Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 15

ANTIKE UND ABENDLANDPoiesisPhilologie Die aristotelischeAristoteles Poetik als PermatextPermatext

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Die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der aristotelischenAristoteles Poetik gliedert sich in zwei große Komplexe, die HandschriftengeschichteHandschriftengeschichte und die DruckgeschichteDruckgeschichte. Die Handschriftengeschichte kann über Jahrhunderte hinweg nur spekulativ erschlossen werden, und einzig die Argumentationskraft und der Plausibilitätswert altphilologischer Hypothesen müssen zufriedenstellen. Die Druckgeschichte beginnt mit dem ersten Druck einer arabisch-lateinischen Version der Poetik. 1481 wurde diese lateinische Übersetzung des arabischen Kommentars von AverroesAverroes, die Hermannus AlemannusHermannus Alemannus 1256 angefertigt hatte, gedruckt. Die Druckgeschichte im engeren Sinn der Editio princeps graeca beginnt mit dem ersten Druck des griechischenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Textes der Poetik, der 1508 bei Aldus ManutiusManutius, Aldus – daher die abgekürzte Bezeichnung die Aldine – in Venedig erschien.Aristoteles1 In der handschriftlichen Überlieferungsgeschichte lassen sich wiederum zwei Traditionslinien voneinander unterscheiden, nämlich die syrisch-arabische und die griechisch-lateinische HandschriftengeschichteHandschriftengeschichte. Dass diese beiden Traditionen eng mit den jeweiligen Schulen eines griechischen oder arabischen Aristotelismus verknüpft sind, liegt auf der Hand. Doch ist der philosophische Aristotelismus nur insoweit von Interesse, als er für die Entstehung der Handschriften, ihrer Abschriften und die Kommentierung der Poetik von unmittelbarer Bedeutung ist.2 Auch das Thema der AristotelesAristoteles-RezeptionRezeption ist hier nur im Zusammenhang einer Geschichte der Überlieferung der Poetik von Bedeutung.3 In diesem Kapitel folge ich der Handschriftengeschichte der Poetik als Grundvoraussetzung ihrer Überlieferung bis zum Jahr 1508.4 Die Forschungsergebnisse von Orientalisten, Altphilologen und Kodikologen sind größtenteils weit verstreut und an entlegenen Stellen publiziert. Eine zusammenfassende Darstellung der syrisch-arabischen und der griechisch-lateinischen Handschriftengeschichte ist ein Desiderat.

