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Zwischenbilanz und Ausblick

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Das Paradigma einer kulturwissenschaftlichen PhilologiePhilologie war zum Ende des vergangenen Jahrhunderts also nicht neu. Neu war aber der Versuch, die Germanistik neben den etablierten kulturwissenschaftlichen Theoriefeldern in Volkskunde, empirischer Kulturwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Philosophie aufzustellen und theoriegeleitet diese Neuorientierung zu begleiten. Als 1996 der Sammelband zum Thema LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als Kulturwissenschaft erschien, ahnte niemand, welche Dynamik dieses Paradigma in kurzer Zeit gewinnen sollte.1 Um eine Art von vorläufiger Bilanz formulieren zu können, sind die Ausführungen des Historikers Peter BurkeBurke, Peter in seinem Buch Was ist Kulturgeschichte?Was ist Kulturgeschichte? (2005) hilfreich.2 Allerdings muss man beim Rückgriff auf Burkes Ausführungen eine entscheidende Einschränkung formulieren, welche die Grenzen einer Zwischenbilanz markiert. Wenn über eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur, ihren wissenschaftstheoretischen Status, ihr Theorieprofil, ihre Absichten, Leistungen und Schwächen gesprochen wird, dann geschieht dies unter dem expliziten Vorbehalt, dass ein kritischer Forschungsüberblick zum Thema nach wie vor Desiderat bleibt. Eine Kulturgeschichte der deutschen Literatur gibt es noch nicht.3 Die Behauptung, „Literaturwissenschaft ist keine Kulturwissenschaft“4, war schon zum Zeitpunkt ihrer Äußerung obsolet. Die Diskussion um dieses Paradigma ist weder abgeflaut noch überflüssig. Das Buch Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie (2000) markiert zwar eine gewisse Zäsur in der Diskussion um die Sozialgeschichte.5 Ich teile allerdings nicht die Einschätzung einiger Autoren dieses Bandes, dass die SozialgeschichteSozialgeschichte der deutschen Literatur gescheitert sei. Im Gegenteil, sie findet ihre konsequente Weiterführung im Paradigma einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur.

