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Lenz Pandämonium Germanikum (1775)

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Von der Satire Pandämonium Germanikum des Dichters Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold gibt es zwei Autorhandschriften und eine komplette Abschrift. Dennoch herrschte in der Lenz-Forschung lange Zeit ein Durcheinander, wenn es darum ging, sich editionsphilologischeEditionsphilologie Klarheit über dieses Stück zu verschaffen. Es scheint nicht nur ein philologischesPhilologie Problem zu sein, mit dem Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum umzugehen, es ist auch eine interpretatorische und generell eine literarhistorische Schwierigkeit.

Um kurz zu bilanzieren, wie sich die Lage oder besser die editorische Misslage darstellt: Nach vorsichtiger Schätzung gibt es nahezu 20 verschiedene Ausgaben dieses Lenz-Textes, die sich in zwei Fraktionen teilen lassen. Die einen drucken das Pandämonium Germanikum nach der älteren Handschrift, die anderen nach der jüngeren. Über die einzelnen editorischen Beweggründe und die Beweggründe einzelner Editoren soll hier nicht gemutmaßt werden. Die ältere handschriftliche Fassung (H1) ist diejenige Handschrift, die in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (SPK) aufbewahrt wird. Die jüngere Fassung (H2) ist diejenige Handschrift, die in der Biblioteka Jagiellońska in Kraków liegt. Eine Abschrift des Pandämonium Germanikum befindet sich in der Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik.1 Diese Abschrift ist vollständig, es handelt sich weder um das Fragment einer Abschrift noch gar um das Fragment einer dritten Handschrift des Pandämonium Germanikum. Eine kritische Edition beider Autorhandschriften liegt seit 1993 vor.2

Die Ausgaben von Blei (1910), Freye (ca. 1910), Lewy (1917), Kindermann (1935), Titel/Haug (1967), Daunicht (1970), Richter (1980) und Damm (1987) drucken den Text nach der älteren Handschrift. Die Ausgaben von Dumpf (1819), Schmidt (1896), Sauer (ca. 1890), Stellmacher (1976), Unglaub (1988), Lauer (1992) und Voit (1992) geben den Text nach der jüngeren Handschrift wieder.3 Erich Schmidt gab 1896 das PandämoniumPandämonium Germanikum erstmals in einer Edition heraus, die von Emendationen nahezu frei war, nachdem sich zuvor Dumpf (1819), Tieck (1828) und Sauer (ca. 1890) daran versucht hatten. Allerdings entschied sich Schmidt für den Abdruck der jüngeren Handschrift, statt H1 druckt er H2. Er greift gelegentlich in Interpunktion und Orthografie der Handschrift ein, geringfügige Lesefehler sind im Variantenverzeichnis zu H1, das er im Fußnotenapparat anführt, auszumachen. Franz Blei (1910) kompiliert in seiner fünfbändigen LenzLenz, Jakob Michael Reinhold-Ausgabe die beiden handschriftlichen Fassungen des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum, unterliegt dabei aber einem gravierenden Irrtum. Im Kommentar zur Druckvorlage schreibt BleiBlei, Franz: „Die Stellen, welche nur die ältere Fassung des Pandämonium enthält[,] sind in unserem Druck in eckige Klammern gesetzt“4. Tatsächlich druckt Blei aber in eckigen Klammern in seiner Ausgabe Varianten nach H2, der jüngeren Handschrift. Darüber hinaus ist die Wiedergabe von H1, der älteren Handschrift, gezeichnet von Lesefehlern und orthografischen Modernisierungsversuchen. Die Verdienste von Blei sollen keinesfalls geschmälert werden, doch hatte seine Edition des Pandämonium Germanikum zur Folge, dass einige Editoren nach ihm seine kodikologische Altersangabe unbefragt übernahmen. Erst Titel und Haug (1967) und in deren Folge Damm (1987) druckten die tatsächlich ältere Handschrift, allerdings unterlaufen auch ihnen zahlreiche Transkriptionsfehler. Als Beispiele mögen die folgenden beiden Verlesungen genügen: (1.) In I/2 transkribieren Titel/Haug: „ERSTER: […]. Ich will mich auf jenen Stein stellen dort gegen mich über.“5 Richtig müsste es nach H1 heißen: „Ich will mich auf jenen Stein stellen dort gegen ihm über[.]“. (2.) Titel/Haug lesen: „O weh! er zermalmt uns die Eingeweide, er wird einen zweiten Ätna auf uns werfen.“6 Statt: „O weh! er zermalt uns die Eingeweyde, er wird einen zweyten Aetna auf uns werfen[.]“ Die neueren Sammelausgaben der Werke von Lenz, die demzufolge auch das Pandämonium Germanikum abdrucken, haben es leider versäumt, die Handschriftenwirrnis, die so verworren eigentlich gar nicht ist, etwas zu lichten. Als Beispiele genügen die Ausgaben von Unglaub (1988) und Voit (1992). Erich Unglaub weist im Kommentar zu seiner Ausgabe den Druck von Erich SchmidtSchmidt, Erich als H1 aus, meint aber H2.7 Demzufolge druckt Unglaub selbst auch H2. Friedrich Voit (1992) erkennt zwar die schmidtsche Entscheidung, erkennt sie aber an und gibt den Text nach H2 wieder. Lange Zeit gab es also keine Ausgabe, welche die ältere Handschrift von Lenzens Pandämonium Germanikum nicht modernisiert oder nahezu fehlerfrei gedruckt hat, geschweige denn kritisch wiedergegeben hat. Die meisten Editoren geben das Titelwort Germanikum stets mit ‚c‘ anstatt mit ‚k‘ wieder. Eine Autopsie der Handschriften, von zahlreichen Editoren in ihren Kommentaren zum Druck immerhin beschworen, kann leicht aufweisen, dass es hierüber keinerlei Unklarheit gibt. Germanikum wird von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold sowohl in H1 als auch in H2 mit ‚k‘ geschrieben. Die wenigsten Editoren beabsichtigten freilich eine kritische Ausgabe des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum. Meist ging es zunächst einmal darum, durch Leseausgaben den Autor selbst überhaupt erst bekannt oder bekannter zu machen. Richard Daunicht kam mit seiner Ausgabe von 1970 schon sehr nahe an eine kritische Ausgabe von H1 heran. Ein ähnlich gelagerter Fall ist auch beim Umgang mit der Schreibweise von Friedrich SchillersSchiller, Friedrich Drama Don KarlosDon Karlos. Infant von Spanien zu beobachten. 1787 erschien die erste vollständige Ausgabe, 1805 die letzte Fassung. Und Schiller schreibt fast durchgängig Don Karlos. Erst die Orthografie des 19. Jahrhunderts macht daraus Don Carlos. Das portugiesische Dom taucht bei Schiller neben dem spanischen Don auf, erst mit dem Druck der Ausgabe von 1801 ringt sich Schiller nach einem Hinweis von WielandWieland, Christoph Martin zu der einheitlichen Schreibweise Don durch.