Etwa zu der Zeit, als im lateinisch-westlichen KulturbereichKultur BoethiusBoëthius um 507 n. Chr. das gesamte aristotelische Organon zu übersetzen sich vornimmt, erreicht die syrisch-christliche Übersetzungsliteratur aristotelischer Schriften allmählich ihren Höhepunkt in den Werken des SergiusSergius (†536 n. Chr.) und des Severus SebokhtSeverus Sebokht (†667 n. Chr.).5 Der früheste bekannte syrische Übersetzer ist ProbhaProbha (ca. 450 n. Chr.). Vollständige syrische Übersetzungen der Poetik sind heute nicht mehr bekannt. Lediglich aus indirekten Hinweisen lässt sich die syrische Textvorlage der ältesten erhaltenen arabischen Übersetzung rekonstruieren. Ob die syrische Übersetzung der Poetik eine unmittelbare Übertragung einer älteren griechischen Handschrift, möglicherweise sogar eines aristotelischenAristoteles Originals, zumindest aber eine getreue Kopie des griechischen Archetypus darstellt, lässt sich nur vermuten, ist in der Forschung aber umstritten. Da die spätere arabische Poetik-Übersetzung auf der früheren syrischen Übersetzung des griechischen Textes beruht, sei zunächst der Blick auf die syrischePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Übersetzertätigkeit gerichtet. Wolfhart Heinrichs hat in seiner Arbeit Arabische Dichtung und griechische Poetik die syrische und die arabische Poetik-Geschichte untersucht. Aufbauend auf dem epochalen Werk von Jaroslaus Tkatsch gelangt Heinrichs zu wichtigen, teilweise Tkatsch korrigierenden Resultaten. Er betont, dass zwei Seiten der syrisch-arabischen Poetik-RezeptionRezeption zu unterscheiden seien: Einmal die eigentliche Poetik-Tradition des aristotelischenAristoteles Textes, zum anderen die Tradition der alexandrinischen Organon-Proömien, die sich mit der Einordnung der Poetik in das Corpus Aristotelicum beschäftigen und ihre Zurechnung zu den logischen Schriften systematisch begründen.6 Beide Seiten sind aber nicht streng voneinander zu trennen, vielmehr ergeben sich häufige Verbindungen. Was die alexandrinischen Organon-Proömien betrifft, ist festzuhalten, dass die Poetik – ebenso wie die Rhetorik – ihre Überlieferung gerade der Zuordnung zum aristotelischen Organon verdankt. Wann und durch wen diese Zuordnung im spätalexandrinischen Schulbetrieb vollzogen wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Diese Zuordnung ist jedoch nicht mit dem Ausschluss der RhetorikRhetorik und Poetik aus dem spätgriechischen und byzantinischen Schulbetrieb zu verwechseln, die sich durch die „Verdrängung der Rhetorik durch Hermogenes-Aphthonius und die Zuordnung der Poetik zur Grammatik [erklärt]“7. Schon im frühen griechischen Aristotelismus, der nach Moraux vom „‚Willen zur Orthodoxie‘“8 gekennzeichnet ist, war die Poetik von untergeordneter Bedeutung. Von der Renaissance des Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos, dem ersten Redaktor der aristotelischen Schriften ca. 100/50 v. Chr. (Datierung nach Moraux), bis ca. zur Mitte des dritten Jahrhunderts n. Chr. war es „wichtigstes Anliegen der meisten Kommentatoren der Zeit […], die sogenannten Lehrschriften, und an erster Stelle die rein philosophischen unter Ausschluß etwa der Tierschriften, der Politik, der Rhetorik und der Poetik zu verstehen, zu untersuchen und zu erklären“9. Umso erstaunlicher, aber angesichts der Autorität, die die aristotelischen Schriften genossen, keineswegs überraschend, ist nun die Zuordnung der Poetik zum aristotelischen Organon, zu dem heutzutage die fünf folgenden aristotelischenAristoteles Schriften zusammengefasst werden: KategorienKategorien, Vom SatzVom Satz, AnalytikAnalytik (1. und 2. Analytik), TopikTopik und Sophistische WiderlegungenSophistische Widerlegungen. Die überlieferungsgeschichtliche Sicherung der Poetik im Organon vollzog sich im Rahmen der alexandrinischen Schulbildung nur sukzessive.10 Johannes PhilopanosPhilopanos, Johannes missbilligte möglicherweise diese Zuordnung der Poetik und lässt somit „eine andere Phase dieser Auseinandersetzungen in der Schule von Alexandreia erkennen, inPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) welcher die Poetik eine nicht ganz deutliche Sonderstellung gegenüber Topik, Sophistik und Rhetorik einnimmt“11. Das Ergebnis dieses überlieferungsgeschichtlichen Konstituierungsprozesses, der sehr stark von philosophisch-logischen Systematisierungszwängen geprägt ist und dessen Ausrichtungspunkt der aristotelischeAristoteles Syllogismus-Begriff ist, formuliert der Armenier EliasElias der Armenier um 600 n. Chr. folgendermaßen: „pente gar eisin eide ton syllogismon, apodeiktikos dialektikos rhetorikos sophistikos poietikos [Ü: Es gibt nämlich fünf Schlussfiguren, die apodeiktische, dialektische, rhetorische, sophistische und poetische]“12. Jede Art von Syllogismus stellt einen anderen Gewissheitsgrad der Erkenntnis dar „und ist dadurch als solche sachlich gerechtfertigt“13. In dieser Fünfteilung wird die Poetik (und auch die RhetorikRhetorik) in ihrer Zuordnung zum Organon in Form eines poetischen Syllogismus verankert. Für die syrisch-arabische RezeptionRezeption der griechischen Kommentatorenliteratur ist dies von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Poetik wird hier, wie bei den alexandrinischen Gelehrten, als logische Schrift gelesen. Dies führt im Laufe der Jahrhunderte zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und zu Irritationen. Die Poetik wurde als eine Schrift über die Logik der DichtungDichtung, über die Logik der poetischen Aussage, nicht aber als eine Schrift über die Dichtung selbst verstanden. Dieses Missverständnis führte zwangsläufig zu dem Problem, „welchen Wahrheitsgehalt und welches Erkenntnisvermögen man diesen poetischen Syllogismen zuordnen wollte, und da lag es nahe, ‚poetisch‘ mit ‚falsch‘ (wie EliasElias der Armenier) und weiter ‚falsch‘ mit ‚Phantasie‘ (wie Philopanos) zu verbinden“14. Von der syrischen Kopie der PoetikPoetik (Aristoteles), die als Vorlage für die arabische Übersetzung diente, ist nur sehr wenig bekannt.15 Das sogenannte Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum wurde erstmals von Margoliouth im Jahre 1887 ediert16 und löste rege Aktivitäten in der altphilologischen Poetik-Forschung aus, die einen bedeutenden Höhepunkt in der zweibändigen Arbeit von Tkatsch fand.Aristoteles17 Dieses Fragment ist in der Enzyklopädie Buch der DialogeBuch der Dialoge des Bischofs Mār Mattai Severus bar ŠakkūMār Mattai Severus bar Šakkū (†1241) erhalten, „der ein bedeutender Vertreter der unter arabischem Einfluß stehenden Nachblüte der peripatetischen Philosophie in der sogenannten syrischen Renaissance war“18. Die Vorlage zu diesem Fragment ist jene ominöse griechische Handschrift S19 oder Σ, die älteste Handschrift der aristotelischenAristoteles Poetik, „von der wir wissen“20, die selbst aber nicht erhalten ist. Dieser griechische Text wurde ins Syrische übertragen. Tkatsch vermutet, dass die syrischen Gelehrten frühestens im fünften Jahrhundert mit der Poetik durch diese Handschrift S oder eine andere bekannt geworden seien.Aristoteles21 Die erste nachweisbare Spur der Poetik bei den Syrern bzw. der erste Nachweis einer syrischen Übersetzung der Poetik findet sich zu Beginn der arabischen Poetik-Handschrift des Abū Bišr, wo dies ausdrücklich vermerkt ist.22 Einen syrischen Kommentar zur Poetik hat es neben der syrischen Übersetzung vermutlich nicht gegeben, eher „scholienartige Bemerkungen oder gedrängte Ausführungen über bestimmte Partien“23. Man sollte allerdings den Erkenntnisgewinn dieser Hypothesen nicht zu hoch veranschlagen, worauf auch Heinrichs ausdrücklich hinweist, denn die Kenntnis der syrischen Peripatetik sei äußerst bruchstückhaft; erschwerend käme hinzu, dass wichtige Werke nach wie vor unediert in Bibliotheken lägen und es nur wenige Anhaltspunkte für die Existenz einer vorislamischen syrischen Poetik gäbe.24 Zu den wenigen festen Anhaltspunkten gehört ein syrischer Brief des nestorianischen Katholikos Timotheus I.Timotheus I. (†823 n. Chr.)25, worin „nach irgendeinem Kommentar für das Werk der Rhetoren oder das der Poeten oder nach irgendwelchen Scholien gleichwie im Syrischen“26 gefragt wird. Die Schlussfolgerung von Tkatsch, dass dieser Brief eine frühere syrische Übersetzung der Poetik voraussetze27 und damit deren Existenz indirekt bestätige, ist aber übereilt. Denn Heinrichs weist darauf hin, dass auch im Arabischen kleinere Schriften und Notizen zur Poetik vor deren Übersetzung erschienen sind. Sein Urteil, man könne die Existenz eines Grundtextes nur vermuten, steckt den Rahmen dessen sehr deutlich ab, worauf man sich mit Recht berufen kann.28 Das Problem der Zuordnung der Poetik zum Organon im alexandrinischen Schulbetrieb ist nach wie vor ungelöst, und die Frage, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise sich dieses System im syrischen Bereich sedimentiert hat, ist unbeantwortet.29 Ließe sich feststellen, in welchem Zeitraum das Organon als geschlossenes System rezipiert wurde, hätte man, so die Überlegung, einen Anhaltspunkt dafür, wann die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) erstmals ins Syrische übersetzt worden ist. Denn die Syrer, wie später die Araber, waren bestrebt, das Organon geschlossen zu übersetzen. Gegen diese Überlegung spricht allerdings eine andere Annahme. Das Organon wurde aus religiösen Gründen in den christlichen Schulen nur bis Kapitel I, 7 der Ersten AnalytikAnalytik gelesen.30 Es wäre also denkbar, dass die syrische Poetik-Übersetzung erst sehr viel später angefertigt wurde. Beide Überlegungen haben einen mehr oder weniger hohen Plausibilitätswert, und Heinrichs bringt die unbefriedigende Forschungslage zur Existenz einer syrischen Poetik-Übersetzung im sechsten Jahrhundert mit den Worten auf den Punkt: „Man sieht, daß für eine endgültige Entscheidung neue Quellen unabdingbar sind“31. So wichtig die Einbeziehung dieser Überlegungen für die Handschriftenforschung ist, so zielführend ist für eine kulturgeschichtlichekulturgeschichtliche Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Erforschung der historischen Bedingungen einer DiskursüberlieferungDiskursüberlieferung aber auch ein anderer Sachverhalt. Heinrichs konnte nachweisen, dass sowohl die syrischen als auch die arabischen Übersetzer der Poetik ihre Übersetzungen ohne jegliches Verständnis für deren Inhalt herstellten, im wörtlichen Sinn des Begriffs. Heinrichs gibt hierfür einige Beispiele, die vor allem mit Blick auf die ideologische AristotelesAristoteles-Exegese der Frühen NeuzeitFrühe Neuzeit in Italien und Frankreich bemerkenswert sind. Denn hinter den sogenannten philologischen Missverständnissen und Fehldeutungen, und seien sie noch so produktiv, stehen meist dezidierte Erkenntnisinteressen, deren Ignorieren oder einseitige Beurteilung zugleich die Problematik überlieferungsgeschichtlicher Forschung deutlich machen. So spricht Heinrichs von der „völligen Ahnungslosigkeit der Araber (und schon der Syrer, wie das erhaltene syrische Poetik-Fragment nahelegt), was Drama und Theater eigentlich sei“32. Beispielsweise komme der griechische Begriff der opsis (Inszenierung)33 im Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum zweimal vor. Einmal wird er, entsprechend Poetik 1449 b 33, mit parṣōpā (Gesicht) wiedergegeben, zum anderen, entsprechend Poetik 1450 a 10, wird er mit ḥzāyā (Sehen, Sehvermögen) übersetzt.34 Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die aristotelische TragödiendefinitionTragödie in Poetik 1449 b 24–1450 a 9. Die zitierte Stelle aus der Poetik im syrischen Fragment wird durch einen Einschub unterbrochen, der den „ohnehin unverstandenen Satz sinnwidrig aufsprengt“35. Dieser Einschub, der als Beispiel für eine Tragödie dienen soll, lautet folgendermaßen: „David also, jener Harfenspieler des heiligen Geistes, wird ein Tragöde genannt, da er, während er singt und Harfe spielt, klagt und seufzt, wie z.B.: Mit meiner Träne habe ich mein Lager genetzt“36. Dieses Beispiel zeige, so Heinrichs, wie weit die Syrer vonPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) einem „richtigen Verständnis“37 der Tragödie entfernt gewesen seien. Für die Frage nach der Datierung der syrischen Handschrift S und besonders des Fragmentum Syriacum bedeutet dies, dass sich aus der Tatsache der wörtlichen Übersetzung kein Anhaltspunkt für die Datierung der Übersetzung selbst ableiten lässt.38 Die Poetik nimmt innerhalb der syrischen Übersetzungsliteratur aufgrund der inhaltlichen Verständnisschwierigkeiten eine „Sonderstellung“39 ein. Die wörtliche Übersetzung der Poetik im Fragmentum Syriacum ist das Ergebnis einer „Notlösung […] bei völligem Unverständnis des griechischen Textes“40. Erst den arabischen Übersetzern gelingt allmählich eine eigenständige Interpretation ihrer syrischen Vorlage(n).