Peter BurkeBurke, Peter nennt in Was ist Kulturgeschichte?Was ist Kulturgeschichte? das erste von sechs Kapiteln Die Große Tradition und führt darin die historischen Aspekte seines Themas aus. Zunächst werden die großen Traditionen der allgemeinen Kulturgeschichte referiert und die Wiederentdeckung der KulturgeschichteKulturgeschichte in den 1970er-Jahren reflektiert. Karl LamprechtLamprecht, Karl stellte im Jahr 1897 erstmals die Frage: Was ist Kulturgeschichte? Der Gegenstandsbereich wurde bis heute sukzessive erweitert, die Frage, was sich innerhalb der Grenzen befinde, bleibe schwer zu beantworten. Deshalb schlägt Burke vor, die Aufmerksamkeit vom Gegenstandsbereich weg auf die applizierten oder propagierten Forschungsmethoden zu richten.6 Als eine allgemeine, gemeinsame Grundlage aller Kulturhistoriker begreift er das Interesse am SymbolischenSymbol. Vier Phasen einer Geschichte der Kulturgeschichte werden dabei unterschieden. Die erste Phase ist die klassische Phase (das betrifft den Zeitraum von 1800 bis 1950); die zweite Phase ist die SozialgeschichteSozialgeschichte der Kunst ab 1930, die dritte Phase ist die Phase einer Geschichte der Volks- und der Populärkultur in den 1960er-Jahren; und die vierte Phase wird als Phase einer „Neuen Kulturgeschichte“7 bezeichnet. Überträgt man diese Analyse und Bewertung des historischen Verlaufs auf das Modell einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur, bedeutet dies Folgendes: In der kulturwissenschaftlichen Philologie war eine erste Phase geprägt von der Suche nach der Standortbestimmung mit den Leitfragen: welcher Theorietransfer zwischen Kulturwissenschaften und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft könnte gelingen, welche Thementransformationen wären wünschenswert und welche historischen Vorbilder gibt es bereits zu diesem Neuansatz? Damit waren die Fragen verknüpft, was eine literaturwissenschaftliche KulturgeschichteKulturgeschichte ‚eigentlich‘ sei und was man sich unter einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft vorzustellen habe. Diese Phase begann in den 1990er-Jahren. Und obwohl sie nicht abgeschlossen ist, ist sie wissenschaftshistorisch und theoriehistorisch an einem Ruhepunkt angelangt. Man könnte diese Phase als die informative Phase in der philologischen Diskussion nennen. Besonders in der ersten Hälfte des neuen Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts machten die kulturwissenschaftlichen Fachorientierungen Diskursangebote. Besonders hervorgehoben seien die Arbeiten von Andreas Reckwitz Transformation der Kulturtheorien (2000), Stephen Greenblatt Was ist Literaturgeschichte? (2000) 8, Friedrich Kittler Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft (2000), Ute Daniel Kompendium Kulturgeschichte (2001), die Gründung der Zeitschrift KulturPoetik (2001), Mieke Bal Kulturanalyse (2002), Matthias Luserke-Jaqui Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur (2002), Ansgar und Vera Nünning (Hgg.) Konzepte der Kulturwissenschaften (2003), Markus Fauser Einführung in die Kulturwissenschaft (2003), Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.) Was sind Kulturwissenschaften? (2004), Sigrid Weigel Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte (2004), Moritz Baßler Kulturpoetik (2005), Peter Burke Was ist Kulturgeschichte? (2005), Vera Nünning (Hg.) Kulturgeschichte der englischen Literatur (2005), Silvio Vietta Europäische Kulturgeschichte (2005), Franziska Schößler Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (2006). Eine zweite Phase, die sich mit der ersten Phase überschneidet und die sich gewissermaßen mit der illokutionären Seite dieses Anspruchs befasst, ist nach der Orientierungsphase die transformative Phase, welche die Frage nach der Intentionalität eines kulturgeschichtlichen Paradigmas stellt und die die ersten beiden Dezennien des 21. Jahrhunderts prägt. Sie fragt: was will? und: was wird sein? und mündet in projektbezogene Arbeiten, so etwa in der Kulturgeschichte der englischen Literatur.Kulturgeschichte der Literatur9 Darin wird der Gegenwartsbezug eines Textes als Leitkriterium einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur benannt. Die Bedeutung der Intermedialität zwischen der LiteraturLiteratur und anderen Künsten für ein solches Projekt wird hervorgehoben, ferner das Verhältnis von Literatur und Wirtschaft, die Identitätsthematik (womit persönliche und kollektive Identität gemeint sind), die kulturspezifischen Normen und Werte und die Aufhebung der traditionellen Leitdifferenz von Hoch- und Populärkultur werden betont. Die Grundannahme einer Kulturgeschichte der Literatur sei die Extrapolierung von TextText und Kontext. Der Geschichtlichkeit und Kulturalität von Texten wird damit eine zentrale Bedeutung zugesprochen.10 Daraus ergeben sich diskursive Schnittflächen mit anderen Disziplinen, wobei ein textualistischer bzw. ein semiotischer KulturbegriffKulturbegriff unter Anlehnung an ein Drei-Welten-Modell der materialen, der sozialen und der mentalen Sphäre von Kultur favorisiert wird. Zuletzt bleibt aber der ästhetische Eigenwert von Literatur hervorgehoben.11 In den Analysen einer Kulturgeschichte der Literatur steht nach dieser Auffassung „eine Art der Bezugnahme [zwischen Text und Kontext, M.L.-J.] im Vordergrund, die in eine übergreifende Fragestellung eingebettet, in der jeweiligen Kultur verortet, methodisch fundiert und intertextuell oder intermedial orientiert ist“12. Daran ließe sich anknüpfen und im kritischen Befragen ließen sich neue oder andere Leitkriterien generieren, was eine Kulturgeschichte der Literatur will.