„Meinen […] Freunden ein Rätsel“ (Lenz: WuBr, Bd. 2, S. 323f.). Diesen resignierenden Satz schrieb Lenz am 28. August 1775 an Herder. Will man dieses Rätsel LenzLenz, Jakob Michael Reinhold ein wenig auflösen, muss man den Signifikanzen des Textes größte Beachtung schenken. In der ersten Szene des ersten Akts, die im Folgenden ausschließlich interpretiert werden soll, heißt es in einer Regieanweisung des Autors: „Lenz versucht zu stehen“ (S. 10).8 Die Eingangsszene des ersten Aktes kann insgesamt als Lenzens Versuch verstanden werden, sich über sich selbst und über sein Verhältnis zu GoetheGoethe, Johann Wolfgang zu orientieren. Darauf weist schon die parallele Struktur der beiden Redeanteile von Lenz-Figur und Goethe-Figur im Text hin. Goethe eröffnet die Szene mit einer Frage, die allein schon Lenz überfordert, er kann sie nicht beantworten. Beide wissen nicht, wo sie sich befinden. Diese Orientierungslosigkeit wird mit der Angabe „Der steil’ Berg“ (S. 10) deutlich hervorgehoben. Goethe hat also zunächst Lenz nichts voraus. Mit der Unterstreichung des subjektiven Willensentschlusses als der rhetorischen Duplikation einer topischen Sturm-und-Drang-GebärdeSturm und Drang („Ich will hinauf“, S. 10) wird aber bereits die Differenz deutlich. Es bleibt nicht bei dem sprachlichen Entschluss, die Tat folgt unmittelbar, „Goethe […] verschwindt“ (S. 10). Dem Verschwinden Goethes im „Gebirg“ ist diese Differenz vorgängig. Lenz stellt nun eine Frage („wo willt du hin“, S. 10) und GoetheGoethe, Johann Wolfgang antwortet nicht; Lenz möchte verweilen und „Goethe geht“ (S. 10); LenzLenz, Jakob Michael Reinhold möchte „erzehlen“ (S. 10) und Goethe möchte verschwinden. Das Sprechen des Freundes erreicht Goethe nicht mehr. In dieser Situation der Orientierungslosigkeit lässt der Freund den Freund allein zurück, er erwartet Antworten, antwortet selbst aber nicht.

In dem sich nun anschließenden Monolog von Lenz bricht die Differenz vollends auf. Nur dem abwesenden Freund, nur im Sprechen mit sich selbst, kann Lenz mitteilen, was ihm Bedürfnis ist. „Hätt’ ihn gern, kennen lernen“ (S. 10), sagt er. Danach kennt Lenz Goethe nicht wirklich, der Traum – denn um einen solchen handelt es sich ja bei diesem Stück, wenn man die Regieanweisung des Schlusssatzes des letzten Akts zur Deutung heranzieht – imaginiert die Identitätslosigkeit Goethes. Neben die Desorientierung tritt die ausgelöschte Identität des Freunds. Was Lenz zu Lebzeiten droht und was sich schließlich in dessen Biografie realisieren wird, nämlich das Ausgelöschtwerden aus dem Gedächtnis des Freunds, nimmt der Autor hier vorweg, die drohende Verwirrung des späteren Lebenswegs ahnend. Darauf verweist das Requisit dieser Szene, Lenz erscheint „im Reis’kleid“ (S. 10). Natürlich kennt der Träumende wie die Lenz-Figur selbst Goethes Identität.