Die arabische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik stellt einen Teil der Poetik-RezeptionRezeption dar; allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es eine aristotelischeAristoteles Schulbildung mit institutionellem Charakter, vergleichbar der alexandrinischen Schule, im Islam nicht gegeben hat.41 Die arabischen Poetik-Übersetzungen wurden nicht nach einem griechischen Original, sondern nur nach einer oder der syrischen Vorlage angefertigt.42 Die erste arabische Übersetzung stammt von Abū BišrAbū Bišr (†940 n. Chr.) und besitzt wegen ihres hohen Alters für die Poetik-Forschung besonderes Gewicht43:

„Die Geschichte der Poetik des AristotelesAristoteles bei den Syrern und Arabern zeigt, soweit erhaltene Belege, literarische Nachrichten oder Indizien vom 8. Jahrhundert an bis zur Zeit der Entstehung der lateinischen Übersetzungen, also für einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrtausend vorliegen, daß der Text des Abu Bisr nicht nur die älteste direkte arabische Übersetzung einer direkten syrischen Übersetzung der Poetik ist, sondern auch die älteste erhaltene Textquelle für die Aristotelische Schrift und zugleich das Original für alle seit dem 10. Jahrhundert erhaltenen oder literaturgeschichtlich nachweisbaren arabischen, syrischen und hebräischen Übersetzungen oder Paraphrasen und ihre lateinischen Bearbeitungen.“44

Diese für die Poetik-PhilologiePhilologie zweifelsfrei wichtige arabische Textquelle kann jedoch nicht über die inhaltlichen Bedenken hinwegtäuschen. Auch die Araber seien von einem „nur annähernd richtigen Verständnis“45 der Poetik entfernt gewesen, die Übersetzung des Abū Bišr wird sogar als „Mischung von Unverstandenem und Falschverstandenem, von Unverständlichem und Mißverständlichem“46 bezeichnet, gar von einem „mißratenen Zweig des arabischen AristotelismusAristoteles“47 ist, was die logische Poetik betrifft, die Rede. Hier stellt sich die Frage, weshalb sich die arabischen Gelehrten der mühevollen Arbeit einer Übersetzung unterzogen haben, wenn ihnen der Inhalt der Poetik so verschlossen geblieben ist. DiePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Antwort ist vor allem in dem übermächtigen Kanon des aristotelischen Korpus’ und der dominierenden Autorität aristotelischer Philosophie zu suchen. Die Poetik wurde als Folge der alexandrinischen Zuordnung zum Korpus logischer Schriften (Organon) selbst als logische Schrift gelesen. Darin ist sicherlich auch einer der Hauptgründe zu sehen, weshalb von der Poetik keinerlei Einfluss auf die arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie ausgegangen ist.48 Das eigentliche Motiv für den Philologenfleiß der Übersetzer und der Kommentatoren sieht Heinrichs unter Rückgriff auf die Forschungen Francesco Gabrielis im Streben nach Komplettierung des arabischen Corpus Aristotelicum, zudem stehe Abū BišrAbū Bišr im Hinblick auf seine Lehrer „in der lebenden Tradition der spätalexandrinischen AristotelesAristoteles-Studien“Isḥāq ibn Ḥunain49. Einzig Ibn al-Aṯīr erkenne den Widersinn einer logischen Terminologie, durch die der Zugang zur Poetik als Schrift über die DichtkunstDichtkunst durch deren Logisierung verstellt werde:

„Einer von den Philosophierern […] unterhielt sich einmal mit mir darüber [über den griechischen Einfluss bei den Modernen], und die Rede kam auf irgendein Werk von Abū ʿAlī Ibn Sīnā über die Redekunst und die Dichtung, das er erwähnte. Er zitierte (daraus) eine von den griechischen Dichtungsgattungen, die Lāġūḏiyā (lies: ṭrāġūḏiyā, ‚Tragödie‘) genannt wird, […] und ließ mich lesen, was er zitiert hatte. Als ich das las, da hielt ich ihn (sc. Avicenna) für einen Toren […]. Alles, was er da sagt, ist Geschwätz, von dem der Sprecher der arabischen Sprache keinerlei Nutzen hat. Mehr noch – wie er sagt, ist die Stütze der Leute beim rhetorischen Sprachgebilde [Anm. v. Heinrichs: „Und beim poetischen, wie wir sinngemäß ergänzen können“], daß es in der Form von zwei Prämissen und einer Schlußfolgerung […] gebracht wird. Das ist aber dem Abū ʿAlī Ibn Sīnā bei dem, was er (selbst) an Dichtung und Reimprosa verfaßt hat, nicht in den Sinn gekommen […]. Hätte er nämlich erst über die zwei Prämissen samt Konklusion nachgedacht und danach erst ein Vers- oder Prosastück herausgebracht, dann hätte er etwas Nutzloses herausgebracht, und die Sache hätte ihm zu lange gedauert. Nein, ich bin anderer Meinung, nämlich daß die Griechen selbst, wenn sie ihre Gedichte machten, diese nicht mit dem gleichzeitigen Gedanken an zwei Prämissen und Schlußfolgerung machten. Sondern das sind theoretische Setzungen, die gemacht wurden […] und mit denen ihre systematischen Werke über die Rhetorik und die Dichtung in die Länge gestreckt wurden. Sie sind, wie man sagt, ‚Wasserblasen ohne Nutzen‘.“50