Das zweite Kapitel seines Buchs nennt BurkeBurke, Peter Probleme der Kulturgeschichte. Hier wird das Problem der Selektion der Quellen und der Quantifizierung diskutiert. Kommt es etwa bei größeren Datenmengen zu anderen Schlussfolgerungen? Burke widerspricht der Widerspiegelungstheorie, wonach „die Texte und Bilder einer Zeit unkritisch als Spiegelungen dieser Zeit“13 begriffen werden. Daraus folgt die Dringlichkeit und Sorgfalt der Quellenkritik und der kritischen Inhaltsanalyse. Denn was ein Dokument erzählt, muss noch lange nicht das Erzählte dokumentieren. Burke stellt die „grundlegende Frage […]: Ist es möglich, Kulturen als Ganze zu erforschen, ohne der falschen Grundannahme einer kulturellen Homogenität zu erliegen?“14 Daraus leitet er „die beiden wichtigsten Probleme“ ab, er nennt dies auch das „Zwillingsparadoxon der Tradition“15, „was in einer Tradition weitergegeben wird, verändert sich […]“16. BurkeBurke, Peter expliziert die terminologische Differenz von Hochkultur und Volkskultur. Der Gegensatz zwischen beiden sollte aus pragmatischen Gründen nicht zu scharf herausgearbeitet werden, vielmehr sollten mehr die Kontexte beachtet werden. Schließlich wendet sich Burke dem Kulturbegriff selbst zu. Operationabel sei ein anthropologischer KulturbegriffKulturbegriff, der die Fähigkeiten und Gewohnheiten des Menschen umfasse.17

Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will an dieses zivilisationstheoretische Erbe (Norbert EliasElias, Norbert) anknüpfen, wonach KulturKultur als die Gesamtheit menschlicher Lebensäußerungen verstanden und prozessual begriffen wird, was als Ereignis kultureller Transformationsprozesse verstanden werden kann. Eine Kulturgeschichte der Literatur will demzufolge Einspruch erheben gegen die Vorstellung, ein objektivierbarer Autorwille sei Gegenstand einer Textinterpretation, statt dessen will eine Kulturgeschichte der Literatur die Frage stellen, ob Rückschlüsse aus literarischen Quellen auf nicht-literarische Kontexte und umgekehrt überzeugend sind und ob sie methodisch gesichert werden können. Hier gilt es, eine kritische Diskussion mit dem New Historicism zu führen und den textualistischen KulturbegriffKulturbegriff bis hin zu dessen kultursemiotischer Variante auf seine Brauchbarkeit hin zu befragen.18

Eine Kulturgeschichte der Literatur will Burkes Bedenken als starkes Argument gegen ein close reading, wie es in narratologischen Ansätzen expliziert wird, ernst nehmen. Eine Kulturgeschichte der Literatur untersucht die Bedingungen der RezeptionRezeption und TransformationTransformation von LiteraturLiteratur; sie will die gängigen und selbstverständlichen kulturgeschichtlichen Paradigmata von Mikrogeschichte und einer Geschichte von unten, die als das Erbe der SozialgeschichteSozialgeschichte bezeichnet werden können, bewahren und eine sich immer wieder abzeichnende Tendenz innerhalb germanistischer Arbeiten hin zum Höhenkamm kritisch befragen.

Das dritte Kapitel von BurkesBurke, Peter Buch widmet sich der Bedeutung der Historischen Anthropologie. Hier macht der Verfasser auf die Transformation des Kulturbegriffs aufmerksam und betont dessen Pluralisierung. Etwas emphatisch formuliert er: „Wir sind auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte aller erdenklichen Gegenstände“19. Darunter rechnet er Träume und Gefühle ebenso wie Nahrungsmittel, Gesten, Reisen, Treppen etc. Dies sei die Geburtsstunde der sogenannten Neuen Kulturgeschichte, die zunächst als New Historicism aufgetreten sei.20 Beispielhaft seien nur vier monografische literaturwissenschaftliche Konkretisierungen genannt, die Kulturgeschichte der Grabschrift21, die Kulturgeschichte des Kusses22, die Europäische Kulturgeschichte23, die aber mit historisch recht großräumigen Substanzialismen arbeitet, die für eine konkrete Textarbeit nur bedingt tauglich sind und eher eine Ontologie des Historischen konstruieren helfen, und die Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe24.