Misst man den Präfixen herauf und hinauf Bedeutung zu, so lässt sich schon an dieser Stelle eine subtile Veränderung zwischen H1 und H2 erkennen. In H1 spricht Lenz: „Wenn er hinaufkommt“ (S. 10), in H2 heißt es: „Wenn er heraufkommt“ (S. 11). Die Bedeutung des Unterschieds beider Terme liegt in der Gewichtung des Standpunkts. Wenn Goethe hinaufkommt, bedeutet dies, dass Lenz unten steht; wenn Goethe heraufkommt, setzt dies voraus, dass Lenz bereits oben ist. Dem Einwand, dass es sich hier um ein Alogon handelt, wenn man die tatsächliche Situation der beiden Figuren berücksichtigt, sei damit begegnet, dass ein Traum auch jenseits einer psychoanalytischen Lesart nur selten logisch strukturiert ist.9 Scheint also der Träumende in H1 noch durchaus bereit zu sein, dem Freund den Vorsprung zuzugestehen, wird dies in H2 rückgängig gemacht. Auch der Trost, den Lenz sich selbst spendet („Ich denk’ er wird mir winken wenn er auf jenen Felsen kommt“, S. 10), wird in H2 getilgt. Lenz bedarf des Trostes nicht mehr, er weiß und der Traum realisiert es ihm, dass Goethe nicht winken wird. Die Geste der Verbundenheit ist ersatzlos gestrichen. Stattdessen erklärt er die Begegnung mit Goethe zum Phantasma. Der Träumende zensiert im Traum noch die Realität, die Wirklichkeit der Differenz.

Das Traumbild der Desorientierung und der drohenden Auslöschung verdichtet sich in der nun folgenden Regieanweisung noch weiter, der steile Berg ist „ganz mit Busch überwachsen“ (S. 10). Der Boden ist demnach kaum mehr oder nur schwer auszumachen, die Wirklichkeit – als deren Sinnbild der Boden gelesen werden kann – droht Lenz verloren zu gehen. Diese Textanmerkung bezieht sich nur auf Lenz, GoetheGoethe, Johann Wolfgang hingegen ist auf einer „andere[n] Seite des Berges“ (S. 10). LenzLenz, Jakob Michael Reinhold wählt also nicht denselben Weg wie Goethe. Das bedeutet, Goethe macht aus seinem Wissen, wie man am leichtesten auf den Berg gelangt, welcher Weg kommod und welcher gefährlich ist, ein Herrschaftswissen. Lenz erkämpft sich den Zugang zum Gipfel des Bergs selbst. Der Tribut, den er dafür zollen muss, ist hoch. Er regrediert auf eine frühkindliche Phase seiner psychischen Entwicklung, „Lenz kriecht auf allen Vieren.“ (S. 10) Diese Bemerkung ist nicht ironisch oder selbstironisch gemeint, wie man vorschnell einer ähnlichen Formulierung in der vierten Szene des ersten Akts entnehmen könnte. Dort antwortet Lenz, von Goethe auf den Verfall der Künste angesprochen: „Ich wünschte denn lieber mit Rousseau wir hätten gar keine und kröchen auf allen Vieren herum“ (Lenz: WuBr, Bd. 1, S. 256). Im Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum werden also der Weg zur Dichterelite, die Regression und die Traumarbeit von Lenz als „böse Arbeit“ (S. 10) bezeichnet. Und doch rastet Lenz nicht, er geht weiter seinen beschwerlichen Weg. Wieder weist er auf die Wichtigkeit von Kommunikationssituationen hin. Das Bedürfnis, mit jemandem „reden“ (S. 10) zu können, jetzt nochmals artikuliert, verweist auf seine Orientierungslosigkeit und zunehmende Isolation. Wie man später dem Autor Lenz bei seinem Aufenthalt im elsässischen Waldersbach und im badischen Emmendingen aus Furcht vor unkontrollierbaren Wahnsinnsausbrüchen Papier und Schreibzeug entzogen hat und ihm damit die Möglichkeit zur Selbsttherapie genommen war, so verweigert auch hier der beste Freund nicht nur die Hilfe, sondern darüber hinaus auch das Wort. Während Lenz noch das Solidaritätsgefühl der Straßburger Gruppensituation mit den Worten „Goethe, Goethe! wenn wir zusammenblieben wären“ (S. 10) beschwört und auch jetzt noch nicht die Realität der Trennung akzeptiert, schwelgt Goethe auf „wieder eine[r] andere[n] Seite des Berges“ (S. 10) im unmittelbaren Naturgefühl: „Lenz! Lenz! daß er da wäre – Welch herrliche Aussicht“ (S. 10). Auch diese Sequenz erfährt in H2 eine Zuspitzung, getilgt ist Goethes Wunsch nach Lenzens Gegenwart. GoetheGoethe, Johann Wolfgang bestätigt, nachdem er den Fels leichtfüßig erstiegen hat (er „springt ’nauf“, S. 10), lediglich, was er zu Beginn der Szene bereits ausgesprochen hatte, „ists doch herrlich dort […] oben“ (S. 10) und: „Welch herrliche Aussicht!“ (S. 10) Die Herrlichkeit ist in der Sichtweise Goethes die Herr-Lich(t)k/heit, also jenes Licht, das von ihm als einem Herrn über andere ausgeht. Der Aufenthalt auf dem Gipfel wird als herr-lich beschrieben und auch die Aussicht von dort. Nimmt man zur Deutung aber die vorhergehenden Textpassagen hinzu, kann das nur bedeuten, dass dieser Ort und diese Aussicht nur von dem als herrlich (im Sinne von ‚schön‘) erfahren wird, der tatsächlich herrlich (im Sinne von ‚der Herr‘) ist. Letztlich geht es um eine Ästhetisierung des Herrschaftsblicks. Der sprachliche Parallelismus beider Zitate enthält auf der Ebene der Mikrostruktur aber auch den versteckten Hinweis auf die Ursache der drohenden Differenz. Was Goethe sehen will, das sieht er – oder in die Sprache der Freundschaftsbeziehung übersetzt: Wie Goethe LenzLenz, Jakob Michael Reinhold sehen will, so sieht er ihn. Auch hier muss Lenz die Auslöschung seiner IndividualitätIndividualität gewärtigen. Das „Nachdenken“ (S. 10), das Bedenken der realen Situation von Orientierungslosigkeit, Isolation und drohender Trennung, das Denken an die Differenz verursacht Lenz physischen Schmerz („Kopfweh“, S. 10). Auch dies ist eine erschreckende Antizipation der späteren Biografie.