Obwohl also die Schwierigkeiten einer Lektüre der Poetik als logische Schrift durchaus erkannt wurden, wie diese Bemerkungen des arabischen Kritikers zeigen, zweifeln die Übersetzer und Kommentatoren nicht an der instrumentellen Logisierung der Poetik, sondern vermuten vielmehr eine böswillige Absicht der griechischen Verfasser von Rhetorik- und Poetikbüchern, um ihre Schriften unnötig aufzublähen. Die Übersetzung des Abū BišrAbū Bišr, die die Grundlage der meisten arabischen Kommentare zur aristotelischenAristoteles Poetik bildet, soweit sie sich darauf berufen oder sich dies noch rekonstruieren lässt, enthält aus philologischer Sicht einige gravierende Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Das bekannteste Beispiel ist die Äquivokation von TragödieTragödie mit Lobgedicht und KomödieKomödie mit SpottgedichtPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles). Dieses Missverständnis, Tragödie und Komödie als „the art of enconium“ und „the art of satire“ aufzufassen, ist nach Dahiyat das Ergebnis von Abū Bišrs „excessive literalness“.51 Während AvicennaAvicenna (Ibn Sina) „transliterates the two Greek words and gives them definitions based on the Poetics“52, ist Abū Bišr ein Übersetzer, der sich lediglich für den LiteralsinnLiteralsinn seiner Textvorlage interessiert. Dieses kleine Beispiel eines arabischen Übersetzungsfehlers und dessen Bewertung durch die Forschung verweist auf ein grundsätzliches Problem, das in der Folge der Poetik-Rezeption erhebliche Ausmaße annehmen wird. Es macht deutlich, dass der, will man es zugespitzt formulieren, Rückzug auf eine vermeintlich aseptische philologische, philosophische oder poetologische Position, wenn man so die Reduktion eines Textes auf seinen Literalsinn vorerst verstehen will, keineswegs vor der zivilisatorischenzivilisatorisch Infizierung schützt. Die Rede von einem falschen Verständnis, von Missinterpretationen und Fehldeutungen impliziert ein hermeneutischesHermeneutik Vor-Verständnis von einer richtigen DeutungDeutung, das die Geschichtlichkeit von interpretierenden, übersetzenden oder poetischen DiskursenDiskurs ignoriert. So betrachtet entheben sich dann die sogenannten philologischen Missverständnisse, Fehlübersetzungen etc. einer ausschließlich philologischen Wertigkeit. Ein Blick auf eine ähnliche Entwicklung, allerdings mit deutlicheren Explikationen, in Italien im 16. Jahrhundert zeigt, dass die Diskrepanz zwischen dem Text der Poetik und seinen Auslegungen in dieser Zeit auch als ein Versuch gedeutet werden kann, „im Rekurs auf AristotelesAristoteles die neue Konzeption der Kunst auf den Begriff zu bringen“53. Damit ist das gesellschaftlich-zivilisatorischezivilisatorisch Konstituens von ÄsthetikÄsthetik und poetologischer Reflexion festgehalten, das auch in den Zeugnissen der arabischen ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik normbildend gewirkt hat. Die Gründe, weshalb die arabischen Übersetzer und ihre syrischen Vorläufer die aristotelische Poetik als eine logische Schrift lesen mussten, liegen vermutlich tiefer, als ein philosophisch-philologischer Systemzwang erkennen lässt, und sie liegen wohl auch tiefer, als der Hinweis auf die ungebrochene Autorität der aristotelischenAristoteles Philosophie und ihrer Schulbildung zu erklären vermag.

Das griechische Wort opsis wurde im Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum mit Sehen, Sehvermögen übersetzt. Abū Bišr übernimmt diese Deutung und gibt das syrische Wort für opsis mit dem arabischen Begriff naẓar wieder. Dieser Begriff hat aber in der arabischen philosophischen Terminologie auch die Bedeutung von spekulativem Denken.54 AvicennaAvicenna (Ibn Sina) und AverroesAverroes übernehmen nun in ihren Poetik-Kommentaren diese Bedeutung. Avicenna erklärt das ursprüngliche Wort für Inszenierung so: „Was den naẓar betrifft, so ist er sozusagen eine Argumentation und eine Darlegung der Richtigkeit beider, der Gewohnheit [ethos] und der Erzählung [mythos]“55. Was die Übersetzung des MimesisMimesis-Begriffs betrifft, lässt sich Folgendes sagen: Das arabische tašbīh wa-muḥākāt, die Übersetzung des syrischen meddammyānūṯā, das wiederum auf PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) 1449 b 24 rekurriert (die Tragödie ist Mimesis von Handlung, mimesis praxeos), ist ein Hendiadyoin und wird von Heinrichs mit „Gleichmachung (oder: Vergleich) und Nachahmung (oder: Sich-angleichen)“56 wiedergegeben. Die Poetik-Kommentatoren nach Abū BišrAbū Bišr übernehmen das im Gegensatz zu tašbīh bedeutungsmäßig nicht festgelegte muḥākāt für den fremden, aristotelischen Begriff der Mimesis, wenn sie das Hendiadyoin umgehen wollen.57 Eine exakte begriffsgeschichtliche Untersuchung müsste aber diese allgemeinen Zusammenhänge an den noch erhaltenen arabischen Schriften zur Poetik weiter überprüfen, um jene von Heinrichs festgestellte fatale Übersetzung des MimesisMimesis-Begriffs zu verifizieren oder zu falsifizieren.58

Die erste noch nachweisbare Schrift zur aristotelischenAristoteles Poetik ist ein sogenanntes Kompendium, das etwa ein Jahrhundert älter ist als die erste arabische Übersetzung, und stammt aus der Feder des arabischen Philosophen al-KindīAl-Kindī (†873 n. Chr.). Diese Schrift ist nicht mehr erhalten. In einer anderen, aber überlieferten Schrift al-Kindīs, dem Sendschreiben über die Anzahl der Bücher des AristotelesSendschreiben über die Anzahl der Bücher des Aristoteles, und was man (davon) für das Studium der Philosophie benötigt, findet sich die früheste Erwähnung der Poetik in der arabischen Literatur. Dieser Text (Risāla) enthält eine Aufzählung der einzelnen Organonschriften, darunter die Poetik und RhetorikRhetorik mit Inhaltsangaben. Über die Poetik schreibt al-Kindī:

„Was sein [Aristoteles’Aristoteles] Thema in seinem achten Buch, betitelt Poietike, d.h. das auf die Dichtung bezügliche, betrifft, so ist es die Erörterung über die Kunst der Dichtung von (den Unterarten) der sprachlichen Aussage und über die Versmaße, die in einer jeden Art von Dichtung, wie der Panegyrik, den Elegien, der Satire usw., angewandt werden.“59