Burke spricht in seinem Buch von der „anthropologische[n] Wende“25, die sich auch in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft vollzogen habe. Dies ist eine Redeweise, die von der Germanistik übernommen, aber in einem anderen wissenschaftshistorischen Kontext gebraucht wurde. Innerhalb der germanistischen Kulturwissenschaft wird auch von einem cultural turncultural turn gesprochen, nachdem es den linguistic turnlinguistic turn und den anthropological turnanthropological turn gegeben hatte. Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will diese Ansätze weiterentwickeln.

Das vierte Kapitel von Was ist Kulturgeschichte? heißt Ein neues Paradigma? Die Neue Kulturgeschichte habe zahlreiche „Inspirationsquellen“, sie sei „eklektischer“.26 Die Rede von einer New Cultural History taucht erstmals 1989 bei Lynn HuntHunt, Lynn auf. Neue KulturgeschichteKulturgeschichte wird als die „vorherrschende Form der heute praktizierten Kulturgeschichte“27 bezeichnet. Was sind nun die Kennzeichen der Neuen KulturgeschichteKulturgeschichte? Zuvörderst ein starkes Interesse an Theoriebildung, man mag dies durchaus auch als Ausdruck von Selbstvergewisserungstrategien begreifen. Dies schlägt bis in die PhilologienPhilologie durch, der Aufwand an Theoriesortierung und Theoriebewertung ist relativ hoch und ein charakteristisches Kennzeichen dieser Phase der Kulturgeschichte. Die Bedeutung der ZivilisationstheorieZivilisationstheorie von EliasElias, Norbert (BachtinBachtin, Michail Michailowitsch, FoucaultFoucault, Michel, BourdieuBourdieu, Pierre) wird dabei immer wieder hervorgehoben. Die Historiker sprechen bereits von einer Neuen Kulturgeschichte, da in der Philologie eben erst die alte Kulturgeschichte angekommen scheint. Es gibt also eine disziplinärspezifische Verzögerung im Prozess der Paradigmentransformation. Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will diese terminologische Verschiebung bei einer transdisziplinären Aufgabenstellung berücksichtigen. Eines der Schlüsselwörter, so führt Burke aus, der Neuen Kulturgeschichte heißt Praxis, es geht beispielsweise dann nicht um eine Geschichte der Theologie, sondern um eine Geschichte der religiösen Praxis, oder nicht um eine Geschichte der Literatur, sondern um eine Geschichte des Lesens. Der Fokus liegt auf der RezeptionRezeption als einer Form kultureller Gebrauchsweisen. Burke verweist zwar auf die Konstanzer Schule und das Modell der RezeptionsästhetikRezeptionsästhetik, doch bleibt dieser Teil seiner Darstellung defizitär. Insbesondere die sehr wichtige und eigenständige sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Leserforschung der 1970er- und 1980er-Jahre ist ihm nicht bekannt. Eine Kulturgeschichte der Literatur will diese sozialgeschichtlichen Ansätze als eine konsequente Weiterentwicklung der Sozialgeschichte der Literatur weiterführen. Was die Bedeutung der materiellen Kultur angeht, hätte BurkeBurke, Peter mit Sicherheit wesentliche Bestätigungen und Erweiterungen in den Arbeiten der Volkskunde bzw. der Europäischen Kulturwissenschaft gefunden. Eine Kulturgeschichte der Literatur will diese notwendige transdiziplinäre Perspektive sichern. Die Relevanz einer Geschichte des Körpers als einem Leitparadigma, die Burke herausstellt, kann durch den anthropological turnanthropological turn in der Germanistik etwa mit zahlreichen Studien zur Affektkontrolle, zum Leidenschaftsdiskurs, zu Körperbildern, zum Invaliden etc. bestätigt werden. Eine Kulturgeschichte der Literatur will auch dies weiterentwickeln. Am Beispiel der Liebe etwa greifen in einer Kulturgeschichte der Literatur anthropologische, soziale und ästhetisch-literarische Fragestellungen und Aufgaben in besonderer Weise ineinander. Möglicherweise eignet sich Liebe als Paradigma einer performativen Wende in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. Wo Liebe ist, ist KulturKultur, friedfertige Kultur. Liebe wird so als eine KulturtechnikKulturtechnik verstanden, die mehr ist als der aktive Beitrag der Natur zur Aggressionshemmung, um es evolutionsbiologisch auszudrücken, und Liebe ohne Intimität kann es nicht geben, denn davon berichtet die LiteraturLiteratur sehr beredt.