Am Gelenk dieser Szene steht nun jener Satz, der anagrammatischAnagrammatik gelesen werden kann und damit seine TiefenskripturTiefenskriptur freigibt. Der Wortlaut der Regieanweisung „Lenz versucht zu stehen“ (S. 10) bedeutet tatsächlich ‚Lenz sucht zu verstehen‘. Die Verlassenheit, in der sich Lenz auf dem Berg wiederfindet, hat für ihn eine existenzielle Dimension bekommen, er konnotiert Einsamkeit und Isolation mit Todessehnsucht („O so allein. Daß ich stürbe!“, S. 12). Die Differenz, die zur Trennung führt, bedeutet für Lenz den Tod. Zunächst den bürgerlichenbürgerlich Tod als den endgültigen Verlust von Individualität, dann den psychischen, schließlich den physischen Tod. Lenz betont noch einmal seine Eigenständigkeit und offenbart damit das äußerst ambivalente Verhältnis zu Goethe. Das Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum ist in diesem Sinne ein Stück der Selbstvergewisserung. Zwar wäre Lenz gerne mit Goethe zusammen auf den Berg gestiegen, die Paaridentität ist nachgerade signifikant. Doch ist der Stolz und der damit verbundene Anspruch auf die eigene Leistung an dieser Gelenkstelle der Szene überdeutlich pointiert und fast drohend an die Adresse Goethes gerichtet. „Ich sehe hier wohl Fustapfen, aber alle hinunter, keinen herauf“ (S. 12), spricht LenzLenz, Jakob Michael Reinhold. Er geht seinen Weg allein, er ist weder auf Goethes noch auf eines anderen Hilfe angewiesen. Der eigene Weg betont die Eigenständigkeit des poetischen Schaffens. Lenz hat es nicht nötig, in jemandes Fußstapfen zu treten. Er gehört nicht zu den Nachahmern Goethes, die gleich anschließend in der zweiten Szene persifliert werden, er ist nicht jener „Nachahmer“ (S. 18), als der er in I/2 diffamiert wird. Lenz steht gleichrangig neben GoetheGoethe, Johann Wolfgang. Wenn es ein Dioskurenpaar gibt, dann heißt es Lenz und Goethe.