Datiert wird die Risāla vor 833, während das erwähnte Kompendium vor 873 entstanden ist.60 Eine weitere, allerdings eher marginale Bemerkung zur Poetik findet sich bei dem Historiker al-Ya ʿqūbīAl-Ya ʿqūbī (†897 n. Chr.), der über die Poetik schreibt: „Was sein [Aristoteles’] achtes Buch, d.i. das Poietike benannte, betrifft, so ist sein Thema darin die Erörterung über die Dichtkunst, und worüber man dichten darf [!] und welche Versmaße man verwendet, und über jede Art“61. Aus diesen Textzeugnissen kann aber nicht auf eine vor Abū BišrsAbū Bišr Übersetzung entstandene Übertragung der aristotelischenAristoteles Poetik ins Arabische geschlossen werden. Problematisch ist Heinrichs’ Versuch, Scholien als Quelle der zitierten Kurzbeschreibungen der Poetik auszuweisen.62 Wissenschaftliche Beweise für diese Hypothese gibt es nicht. Wesentlich wichtiger ist, dass auch die frühesten arabischen Zeugnisse zur Poetik in diesem Text ein logofikatorisches Instrumentarium sehen, entsprechend der alexandrinischen Tradition.

DiePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) beiden Kommentare von al-FārābīAl-Fārābī und AvicennaAvicenna (Ibn Sina) zur Poetik spielen sowohl für die arabische als auch für die europäische Poetik-Rezeption eine nicht unbedeutende Rolle. Der Philosoph al-Fārābī (†950 n. Chr.) sieht sich selbst als Schüler der spätalexandrinischen Tradition. Einer seiner Lehrer in Bagdad war Abū BišrAbū Bišr.63 Folgende kurze Notiz zur Poetik wird als ein sehr frühes Zeugnis von ihm gedeutet:

„Die Bücher aber, welche man nach der Lehre vom Beweis lesen muß, sind die, welche zwischen dem richtigen und falschen Beweis unterscheiden. Einige dieser Beweise sind geradezu falsch, andre aber gemischt (aus falsch und wahr). Den geradezu falschen Beweis lernt man aus seinem [AristotelesAristoteles’] Werk über die Dichtkunst […] kennen.“64

Diese offensichtliche Logofizierung der Poetik, d.h. die Auslegung der Poetik als eine logische Schrift im Kontext der anderen logischen Organonschriften, wonach dem poetischen Syllogismus der geringste Wahrheitsgehalt zukommt, bleibt in der arabischen Poetik-Rezeption, folgt man den Ausführungen Heinrichs’, ein Zwischenspiel. Bereits in der nächsten Schrift al-Fārābīs deutet sich neben der Logofizierung eine andere Lesart der Poetik an. Die Abhandlung über die Gesetze der Kunst der DichterAbhandlung über die Gesetze der Kunst der Dichter „is the earliest extant Arabic work on Poetics consciously based on the teaching of Aristotle“65. Darin wird u.a. Folgendes ausgeführt: Sprachliche Äußerungen sind differenzierbar in sinnvolle, zusammengesetzte, Sätze darstellende, assertorische, falsche Äußerungen und in Kontradiktionen. Unter die falschen sprachlichen Aussagen fallen die poetischen Sätze. Der Unterschied zwischen einem Sophisten, der täuscht, und einem Dichter, der nachahmt (muḥākī), besteht darin, dass der Sophist das Gegenteil einer Sache vortäuscht (Nichtexistentes als existent und umgekehrt), während der Dichter nicht das Gegenteil, sondern nur das Ähnliche nachahmt. Al-FārābīAl-Fārābī veranschaulicht dies an einem Beispiel „provided by sensation. A person […] is standing on the ground, in springtime, and looks at the moon and stars behind fast-travelling clouds“66. Das Ergebnis ist ein Zustand, der den Beobachter verleitet „to imagine that he is moving“67, eine (Sinnes-)Täuschung. Wer aber in einen Spiegel blickt, „is seeing a likeness of the object“68. Diese Ähnlichkeit entspreche der NachahmungNachahmung. Zu der Einteilung der fünf Schlussfiguren nach dem Modell von Elias dem ArmenierElias der Armenier bemerkt al-Fārābī: „Aus dieser Einteilung wird klar, daß die poetische Aussage weder die apodiktische, noch die dialektische, noch die rhetorische, noch die sophistische ist und trotz alledem zu einer der Arten des Syllogismus […] gehört“69. Am Ende der Abhandlung über die Gesetze der Kunst der DichterAbhandlung über die Gesetze der Kunst der Dichter gibt al-Fārābī seine Quellen an. Neben mündlichen Informationen sind dies die pseudoaristotelischen Erörterungen über die DichtkunstErörterungen über die Dichtkunst und Schriften antiker AristotelesAristoteles-Kommentatoren. Unter ihnen ThemistiosThemistios, der einen PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Kommentar geschrieben hatte, dessen Schrift aber nicht erhalten und über deren Inhalt nichts bekannt ist. Der Hinweis auf die Quellen erklärt auch die bunte Mischung von Ansichten und Themen, die al-Fārābī in seiner Schrift ausbreitet. Trotz der Mahnung von Heinrichs, dass noch al-Fārābī mit der Poetik nicht viel anzufangen gewusst hätte70, bleibt für die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte doch die Beobachtung festzuhalten, dass erstmals der Begriff der Nachahmung in einer Schrift zur aristotelischen Poetik auftaucht. Neben die Logofizierung, so könnte man schlussfolgern, tritt nun die allmählich erkannte Bedeutung des MimesisMimesis-Begriffs. Dichterische Aussagen werden als nachahmende Aussagen, die Dichter selbst als Nachahmer bezeichnet und zugleich von der (sophistischen) Täuschung abgegrenzt. Für den theoretischen Diskurs über DichtungDichtung bedeutet dies eine entscheidende Erweiterung.