Das fünfte Kapitel widmet sich, so lautet die Kapitelüberschrift, dem Prozess Von der Darstellung zur Konstruktion. BurkeBurke, Peter diskutiert die Bedeutung der kulturellen Konstruktion von sozialer WirklichkeitWirklichkeit wie Klasse und Geschlecht, von Denkbildern, Handlungsvorstellungen oder Diskursen.28 Er thematisiert aber auch die Konstruktion von Identität und die Konstruktion von Geschichte. Die dieser Debatte zugrundeliegenden Fragen bleiben freilich weiterhin strittig: Wer konstruiert? Unter welchen Bedingungen? Aus welchem Material?29 Mit Blick auf die Entwicklungen dieser Debatte spricht Burke von einer „‚performativen Wende‘ in der Kulturgeschichte“30. Das ist sicherlich eine stimulierende Aussage, und es stellt sich für eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur die Frage, ob sie an dieser Debatte teilhaben will. Als Leitfrage einer performativen Kulturgeschichte formuliert Burke den Satz: „Was tut dieses Schreiben?“31 Welches sind seine Strategien, Techniken, Inszenierungen, wie sieht seine Rezeption, wie seine Wirksamkeit aus? Hier gibt es erstaunliche theoriekonsistente Schnittflächen mit dem Modell der Bedeutung von RezeptionRezeption und TransformationTransformation von Texten, bis hin zur Theorie des anagrammatischen Lesensanagrammatisches Lesen. Eine Kulturgeschichte der Literatur will nicht den Anschluss verlieren an arbeitsfähige Performanztheorien.32 Die performative Wende ist in der PhilologiePhilologie oder zumindest in Teilen längst vollzogen. Aus diesen Bestimmungsmerkmalen einer KulturgeschichteKulturgeschichte leitet Burke eine terminologische Präzisierung ab, die er „Okkasionalismus“33 in der Kulturgeschichte nennt. Okassionalismus bedeutet demnach „eine Verschiebung weg von der Idee festgelegter, an Regeln ausgerichteter Reaktionen hin zur Vorstellung eines flexiblen Verhaltens, das sich an der ‚Logik‘ oder ‚Definition der Situation‘ orientiert“34.