Der einsame Ort, der nicht nur Locus amoenus der Schriftstellertopik ist, wird zum Ort der drohenden Vereinsamung. Auch in der Regieanweisung zu Beginn von Szene I/3 sitzt Lenz „an einem einsamen Ort ins Tal hinabsehend, seinen Hofmeister im Arm“ (S. 20). Die Isolation und die Differenz zu Goethe, das sich drohend abzeichnende Weimar-Trauma, inszeniert der Autor Lenz nochmals sehr deutlich in dem anschließenden Dialog der Eingangsszene. Goethe erblickt Lenz, er ist „mit einem Sprung […] bey ihm“ (S. 12). Die spontane Affektivität der Wiederbegegnung geht aber von Lenz aus. Die Frage Goethes, was Lenz denn hier mache, ist weniger Ausdruck der Freude, als vielmehr Erstaunen darüber, dass es Lenz gelungen ist, überhaupt so weit gekommen zu sein. Er beantwortet die Frage denn auch nicht, vielmehr beschwört Lenz noch einmal gestisch die Paaridentität. Er geht Goethe „entgegen“ (S. 12) und „drückt ihn ans Herz“ (S. 12). Der „Bruder Goethe“ (S. 12) aber reagiert auf die Nähe wie auf eine Bedrohung, die er sogleich abwehrt. Erst in II/5 wird er diese Anrede erwidern, indem er Lenz anspringt, ihn von hinten umarmt und ihn auch „Mein Bruder“ (S. 56) nennt. Allerdings erst, und das ist das eigentlich Dekuvrierende an dieser Textsequenz, nachdem Lenz den Segen KlopstockKlopstock, Friedrich Gottliebs erhalten hat. Jetzt, in der Eingangsszene, da sich Klopstock, die Vaterautorität der jungen Generation von Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang, noch nicht über Lenz geäußert hat, reagiert Goethe unwirsch: „Wo zum Henker bist du mir nachkommen?“ (S. 12) Lenz befindet sich auf einem Territorium, zu dem ihm kein Zugang erlaubt ist. Die nachfolgende Wechselrede zwischen Lenz und Goethe findet in I/2 eine nachträgliche Erklärung. Lenz soll, so berichtet dort einer der Nachahmer, „sich einmal verirrt haben ganzer drei Tage lang“ (S. 18). Ein Fremder fragt, wer denn der Lenz sei, darauf die Antwort: „Ein junges aufkeimendes Genie“ (S. 18). Noch führt die Verirrung nicht in die endgültige Isolation, noch ist Lenz in der Nähe Goethes und noch erfährt er den Respekt der wichtigsten Autoritäten, nämlich HerdersHerder, Johann Gottfried und Klopstocks. Analog zu dieser Sequenz in I/2 ist die Sequenz in I/1 aufgebaut. Goethe fragt, wo Lenz denn herkomme, aber LenzLenz, Jakob Michael Reinhold stellt diesmal hier die entscheidende Frage: „Wer bist du denn?“ (S. 12) Damit wird deutlich, dass das eigentliche Rätsel demnach nicht Lenz ist, sondern GoetheGoethe, Johann Wolfgang. Und Goethe ist derjenige, der die Auskunft über seine Identität verweigert („Weiß ich wo ich her bin“, S. 12). Diese Asymmetrie in der Freundschaftsbeziehung legt nun endgültig die Differenz zwischen den beiden Freunden frei. Wer sich zu erkennen gibt und sich öffnet, kann auch etwas verlieren; und wer sich verschließt, braucht den Verlust nicht zu fürchten.

Goethe infantilisiert den Freund, er nennt ihn ein „Bübgen“ (S. 12), so wird Lenz übrigens später auch von Herder tituliert (vgl. S. 54). Goethe positioniert damit die Machtanteile eindeutig nach patriarchalem Muster. Väterlich lobt er die Absicht von Lenz, nur „gut seyn“ (S. 12) zu wollen. Und dann fällt der vielsagende Satz: „Es ist mir als ob ich mich in dir bespiegelte.“ (S. 12) Das ist eine eindeutige narzisstische Figurierung, die sprachliche Inszenierung von Goethes Eigenliebe ist unübersehbar. Für ihn besteht die Funktion von Lenz lediglich darin, dass dieser ihn in seiner Selbstliebe bestärkt. Der Verfasser des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum, der Autor Lenz bringt damit die Instrumentalisierung zum Ausdruck, die er durch Goethe erfährt. Er reagiert im Traum darauf physisch, denn Lenz wird „roth“ (S. 12). Noch hat er Goethe „unter den Armen“ (S. 12), später ist es nur noch das eigene Werk, sein HofmeisterDer Hofmeister (vgl. S. 20). Und noch bedeutet Goethes Imperativ „Weiter!“ (S. 12), dass „beyde“ (S. 12) gemeinsam einer Anhöhe zugehen. Dieser Schlussdialog der Eingangsszene ist aus H2 vollständig getilgt. Der Auslöschung entgegengesetzt ist lediglich der Schlusssatz Goethes: „Bleiben wir zusammen“ (S. 13). Der Träumende legt den Wunsch mit seinem beschwörenden Unterton dem Freund in den Mund, von dem er längst ahnt, dass er auch hier die Identität des Gemeinten verwehrt.