Noch eine weitere Schrift al-Fārābīs widmet sich der aristotelischen Poetik, das ist ein der Gruppe der kleinen Kommentare zugehöriger Text, der ebenfalls als Vertreter der Proömienliteratur zu betrachten ist.71 Diese Schrift bedeutet gegenüber der Risāla einen Fortschritt insofern, als hier auf engem Raum eine kohärente Theorie der Dichtung entworfen wird. Der Bezugspunkt dieser Theorie bleibt nach wie vor die aristotelischeAristoteles Poetik. Erst mit ḤāzimḤāzim (†1285 n. Chr.) wird sich eine eigenständige arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie entwickeln, die versucht, die systematischen Vorgaben griechischer Provenienz mit autochthoner arabischer Literatur zu vermitteln und dadurch zu erweitern.72 Der zentrale Begriff von al-Fārābīs Theorie ist die NachahmungNachahmung (muḥākāt), die das wichtigste konstitutive Element von Dichtung bezeichnet und deren Zweck die „Vorstellungsevokation“73 (taḫyīl) ist. Die Nachahmung entsteht entweder aus einer Tat, beispielsweise im Schaffen von Plastiken oder auf dem Theater, oder in einer Aussage. Da die Vorstellungsevokation den Gegenstand selbst betrifft oder einen anderen, durch den erst die Evokation eines Gegenstandes erfolgt, gibt es folglich zwei Aussagetypen der Nachahmung. Einmal diejenige Aussage, die den Gegenstand selbst in der Vorstellung evoziert, zum zweiten diejenige Aussage, die die Existenz eines Gegenstandes in einem anderen in der Vorstellung evoziert. Unter Auswertung weiterer Textstellen kommt Heinrichs zu dem Ergebnis, dass al-FārābīAl-Fārābī konsequent zwei Nachahmungsarten unterscheidet. Zum einen ist dies Nachahmung ähnlicher Gegenstände innerhalb der oder durch die Sprache, Referenzialität der Gegenstände untereinander, die sprachlich nachgeahmt werden (verbale Nachahmung), und zum anderen die Nachahmung nichtsprachlicher, wirklicher Sachverhalte, worin auch die Funktion der sprachlichen Aussage nach al-Fārābī liegt (nonverbale Nachahmung).74 Diese Differenzierung in der Begriffsbildung setzt sich auch bei dem zweiten zentralen Begriff dieser Dichtungstheorie fort, derPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Vorstellungsevokation. Bemerkenswert ist, dass sich al-Fārābī von der systematischen Zwängen gehorchenden Gleichsetzung von Poesie mit Falschheit, niedrigstem Erkenntniswert und der Äquivokation von Fantasie und Falschheit, wie sie noch seine arabischen, syrischen und griechischen Vorgänger im Rahmen der systematischen Organonlehren entwickelt hatten, entfernt. Al-Fārābī gibt die These von der Falschheit poetischer Schlussformen auf und setzt an ihre Stelle den Begriff der Vorstellungsevokation. Offensichtlich scheint schon kurz nach seinem Tod dieser Begriff und erstaunlicherweise nicht der MimesisMimesis-Begriff bzw. dessen arabisches Korrelat als der allgemein anerkannte Schlüsselbegriff der Poetik verstanden worden zu sein.75

Im Prozess der arabischen Poetik-Rezeption nimmt AvicennaAvicenna (Ibn Sina) (d.i. Ibn Sina, †1037 n. Chr.) eine wichtige Stellung ein, denn von ihm stammt der erste Kommentar zur Poetik, der auch heute noch erhalten ist.76 Ob Avicenna die Poetik-Übersetzung von Abū Bišr als Textgrundlage diente oder die neukollationierte und revidierte Übersetzung von dessen Schüler Yaḥyā b. ʿAdīYaḥyā b. ʿAdī, ist umstritten.77 In der Einleitung zu seinem Kommentar liefert Avicenna gleich im ersten Satz eine Definition von Dichtung, die sowohl als Vorgabe für seine Interpretation der Poetik als auch als Ergebnis seiner Interpretation verstanden werden kann. „We first say that poetry is imaginative speech, composed of utterances that are measured, commensurate – and, in Arabic, rhymed“78. Das englische imaginative speech entspricht Heinrichs’ Begriff der Vorstellungsevokation und ist nach den Darlegungen Dahiyats ein Zentralbegriff in Avicennas Kommentar. Zwei Bedeutungen umfasst dieser Begriff. Die erste betrifft „the mimetic or image-making nature of poetry“79, die sich gerade in der Fähigkeit zur Vorstellungsevokation von logisch-diskursiver Rede unterscheide. Avicenna knüpft also an die traditionelle Logikdiskussion poetischer Rede an, jedoch – und darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu seinen Vorgängern – ohne sie als unwahr oder falsch zu klassifizieren. Die zweite Bedeutung betrifft die Wirkung der DichtungDichtung, „which is primarily emotive and pleasurable rather than apodictic and ratiocinative“80. Die Gefühlsbeteiligung in poetischer Rede erfährt also eindeutig eine Aufwertung. Ob es sich bei dieser Bedeutung von Vorstellungsevokation um eine Art von platonischerPlaton Bilderzeugung81 handelt, muss offen bleiben. Die zugrunde liegende Überlegung AvicennasAvicenna (Ibn Sina) jedenfalls ist die, dass ein Gegenstand, über den eine Aussage gemacht wird, durch die Aussage selbst sich erst in der Vorstellung konstituiert. Die affektive WirkungWirkung, die von der DichtungDichtung ausgeht, ist von der Wahrheit oder Falschheit des Ausgesagten aber vollkommen unabhängig. Der Wahrheitswert einer Aussage hat keinen Einfluss auf ihre Wirkung. Avicenna erkannte, dass die Vorstellungsevokation für die Rezipienten von Dichtung attraktiver und suggestiver ist, als ein poetischer Wahrheitsbeweis es sein kann.82 Die Begründung für diese entscheidende Erweiterung des poetologischen Diskurses über die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) liegt darin, dass der Nachahmung als Merkmal von Dichtung ein Element der Überraschung innewohnt, das bei der Wahrheit nicht nachzuweisen ist, „weil die wohlbekannte Wahrheit sozusagen abgetan und erledigt ist, während die unbekannte Wahrheit keine Aufmerksamkeit findet“83. In Avicennas Kommentar drückt sich keine Missbilligung poetischer Rede aus, vielmehr die mehr oder weniger deutliche Aufwertung von Dichtung. Zwar bleibt auch für ihn das Primat der griechischen Dichtung über die arabische unangetastet, doch zeichnet sich auf der Ebene poetologischer Reflexion im Ausgang von der Poetik eine Abkehr von den durch die Tradition kanonisierten Bedeutungsmustern ab. Auch dieser Emanzipationsprozess ist ein historischer Prozess und verläuft als solcher sukzessive, doch ist mit Avicennas Kommentar ein Weg eingeschlagen, der schließlich in eine Zweiteilung der Theoriebildung mündet: In AverroesAverroes findet die arabische Poetik-Rezeption den Anschluss an die griechisch-lateinische ÜberlieferungstraditionÜberlieferungstradition, in ḤāzimḤāzim, der wesentliche Anregungen aus den philosophischen Poetik-Schriften erhält, erfährt die arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie ihre Systematisierung.84 Der Schluss von Avicennas Poetik-Kommentar weist bereits in diese Richtung: „It is likely that we will try to introduce, in poetic discipline in general, as well as in poetic discipline according to contemporary practice, some discussion that is realized and detailed“Ḥāzim85. Schmitt untersucht in seiner Poetik-Edition zwar vor allem den systematischen, intrinsischen wie extrinsischen philosophiegeschichtlichen Ort dieser Schrift, sein Resümee gilt aber unabhängig davon: „einen wirklichen Eingang in die Poetik-Forschung haben die arabischen Kommentare aber immer noch nicht gefunden“86, denn „eine detailgenaue Auswertung der arabischen Poetik-Deutungen ist […] nicht möglich; es gibt zu viele Übersetzungsprobleme“87.

