen,

Den er nicht noch erhöht;

Er mischt den sanften Blick der Schönen

Mit edler Majestät.

Ein Kind erregt in zarten Seelen

Der Menschheit reinste Lust,

Und schmückt, noch schöner als Juwelen,

Der Mutter weise Brust.

Wie manche Dame wird hier lachen!

Auch du, Geliebte? … nein;

Die Mutter der erlauchten Gracchen

Wird stets dein Muster seyn.

Einst gab ein fremdes Frauenzimmer

Ihr einen Staatsbesuch;

Ihr ganzer Leib war lauter Schimmer,

Und lauter Wohlgeruch.

Die Nymphe schwatzt von Putz und Kleide,

So pflegt es noch zu gehn;

Und endlich wünscht sie das Geschmeide

Der Römerinn zu sehn.

Cornelia ruft ihren Söhnen,

Und als sie sich genaht,

So sprach sie zu der eitlen Schönen:

Hier, dieses ist mein Staat!“31

Mit der angesprochenen Doris ist nicht eine konkrete historische Person adressiert, sondern die mythologische und mythopoetische Figur der Doris wird bei PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad als Repräsentantin von musterhafter Mütterlichkeit angerufen. Nach HesiodsHesiod TheogonieTheogonie ist diese „schönhaarige Doris“ (V. 241), die auch die Mutter von Doris, der „Geberin“ (V. 250), ist,32 in der griechischen Mythologie eine Okeanide (das ist eine Süßwassernymphe), Tochter des Okeanos und der Tethys. Sie ist mit Nereus verheiratet und hat 50 Kinder, die sogenannten Nereiden. Der Name Doris wird darüber hinaus auch als MetonymieMetonymie für das Meer in der Mythologie gebraucht.33 GoetheGoethe, Johann Wolfgang lässt noch in Faust IIFaust II im zweiten Akt der Klassischen Walpurgisnacht, Felsbuchten des ägäischen Meers den Nereus (V. 8346ff.), die Nereiden (V. 8043ff.) und die auf Delphinen reitenden Doriden (V. 8391ff.) auftreten, deren Vater Nereus sie „die Grazien des Meeres“ (V. 8135) nennt. Diese antworten:

„Knaben sinds die wir gerettet,

Aus der Brandung grimmem Zahn,

Sie, auf Schilf und Moos gebettet,

Aufgewärmt zum Licht heran,

Die es nun mit heißen Küssen

Treulich uns verdanken müssen;

Schau die Holden günstig an!“ (V. 8395ff.)

„Lobst du Vater unser Walten,

Gönnst uns wohl erworbene Lust,

Laß uns fest, unsterblich halten

Sie an ewiger Jugendbrust.“ (V. 8404ff.)

Zwar spricht der Verfasser PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad seine Doris mit den Worten „Auch du, Geliebte? …“34 an, doch ist das wohl eher poetische Fiktion als Ausdruck eines historischen Bezugs. Ist WagnersWagner, Heinrich Leopold Dorilis aus der KinderpastoraleKinderpastorale also möglicherweise eine Anspielung auf diese, nämlich Pfeffels Doris? Wenn in Pfeffels Gedicht der Name Cornelia angeführt wird, so öffnet dies folgenden historischen Bezug. CorneliaCornelia Africana Major (ca. 190 – ca. 100 v. Chr.) war die Tochter von Scipio Africanus maiorScipio Africanus maior und Aemilia TertiaAemilia Tertia. Die Römer verehrten sie als Inbegriff einer Matrona. Sie gilt als „Archetyp der röm.[ischen] Mutter“35 und war mit Tiberius Sempronius GracchusTiberius Sempronius Gracchus, der zwischen 177 und 163 v. Chr. römischer Konsul war und 154 v. Chr. starb, verheiratet. Aus der Ehe gingen zwölf Kinder hervor, von denen eine Tochter und zwei Söhne überlebten; die Söhne und späteren Volkstribunen Tiberius und GaiusGaius engagierten sich in Rom politisch und sind als die Gracchen bekannt. TacitusTacitus führt Cornelia in seinem Dialog über die RednerDialog über die Redner Cornelia als leuchtendes Beispiel an für den Inbegriff einer römischen Mutter, zugleich dient ihm das Beispiel CorneliaCornelia Africana Major auch zur Charakterisierung der in Erziehungsfragen besseren früheren Zeit. Zu den Merkmalen dieser GeschlechterstereotypieGeschlechterstereotype gehören unter anderem die persönliche Erziehung der Söhne durch die Mutter, das eigene Säugen, das nicht an eine Amme delegiert wird, und gewissenhafte Wahrung häuslicher Aufgaben. TacitusTacitus bilanziert diese ältere Art der Erziehung mit dem Hinweis, Cornelia und anderen beispielhaften römischen Müttern sei es auf diese Weise gelungen, dass sie die Erziehung „kontrollierten“ („praefuisse educationibus“), Cornelia habe so ihre beiden Söhne „zu führenden Politikern“ herangebildet; TacitusTacitus hebt die „strenge Disziplin“ hervor und die Ausrichtung der mütterlichen Erziehung an den „edlen Künsten“ wie Kriegsdienst, das Studium des römischen Rechts und die rhetorische Schulung, an deren Ende die umfassende Aneignung dieser Disziplinen stand.36 Der Vorbildcharakter wurde darüber hinaus auch in ihrem Umgang mit dem Verlust ihrer Kinder als Mater dolorosa gesehen und ihre Stärke als exemplum, also als ein beispielhaftes Vorbild, gewürdigt. Bei MartialMartial hingegen wird Cornelia in dessen EpigrammenEpigramm als ein positives, historisches Beispiel sexuellerSexualität Freizügigkeit angeführt.37 Ihre Vorbild- und ExemplumfunktionFunktion bewahrte sie auch in der Literatur des MittelaltersMittelalter und der Frühen NeuzeitFrühe Neuzeit, noch 1524 wird sie in der Abhandlung De institutione femininae ChristianaeDe institutione femininae Christianae als „Idealfigur der weiblichen Christin“38 präsentiert, und 1851 erscheint postum sogar ein Roman mit dem Titel Cornelia (1851) von Charlotte von KalbKalb, Charlotte von (1761–1843), der auch die von der Autorin gewünschte Dreiecksbeziehung mit SchillerSchiller, Friedrich und seiner Frau reflektiert.