Wie bewusst dem Autor Lenz die drohende Trennung von Goethe gewesen ist, wird in der vorletzten Szene des Stücks erkenntlich. In II/5 formuliert Goethe expressis verbis jenen Anspruch und reklamiert damit die Anerkennung für sich, die nach der Lesart des Autors Lenz selbst zusteht. Lenz lässt KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb, HerderHerder, Johann Gottfried und LessingLessing, Gotthold Ephraim unisono (!) über ihn sagen: „Der brave Junge. Leistet er nichts, so hat er doch groß geahndet“ (S. 56). Der im daktylischen Pentameter geschriebene zweite Satz spricht unmissverständlich dem Autor Lenz die größere literaturgeschichtliche Bedeutung zu. Das Autoritätstriumvirat der Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang ist die letzthin unabhängige Instanz, die das objektive Urteil über die Leistung des Dichters Lenz spricht. Goethes Einspruch hierauf wird in der pointierten Kürze vom Autor geradezu als Anmaßung herausgestellt. Der Bruch ist unabwendbar, Goethe sieht sich in der Linie einer konsequenten Fortschreibung des lenzschen Werks. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold sieht die Bedrohung, die Goethe für ihn bedeutet, während er für GoetheGoethe, Johann Wolfgang lediglich Medium der Selbstbespiegelung bleibt. Die Menge der hereinstürmenden jungen Leute, die denselben Anspruch erheben wie Goethe, potenziert die Bedrohung, die für Lenz aus dieser Situation resultiert.

Um Interferenzen und Referenzen ebenso wie die Eigenständigkeit und die Bedeutung des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum erkennen zu können, muss man den Text in den Kontext genuiner Sturm-und-Drang-LiteratursatirenLiteratursatire einlesen.10 Wie bereits die Mikroanalyse der ersten Szene gezeigt hat, handelt es sich bei diesem Stück um einen Text der Selbstvergewisserung. Im Angriff auf die etablierten Literaten beschwört Lenz nochmals die Paaridentität zwischen ihm und Goethe. Auf das sonst andernorts oft beschworene Gruppengefühl wurde längst verzichtet. Dies mag gewissermaßen der psychische Unterbau der Beweggründe gewesen sein, die Lenz zur Niederschrift des Stücks veranlasst und auch noch zur Bearbeitung (in Gestalt der zweiten Handschrift) motiviert haben. Der unmittelbare Anlass hingegen ist mit Sicherheit in einer bösartigen Anspielung Friedrich NicolaisNicolai, Friedrich zu sehen. Dieser hatte in der im Januar 1775 veröffentlichten WertherDie Leiden des jungen Werthers-Parodie Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein GesprächFreuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch in dem Teil Leiden Werthers des Mannes geschrieben:

„’s war da ein junges Kerlchen, leicht und lüftig, hatt’ allerlei gelesen, schwätzte drob kreuz und quer, und plaudert’ viel, neust’ aufgebrachtermaßen, vom ersten Wurfe, von Volksliedern, und von historischen Schauspielen, zwanzig Jährchen lang, jed’s in drei Minuten zusammengedruckt, wie ein klein Teufelchen im Pandämonium. Schimpft’ auch alleweil’ auf’n BatteuxBatteux, Charles, Werther selbst konnt’s schier nicht besser. Sonst konnte der Fratz bei hundert Ellen nicht an Werthern reichen, hatte kein’ Grütz’ im Kopf und kein Mark in’n Beinen. Sprang ums Weibsen herum, fispelte hier, faselte da, streichelte dort, gabs Pfötchen, holt’n Fächer, schenkt’ ’n Büchschen, und so gesellt’ er sich auch zu Lotten“.11

LenzLenz, Jakob Michael Reinhold kannte mit Sicherheit diesen Text von NicolaiNicolai, Friedrich, über den Boie in einem Brief an Lenz vom 11. April 1776 bemerkt: „Wider N.[icolai] jetzt auch noch was zu sagen, da die Freuden längst vergessen sind, wäre ja zu spät“ (Lenz: WuBr, Bd. 3, S. 425). GoetheGoethe, Johann Wolfgang hatte diese Art von Wertheriade kurz und prägnant „das Berliner ppp Hundezeug“12 genannt. Lenz verstand die Anspielung in Nicolais Satire, er wusste, dass er selbst mit jenem „jungen Kerlche[n]“ gemeint war, das von Nicolai auch als „Geelschnabel“ und „Lecker“ tituliert wird.13 Bereits der Titel Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum referiert auf diese Textstelle aus Nicolais Satire.14 Wenn Lenz als „ein klein Teufelchen im Pandämonium“ von Nicolai bezeichnet wird, dann impliziert dies ein hohes Maß an Diffamierungswillen. Als Teufelchen hielte sich Lenz im Bereich aller Dämonen auf, wenn man so das Pandämonium versteht. Und damit wird jegliche literarische Eigenständigkeit, Originalität und Individualität des Dichters radikal infrage gestellt.