Mit AverroesAverroes (†1198) und seinem Poetik-Kommentar beginnt der „mittelalterliche Kultus des Aristoteles“88. Dies unterstreicht ein Beleg aus der lateinischen AristotelesAristoteles-AverroesAverroes-Ausgabe (Venedig 1550–1552), der die ungebrochene Dominanz und Autorität dokumentiert, die Aristoteles – und das bedeutet in praxi das Corpus Aristotelicum, also der jeweilige echte oder unechte aristotelische Text – Ende des zwölften, zu Beginn des 13. Jahrhunderts einzunehmen beginnt: „Credo enim quod iste homo [Aristoteles] fuerit regula in natura et exemplar quod natura invenit ad demonstrandum [recte: demonstrandam] ultimam perfectionem humanam [Ü: Denn ich glaube, dass dieser Mensch eine RichtschnurPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) in der Natur und ein Vorbild gewesen ist, das die Natur hervorbringt, um höchste menschliche Vollendung zu demonstrieren]“89. Die aristotelische Philosophie wird bezeichnet als „summa veritas, quoniam eius intellectus fuit finis humani intellectus [Ü: höchste Wahrheit, da ja sein Verstand die Grenze menschlichen Verstandes überhaupt gewesen ist]“90. Einen ähnlich hohen Stellenwert bekommt auch Averroes. Seine Kommentare zu aristotelischen Schriften, wozu der Poetik-Kommentar zählt, „held a dominant place from the thirteenth through the sixteenth centuries“91. Dieser Kommentar beansprucht nicht, eine Übersetzung des aristotelischen Textes zu bieten. AverroesAverroes, selbst des Griechischen unkundig, ordnet ihn vielmehr der zweiten von drei Hauptgruppen seiner zahlreichen anderen Aristoteles-Kommentare zu. Diese Gruppe der Media commentaria (mittlere Kommentare) gibt nicht den vollständigen aristotelischen Text arabisch wieder, sondern einzelne mit „dixit“ (AristotelesAristoteles sagte) eingeleitete Abschnitte, woran sich Erläuterung und Paraphrase anschließen.92 Dass sich hierbei unter strengem philologischem Gesichtspunkt schnell der Verdacht von Ungenauigkeiten und Verfälschungen einstellt, liegt auf der Hand. Ob allerdings Tkačs Urteil, es handle sich „um ein wahres Sammelsurium ungeheuerlicher Mißverständnisse und abenteuerlicher Phantasien“93 zutrifft, muss bezweifelt werden. Die lateinische Übersetzung von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus (entstanden 1256, gedruckt 1481 und 1515) wird gelegentlich als Paraphrase der aristotelischen Poetik bezeichnet. Dabei ist aber zu beachten, dass es sich um die lateinische Übersetzung einer arabischen Paraphrase (Averroes) handelt, die als Grundlage die arabische Übersetzung (Abū BišrAbū Bišr) einer syrischen Übertragung der griechischen Vorlage hat. Hiervon muss die andere lateinische Übersetzung unterschieden werden: 1337 fertigte Todros TodrosiTodros Todrosi eine hebräische Übersetzung des Averroes-Kommentars an (gedruckt 1872), die von Jakob MantinusMantinus, Jakob († vor 1550) ins Lateinische übersetzt wurde und die in die große AristotelesAristoteles-Averroes-Ausgabe (1550ff.) eingegangen ist.94 Um der Poetik bzw. deren arabischer Übersetzung einen Sinn abzugewinnen, musste Averroes mangels einschlägiger griechischer Sprach- und Literaturkenntnisse fremdes Material in den Text interpolieren, Textverschiebungen vornehmen und einige Stellen ganz weglassen. Die griechischen Beispiele, mit welchen Aristoteles seine Ausführungen illustriert hatte, ersetzte AverroesAverroes durch Beispiele aus der arabischen Dichtung.95 Aber auch Averroes begreift die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) als Teil der aristotelischen Logik. Daneben tritt bei ihm die ethische Funktion der Dichtung, die bestimmt werden kann als Kunst von Lob und Tadel.96 Tkač gibt diese Stelle aus dem Kommentar folgendermaßen wieder: „Dixit [Aristoteles]. Omnis poesis et omnis oratio poetica est aut convicium aut laus [Ü: Aristoteles sagte: Die ganze DichtungDichtung und alle poetische Rede sind entweder Schimpf oder Lob]“97. Epik und TragödieTragödie werden der Lobdichtung, die KomödieKomödie, worunter Averroes die Satire versteht98, wird der Spottdichtung zugeordnet. Gute Dichter loben gute Menschen, um ihre Leser zur Tugend anzuhalten, durchschnittliche Dichter tadeln schlechte Menschen, im Sinne einer abschreckenden WirkungWirkung von Lastern. Dichtung bekommt dadurch eine ethisch-didaktische Funktion, die mit der Überzeugung, dass Dichtung ein Teil der Logik sei, nur schwer zu vermitteln ist. Hardison spricht in diesem Zusammenhang gar von Inkompatibilität.99 Beide Theoreme, die ethische wie die logische Funktionsbestimmung von Dichtung, stehen in Averroes’ Kommentar unvermittelt nebeneinander. Doch was auch immer über die strukturelle und philologische Schwäche dieses Kommentars festgestellt werden mag, für den Zusammenhang einer ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der aristotelischenAristoteles PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) ist letztlich nur die Tatsache einer „long european career“100 dieses Textes entscheidend. Denn von Averroes’ Kommentar aus lassen sich bis hinauf in die Poetik-Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts Linien ziehen.