Unter die Frage Jenseits der kulturellen Wende? – so lautet der Titel des sechsten Kapitels – summiert BurkeBurke, Peter die Neue KulturgeschichteKulturgeschichte, die in der historiografischen Rezeption schon wieder mehrere Jahrzehnte alt ist. Er macht drei Szenarien aus, und das berührt bereits den prognostischen Wert seiner Ausführungen, den man auf eine Kulturgeschichte der Literatur übertragen kann, die folgendermaßen beschrieben werden: Das erste Szenario betrifft BurckhardtsBurckhardt, Jacob Rückkehr, im Kern geht es um die Restitution einer traditionellen Kulturgeschichtsschreibung. „Eine mögliche Zukunft für die Kulturgeschichte […] ist eine neuerliche Konzentration auf die Hochkultur“35. Dies führt zu einer Neubestimmung von Hochkultur und zu einer Verlagerung ihrer Merkmale. Burke stellt zu Recht fest, dass dieser Prozess längst in Gang gesetzt ist.36 Das zweite Szenario betrifft die Gegenstands- und Themenerweiterung. Politik, Gewalt, Emotionen, sinnliche Wahrnehmung usf. wurden und werden als neue Gegenstandsbereiche erschlossen. Das ist die „weitere Ausdehnung der Neuen Kulturgeschichte“37. Das dritte Szenario ist vielschichtiger, allgemein kann es als Gegenbewegung zur Reduktion von Gesellschaft auf Kultur verstanden werden. Burke nennt dies die „Rache der Sozialgeschichte“38. Daraus ergeben sich drei Probleme: Erstens sei die Definition von KulturKultur inzwischen zu weit und die Epitheta sozial und kulturell seien austauschbar geworden. Die sinnvolle Verschränkung von SozialgeschichteSozialgeschichte und Kulturgeschichte sei nicht mehr rückgängig zu machen. Burke arbeitet hier nochmals scharf die Bedeutung der sozialen Frage auch und gerade einer Kulturgeschichte heraus, indem er fragt: wer rezipiert?39 Zweitens seien die Methoden kritisch zu reflektieren, denn neue Quellen bedürften neuer Formen der Quellenkritik und neuer Regeln, was Burke am Beispiel der LektüreLektüre von Bildern ausführt.40 In diesem Zusammenhang kommt er beiläufig auf den textualistischen Kulturbegriff zu sprechen. Er verweist darauf, dass beispielsweise Historiker und Anthropologen diese Metapher des LesensLesen von Kultur nicht in gleicher Weise verwenden würden. Dies kann man dahingehend ergänzen, dass selbst unter Historikern oder auch nur unter Literaturhistorikern eine terminologische und pragmatische Klarheit mangelt. Burke kritisiert, die Metapher Kultur als TextKultur als Text garantiere der Intuition einen zu großen Raum dadurch, dass unklar bleibe, wer im Fall zweier kontroverser Lektüren oder Deutungen tatsächlich die richtige biete. Hier könnte möglicherweise die performative KulturgeschichteKulturgeschichte weiterhelfen, die gerade auf die Wahr-Falsch-Distinktion verzichten muss, will sie denn als eine performative gelten können. Drittens bestehe die Gefahr der Fragmentierung. Die Absage an universalistische Zugriffe könnte zur Folge haben, dass Schlussfolgerungen nur vereinzelt Gültigkeit besäßen. Das kann man auch kritisch auf GreenblattsGreenblatt, Stephen Omnipotenzphantasma übertragen, wonach die selektiv gewonnenen Erkenntnisse postwendend zu universalistischen Erklärungsmodellen avancieren. Eine Kulturgeschichte der Literatur will dagegen über die Problemlage von Greenblatts Kontextualisierungsverfahren hinausgelangen. Das kann möglicherweise durch die Rückbesinnung auf genuin philologische Kompetenzen gelingen. Von anglistischer Seite wurde des Öfteren bemängelt, die Vertreter der germanistischen SozialgeschichteSozialgeschichte der deutschen Literatur hätten Greenblatt nicht wahrgenommen, seine Arbeiten gar ignoriert. Doch es verhält sich umgekehrt, Greenblatt hat sich für die kontinentale Diskussion nicht interessiert, was schon ein Blick auf die entsprechenden Veröffentlichungsdaten belegen kann. Die Sozialgeschichte der Literatur war lange vor Greenblatts Arbeiten mit vielen Studien präsent, Leuchtturmprojekte waren u.a. die Sozialgeschichten der deutschen Literatur des Rowohlt-Verlags, des Athenäum-Verlags und des Hanser-Verlags.

Burke spricht zum Schluss über die Perspektive einer Kulturgeschichte, da die Neue Kulturgeschichte inzwischen an ihr Ende gekommen sei. Die Bedeutung von Erzählung in der Kulturgeschichte wird hervorgehoben.41 Man kann von kulturellen Narrativen sprechen, die auch narratologisch interpretiert werden können und gleichzeitig lässt sich Kulturgeschichte auch narrativ darstellen.42 Allerdings klingt es eher ratlos als klar umrissen, wenn sich die kulturgeschichtliche Narratologie selbst so beschreibt:

„Die kulturgeschichtliche Narratologie ist […] als eine interdisziplinär angelegte, bewußt eklektisch vorgehende und theoretisch wie methodisch präzisierungsbedürftige Forschungsrichtung zu begreifen […]. Grundfrage und Kernproblem der kulturgeschichtlichen Narratologie ist dabei die Frage nach der Verwobenheit von Kultur und Literatur […].“43

BurkeBurke, Peter meint, in der letzten Forschergeneration sei die KulturgeschichteKulturgeschichte „Schauplatz einiger der aufregendsten und aufschlußreichsten Diskussionen über die Methoden der Geschichtswissenschaft“44 gewesen. Das gilt ohne Einschränkung auch für die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. Diese zwei Lager unter den Vertretern und Vertreterinnen einer Kulturgeschichte („Buchstabengläubigkeit“ vs. SymbolSymbolbedeutung) werden die literaturwissenschaftliche Binnendiskussion weiterbewegen. Und eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will genau dies, die Diskussion voranbringen und die symbolische Bedeutsamkeit von Texten und Kontexten methodisch sichern. Mit Blick auf diese Leitdifferenz verdeutlicht Burke den Unterschied zwischen einer SozialgeschichteSozialgeschichte und einer Kulturgeschichte an einem Beispiel. Eine Sozialgeschichte des Zuckers untersuche die Konsumenten, die Veränderung des Zuckers vom Luxusgut für eine soziale Elite hin zum Grundnahrungsmittel. Eine Kulturgeschichte des Zuckers befasse sich hingegen „mit dem symbolischen Aspekt des Zuckers“45. Durch den Verlust der sozialen Exklusivität erfahre der Zucker die Implementierung in neue soziale Rituale, die es entsprechend zu deuten gelte. Und diese Deutungsarbeit ist seit je das Geschäft der Literaturwissenschaft.

Eine Kulturgeschichte der Literatur ist keine Leitwissenschaft, keine Großtheorie, die weder willens noch in der Lage wäre, alle hegemonialen Theoriebedürfnisse im Wissenschaftsbetrieb zu befriedigen. Eine Kulturgeschichte der Literatur kann als Metabegriff differenter kulturwissenschaftlicher Theorieprofile und Lösungsansätze verstanden werden. Kulturgeschichte zeichnet sich dann durch eine Kombinatorik unterschiedlicher Selbstthematisierungsvorschläge aus. Dadurch bewahrt sich eine Kulturgeschichte der Literatur ihre Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Konzeptualisierungsformen von KulturKultur, von KulturtheorieKulturtheorie und von Kulturwissenschaft. Die klassische sozialgeschichtliche Trias der Bedingungen von ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption von TextenText bleibt unabdingbar für die Literaturinterpretation. Durch den Rekurs auf einen textualistischen KulturbegriffKulturbegriff wird das figurative Denken gefestigt, KulturgeschichteKulturgeschichte kommentiert den Wandel literaler Kommunikation und erklärt die TransformationTransformation von KulturtechnikenKulturtechnik. Zwischen jenen beiden kulturgeschichtlichen Lagern der BuchstabengläubigkeitBuchstaben und der SymbolbedeutungSymbol wird sich auch die literaturwissenschaftliche Binnendiskussion weiter bewegen, und eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur wird die symbolische Bedeutsamkeit von Texten und Kontexten methodisch sichern helfen. Damit besinnt sie sich wieder auf das, was von jeher zum Kerngeschäft der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft zählt. Die Geschichte der HermeneutikHermeneutik entwickelte die Lehre vom mehrfachen SchriftsinnSchriftsinn, wonach neben dem buchstäblichen Verstehen auch eine symbolische Deutungsymbolische Deutung ins Recht gesetzt wird. Beim kulturgeschichtlichen Kontextualisieren geht es also um jene Textebene, von der SchillerSchiller, Friedrich 1797 sprach, als er „eine Symbolische Bedeutsamkeit“46 von Texten gefordert hat. TexteText seien „in Chiffern verfaßt“ und man müsse sie deshalb „Dechiffrieren“,47 wie er im GeisterseherGeisterseher schreibt; später wird auch RilkeRilke, Rainer Maria die andere, die symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung von Texten betonen.48 Genau darum geht es.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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