Lenz antwortet auf diese Invektive Nicolais mit dem Titel Pandämonium Germanikum, was so viel heißen kann wie Gesamtheit aller deutschen Dämonen. Dass zu diesen Goethe und Lenz, Klopstock, Lessing und Herder nicht gehören, belegt der Text. Lenz tut Nicolai nicht einmal die Ehre an, unter der Vielzahl der zitierten Autoren namentlich genannt zu werden. Vergegenwärtigt man sich, welche Fülle von LiteratursatirenLiteratursatire, Parodien und Pamphleten in den Jahren 1773 bis 1775 erschienen ist, so wird die Abwesenheit Nicolais in Lenzens Text verständlich. Nicolais Ausfall gegenüber Lenz wird, gemessen am eigentlichen Thema des Textes, völlig nebensächlich. Die kritisch-streitlastige Atmosphäre dieser Jahre ist so satirisch und diffamatorisch aufgeladen, dass das Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum umso mehr aus dem Korpus anderer LiteratursatirenLiteratursatire heraussticht. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang, inwiefern die Literatursatiren der 1770er-Jahre die konterrevolutionären Satiren der 1790er-Jahre vorbereiten, wie beispielsweise KotzebuesKotzebue, August von Der weibliche Jakobiner-KlubDer weibliche Jakobiner-Klub, GoethesGoethe, Johann Wolfgang BürgergeneralDer Bürgergeneral, IfflandsIffland, August Wilhelm Die KokardenDie Kokarden oder SchummelsSchummel, Johann Gottlieb Die Revolution in ScheppenstedtDie Revolution in Scheppenstedt. Folgt man dem Vorschlag, die konservative Revolutionsdramatik der 1790er-Jahre im Hinblick auf ihre Thesen und WirkungsabsichtenWirkung zu typologisieren, so gelangt man zu dem triadischen Schema von Defension, Denunziation und Agitation.15 Dieses Raster scheint durchaus tauglich zu sein, die Literatursatiren der 1770er-Jahre in einem neuen Beziehungsgeflecht zu untersuchen. Dieser Untersuchungsbereich verstünde sich als Ergänzung zu der gleichfalls triadischen Klassifikation, die in erster Linie die Binnenstruktur der Texte untersucht. Danach bezieht sich die Kritik der Literatursatiren des Sturm und DrangSturm und Drang auf drei literarische Erscheinungen: „1. literarische und theoretische Besonderheiten der deutschen und der europäischen Aufklärung, 2. literarische Parallelerscheinungen zum Sturm und Drang wie Sentimentalität und Gefühlskult […] und 3. Entartungserscheinungen der eigenen Bewegung“Bourdieu, Pierre16. So lassen sich jene Kategorien von Defension, Denunziation und Agitation durchaus als Substruktur jedes einzelnen Punktes dieses Kritikmodells einlesen. Auf Nicolais WertherDie Leiden des jungen Werthers-Parodie bezogen würde dies beispielsweise bedeuten, dass NicolaiNicolai, Friedrich im defensorischen Bereich Werte, poetologischePoetologie Normen und VerhaltensstandardsVerhaltensstandard aufgeklärterAufklärung bürgerlicher Ordnungbürgerliche Ordnung verteidigt. Im denunziatorischen Bereich diffamiert er nicht nur den Prätext des Werthers, sondern auch einzelne Autoren des Sturm und Drang wie beispielsweise Lenz sowie den generellen emanzipativen Anspruch des Sturm und Drang. Im agitatorischen Bereich versucht der Text die dominanten, tradierten Mentalitätsstandards als die eigentlich überlegenen auszuweisen. In diesem Bereich lassen sich die meisten intertextuellen Referenzen mit parodistischer, satirischer oder wiederum diffamatorischer Absicht feststellen. Die LiteratursatirenLiteratursatire im engeren Sinn, vor deren Hintergrund LenzensLenz, Jakob Michael Reinhold Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum zu situieren ist und die Lenz auch bekannt waren, sind GoethesGoethe, Johann Wolfgang Götter, Helden und WielandGötter, Helden und Wieland (1774, entstanden Ende September/Anfang Oktober 1773), NicolaisNicolai, Friedrich WertherFreuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch-Parodie (Januar 1775), Heinrich Leopold WagnersWagner, Heinrich Leopold Prometheus, Deukalion und seine RecensentenPrometheus, Deukalion und seine Recensenten (Februar 1775) und Johann Jakob HottingersHottinger, Johann Jakob Menschen, Thiere und GötheMenschen, Thiere und Göthe (Herbst 1775). Bereits am 8. April 1775 hatte Lenz mit LavaterLavater, Johann Caspar über Wagners anonym erschienene Satire, die zunächst Goethe zugeschrieben worden war, korrespondiert.17 Goethes Farce ist noch im engeren Sinn eine Personalsatire, in deren Gravitationsfeld aus Spott und Ironie Wieland steht. Der Verspottete erwacht am Ende des Stücks aus seinem Traum, während in Lenzens Pandämonium Germanikum der Spötter selbst am Ende aus dem Traum erwacht. Bezeichnend ist, dass bei beiden Autoren, Goethe wie Lenz, die Fiktion des Traums Wunschvorstellungen und Kritik gleichermaßen zu thematisieren erlaubt. Der Traum ist der Ort, wo die WirklichkeitWirklichkeit befragt und wo sie gebeugt werden kann, ohne mit gesellschaftlichen, mentalen oder logischen Normen zu kollidieren. Hottingers und Wagners Texte hingegen sind versifizierte Satiren und stehen in diesem Sinne auch in einer aufgeklärtenAufklärung Tradition. Hottinger referiert in seiner Satire Menschen, Thiere und Göthe zwar unmittelbar auf Goethes Werther und Wagners Prometheus, Deukalion und seine Recensenten, er denunziert aber insgesamt auch die emanzipative Haltung der Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang. Dies zeigt sich zum einen am Inventar der Dramatis personae, u.a. treten Gans, Rabe, Hund, Esel und Frosch auf. Zum anderen wird dies auch durch die Satirisierung programmatischer Positionen des Sturm und Drang belegt. So sagt z.B. der Hund zu Prometheus:

„Wir beyde schiken uns wol zusammen,

Mögt alle Regeln zum Feu’r verdammen.