In PfeffelsPfeffel, Gottlieb Konrad Gedicht nun wird eine namenlose Nymphe genannt, die Doris einen Besuch abstattet und Cornelias Schmuck zu sehen wünscht. Diese ruft ihre beiden Söhne und erklärt der Nymphe: „Hier, dieses ist mein Staat!“39 An die gleichnamige Vestalin, die 91 n. Chr. lebendig begraben wurde, da man ihr Unzucht vorwarf, dachte Pfeffel nicht, was unter anderem durch den Hinweis auf „die Mutter der erlauchten Gracchen“40 belegt ist. Allerdings wandelt PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad den historischen Gehalt etwas ab, denn bei Valerius MaximusValerius Maximus ist diese Geschichte folgendermaßen überliefert: „Als der Cornelia, der Mutter der Gracchen, eine kampanische Frau, die bei ihr zu Besuch war, ihre Schmuckstücke – die schönsten jener Zeit – zeigte, unterhielt sich Cornelia so lange mit ihr, bis ihre Kinder aus der Schule nach Hause kamen, und sagte: ‚Dies sind meine Schmuckstücke.‘“41

Nach dem Widmungsgedicht An Doris folgt die eigentliche Vorrede des Verfassers, die den Hinweis enthält, wer ein Kinderspiel schreiben wolle, müsse vor allem die kindlichen Akteure und weniger die Zuschauer vor Augen haben, denn „diese will er unter dem Scheine der Ergötzung lehren und bessern: Er muß also aus der Sittlichkeit sein Hauptwerk machen, und die zarten Gemüther mit dem gefährlichen Bilde des ungestraften Lasters verschonen.“42 Goethe wird später in den Xenien gegen die ‚Schriften für Damen und Kinder‘ polemisieren:

„Immer für Weiber und Kinder! Ich dächte man schriebe für Männer,

Und überließe dem Mann Sorge für Frau und für Kind!“43

Bemerkenswert ist sowohl an PfeffelsPfeffel, Gottlieb Konrad und WagnersWagner, Heinrich Leopold Ernsthaftigkeit und der Ablehnung GoethesGoethe, Johann Wolfgang, dass sowohl die patriarchale, lyrische Polemik als auch die aufgeklärteAufklärung KinderliteraturKinderliteratur dieselben systemstabilisierenden Effekte erzielen. Beide DiskursformenDiskurs nostrifizieren die Einschreibung des GeschlechterstereotypsGeschlechterstereotype in das bürgerlichebürgerlich Familienmuster, 1769 ebenso wie 1797, als die gemeinsam mit SchillerSchiller, Friedrich verfassten XenienXenien erstmals erschienen sind.

Die Dramatischen KinderspieleDramatische Kinderspiele wurden in der Deutschen Bibliothek der schönen WissenschaftenDeutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften 1769 besprochen. Der Rezensent liest sie als „einen neuen so vortreflichen Beytrag zur Erziehung“ und stellt sie in eine Reihe mit RousseausRousseau, Jean-Jacques Erziehungsroman Émile oder Über die ErziehungÉmile oder Über die Erziehung (1762), er lobt die „Meisterhand“ des Verfassers und fragt: „Sollte ich mich irren, wenn ich Hrn. Pfeffel muthmaßlich für den Verfasser hielt?“44 Damit war die Zuschreibung des anonymen Textes in der res publica litteraria ein Faktum. Allerdings stellt der Rezensent am Ende die Frage, ob nicht die Darstellung gesellschaftlicher TugendenTugend anstelle von Heldentugenden im Sinne von Beispielreferenzen für Kinder pädagogisch wertvoller seien. Als Medium der Darstellung sollte demzufolge nicht die Textform einer TragödieTragödie, sondern vielmehr das rührende Lustspielrührendes Lustspiel gewählt werden. Zehn Jahre später findet sich nochmals ein Hinweis auf die Verfasserschaft PfeffelsPfeffel, Gottlieb Konrad im Taschenbuch für Schauspieler und SchauspielliebhaberTaschenbuch für Schauspieler und Schauspielliebhaber, wo die Dramatischen KinderspieleDramatische Kinderspiele in seiner Werkübersicht aufgeführt sind.45 Mit WagnersWagner, Heinrich Leopold KinderpastoraleKinderpastorale kann ein Text wiederentdeckt werden, der den Nachweis erbringt, dass auch die vermeintlich kleine Literaturkleine Literatur die großen Themen der Zeit widerspiegelt und nicht zwischen der Zweckbindung als GebrauchslyrikGebrauchslyrik und dem pathetischen Utopieentwurf einer Schäferwelt zerrieben wird.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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