Is Quark, is für den Pöbel nur,

Viel besser Herr Doktor [d.i. Prometheus, M.L.-J.] is Natur –

Holla –“18.

Der moraldidaktische Appell im Epilog des Stücks, auf den LenzLenz, Jakob Michael Reinhold und GoetheGoethe, Johann Wolfgang in ihren LiteratursatirenLiteratursatire verzichten, führt als aufgeklärter Ordnungsruf den agitatorischen und den denunziatorischen Bereich des Stücks zusammen:

„S’ is ä Flegeley ’üch an jedem Biedermann z’reibä,

Der ’üch nit thät nach ’üerm Gustus schreibä. […].

S’ is Thorhät, s’ is eitle Bewegung.

Schnakscher Einfall is nit Widerlegung.

Is wol ’n Gaudium für d’n Narren;

Aber der klug Mann denkt, Herr Doktor hat ’nen Sparren“19.

Die Aufforderung aus WagnersWagner, Heinrich Leopold Literatursatire „Spitz jezt die Ohren, liebs Publikum“20 kann als programmatischer Warnruf des Literatursatirenstreits zwischen aufgeklärten Autoren und Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang in den 1770er-Jahren verstanden werden. Auch Wagners Satire rückt noch Wieland in den Mittelpunkt des Spotts: „Ey sieh doch! guck! das nenn ich mir Original! / So was macht Jupiter W** [Wieland, M.L.-J.] nicht mal“21. Doch wird der Streit um die Beurteilung von Goethes WertherDie Leiden des jungen Werthers mindestens gleichrangig thematisiert. Daraus ergibt sich, dass erstens die Auseinandersetzung um eine einzelne Person erweitert wird und zweitens die Auseinandersetzung um einen literarischen Text. Diese Auseinandersetzung wird gleichwohl nicht minder personenbezogen geführt. Und drittens werden die Friktionen zwischen den nicht nur literarischen Positionen des Sturm und Drang und der AufklärungAufklärung deutlich markiert. Prometheus sagt in seinem Schlussmonolog in diesem Stück: „Den Spektakel auf einmal zu enden / Hätt freylich Prometheus die Mittel in Händen; / Doch da er zu gros denkt Insekten zu jagen, / Mag ihnen Epilogus d’Meynung noch sagen.“22 Und dieser lässt denn auch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Aber so machts halt euer schäuslich Kritik / Verfolgt’s Genie, erstickt manch Mästerstück.“23 Das Bild der Insekten, die es zu jagen gilt, taucht dann bei LenzLenz, Jakob Michael Reinhold wieder in jenem Brief an LavaterLavater, Johann Caspar auf, worin er ihn auf WagnersWagner, Heinrich Leopold Literatursatire hingewiesen hatte. Lenz fügt einem in WielandsWieland, Christoph Martin Teutschem MerkurDer Teutsche Merkur erschienenen Epigramm von Christian Heinrich SchmidSchmid, Christian Heinrich mit dem Wortlaut „Es wimmelt heut zu Tag von Sekten / Auf dem Parnaß“ die knappe Bemerkung hinzu: „Und von Insekten“ (Lenz: WuBr, Bd. 3, S. 307).

Bei keinem der genannten Autoren erfüllt die Literatursatire die Funktion der Selbstvergewisserung. Hier ist Lenzens Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum singulär. Auch der Auftritt des Satireschreibers im Stück selbst bleibt die Ausnahme. Erst Christian Dietrich GrabbeGrabbe, Christian Dietrich wird den Selbstauftritt des Autors in einer Satire in seinem Stück Scherz, Satire, Ironie und tiefere BedeutungScherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung von 1827 wieder geschickt dramaturgisch nutzen. Außerdem ist keine der Literatursatiren der 1770er-Jahre so erzwungen defensiv angelegt wie Lenzens Stück. Der Autor muss sich bereits gegen die zunehmende kommunikative und soziale Isolation verteidigen, an deren Ende schließlich als Folge subtiler Diffamierung die Psychiatrisierung durch die ehemaligen Freunde und Sturm-und-Drang-GruppenmitgliederSturm und Drang steht. Zugleich macht das Pandämonium Germanikum nochmals deutlich, dass schon im Bewusstsein der Sturm-und-Drang-Autoren selbst die Theorie der Einzigartigkeit im GeniepostulatGenie zu einer gewollten literarischen und sozialen Exklusivität führt. Die produktionsästhetischeProduktionsästhetik Voraussetzung von Genialität ist im Pandämonium Germanikum in ein Elitebewusstsein umgekippt, auch wenn es noch als Traum, gleichwohl als visionärer Traum, camoufliert wird.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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