Eine bislang viel zu wenig beachtete Vermittlungsfunktion zu Beginn dieses RezeptionsprozessesRezeption nimmt die lateinische, sogenannte Translatio HermanniTranslatio Hermanni des averroesschen Kommentars ein. Der lateinische Imitatio-Begriff als Äquivalent zum griechischen MimesisMimesis-Begriff kommt nach Einschätzung Hardisons in der Übersetzung von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus „very infrequently“101 vor. Er ist meist ersetzt durch die Begriffe sermo imaginativus, assimilatio und representatio. Im ersten Kapitel schreibt Hermannus: „Et sermones poetici sermones sunt imaginativi. Modi autem imaginationis et assimilationis tres sunt: duo simplices et tertius compositus ex illis“102. Hardison übersetzt: „Poetic expression is figurative […]. There are three kinds of figuration and resemblance […], two simple and the third composed of the first two“103. Der ursprünglich handlungstheoretische MimesisMimesis-Begriff bei Aristoteles wird nun endgültig der Herrschaft der Vernunft unterworfen, bezeichnenderweise geschieht dies durch die Aufgabe des Imitatio-Begriffs. Endgültigkeit besitzt dieser Vorgang insofern, als er für die arabische Poetik-Überlieferung einen Abschluss, für die europäische aber den Beginn einer neuen Logofizierung der Poetik bedeutet. Diese Entwicklung findet bereits bei Fra Girolamo SavonarolaGirolamo Savonarola 1496 einen Höhepunkt: „Sine Logica neminem posse poetam appellari manifestum est [Ü: Das ist klar: Ohne Logikkenntnisse kann keiner zum Dichter ernannt werden]“104. So betrachtet erhält die Übersetzung des averroesschen Poetik-Kommentars durch Hermannus Alemannus einen neuen Stellenwert. Denn nicht AverroesAverroes und seine arabischen Schriften werden im Ganzen rezipiert, sondern der Averroismus in Gestalt lateinischer und umgangssprachlicher Übersetzungen (von diesen „intermediary vernecular translations“105 sind allerdings keine erhalten). Diese Einschätzung wird auch durch das Schicksal der 1278 von Wilhelm von MoerbekeMoerbeke, Wilhelm von angefertigten lateinischen Übersetzung einer griechischen Poetik-Handschrift bestätigt.106 Sie wurde erstmals 1953 gedruckt und blieb im MittelalterMittelalter ohne WirkungWirkung. Von ihr sind nur zwei, von der Translatio HermanniTranslatio Hermanni hingegen 23 Manuskripte in Spanien, Frankreich, Italien, England und Polen erhalten.107 Ob der Grund für die Wirkungslosigkeit dieser Übersetzung tatsächlich nur darin zu sehen ist, dass das Spätmittelalter für die RezeptionRezeption der Poetik nicht vorbereitet gewesen sei, ist plausibel.108 Überraschend bleibt, dass der Ursprung der europäischen Poetik-Rezeption nicht auf eine griechische Abschrift oder eine direkte Übersetzung der Poetik zurückgeht, sondern in einer lateinischen Übersetzung eines (sehr freien) arabischen Kommentars zur Poetik zu sehen ist. Immerhin ist die Translatio Hermanni zwei Jahrzehnte vor der Editio princeps graeca erstmals im Druck erschienen und wurde insgesamt sechsmal, zuletzt im Jahre 1600, aufgelegt.109

Neben diesen äußeren Fakten sind es aber auch inhaltliche, überlieferungsrelevante Gesichtspunkte, die bislang nicht wahrgenommen wurden und die durchaus literaturwissenschaftliches Interesse verdienen. Erstens, die anfängliche Rezeptionsdominanz der Translatio Hermanni innerhalb theoriebildender DiskursensemblesDiskursensemble begünstigt und beschleunigt in der westeuropäischen Rezeption die Entwicklung von der ursprünglichen aristotelischenAristoteles eleos-phobos-Lehre und der TragödieTragödie-KomödieKomödie-Zweiteilung hin zu einer auf ein Lob-Tadel-Schema (aut vituperatio aut laudatio) zurückgesetzten PoetologiePoetologie. Die Ausbildung der sogenannten Ständeklausel liegt als Konsequenz auf dieser Linie, die gesellschaftlichPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) dominierende Schicht bedarf des Selbst-Lobes. Die Poetikdebatte während des 17. und 18. Jahrhunderts sichert ihr die (hohe) TragödieTragödie, während die beherrschte Schicht des Tadels, der (niederen) KomödieKomödie bedarf. Die Tragödie ist „ars laudandi“ (Kunst des Lobens), die Komödie ist „ars vituperandi“ (Kunst des Tadelns), wie Hermannus AlemannusHermannus Alemannus übersetzt.110 Lob als das averroistischeAverroes Extrakt des ursprünglichen Tragödienbegriffs soll zur Tugendhaftigkeit anleiten, Tadel, der dem ursprünglichen Komödienbegriff zugeordnet ist, soll vor Untugend abschrecken. Damit sind dem poetologischen DiskursDiskurs kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich relevante normstabilisierende und normbildende gesellschaftliche, moralische und didaktische FunktionenFunktion eingeschrieben. Zweitens, bemerkenswert ist ferner, dass die poetologische Debatte im Sinne der Poetik-Debatte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts nahezu selbstständig außerhalb poetischer Diskurse verläuft. Nicht die Dichter diskurrieren über Fragen der Poetik und über die Poetik, sondern die Übersetzer, Kommentatoren und Interpreten. Grabmann teilt das Incipit einer aus dem 13. Jahrhundert stammenden Handschrift mit, das als ein weiterer Beleg für die dominante Form der Lob-Tadel-Poetik gelten kann: „Incipit poetria AristotelisAristoteles excerpta de primo libro: Mos non fruatur nisi circa alterum istorum scilicet virtutem et vitium [Ü: Es beginnt die aristotelische PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) mit dem ersten Buch: Die Regel soll nur angewandt werden, wenn im Hinblick auf das Laster auch die Tugend ersichtlich ist]“111. Drittens, auch Hermannus Alemannus liest die Poetik, sofern er eine griechische Handschrift kannte, zumindest aber die arabischen Kommentare, die ihm bekannt waren, als eine logische Schrift, als „ars logicalis“112, wie er schreibt. Dies geht auch aus einer anderen Stelle seiner Schrift deutlich hervor: „Quod autem hi duo libri [RhetorikRhetorik und Poetik] logicales sint, nemo dubitat qui libros perspexerit arabum famosorum, Alfaribi videlicit et Avicenne et Avenrosdi et quorundam aliorum. Imo ex ipso textu manifestius hoc patebit“113. Hardison übersetzt: „That these two books are part of logic no one will doubt who has read the books of Al-farabiAl-Fārābī, AvicennaAvicenna (Ibn Sina), and AverroesAverroes, and various others. Indeed, this is quite obvious from this text itself“114. Unmissverständlich fordert Hermannus die Leser seines Manuskripts auf, die er die „viri studiosi“ (Gelehrten) seiner Zeit nennt, „gaudeant se cum hac [editione Poetrie] adeptos logici negotii Aristotilis complementum [Ü: Sie sollen sich freuen, dass sie mit dieser Poetik-Ausgabe eine Ergänzung zu den logischen Schriften des AristotelesAristoteles erhalten haben]“115. Spätestens mit der Verbreitung griechischer Poetik-Handschriften und schließlich mit dem Erscheinen der Editio princeps graeca hätte die Möglichkeit bestanden, die tradierte Gleichsetzung der Poetik mit einer ars logicalis einer gründlichen Revision zu unterziehen. Diese Konjunktivformulierung ist aber eine Sprechweise der Gegenwart, über die Gründe, weshalb dies nicht geschehen ist, kann nur spekuliert werden. Viertens, einem philologischen Missgriff ist es zu verdanken, dass der Mythos von der Poetik als Regelwerk im 16. und 17. Jahrhundert geboren und eine starre Reglementierungspoetik entwickelt werden konnte. Schon der textkritische Aspekt eines Transkriptions- bzw. Übersetzungsfehlers genügt, um die diskursgeschichtlicheDiskursgeschichte Tragweite einer philologischen Entscheidung erkennen zu lassen. Tkač hatte in seinem 1902 erschienenen Aufsatz zum averroesschenAverroes Poetik-Kommentar folgende Mitteilung gemacht:

„Margoliouth hat richtig erkannt, daß Averroes (1, 2ff) die arabische Transcription des griechischen poíesis mißverständlich für das arabische Wort, welches ‚regulae, canones‘ bedeutet (al-kawanīn, Plural von kanūn), gehalten und so in seinen Text (vgl. Mantinus 354, 5 und 13) die ‚regulae‘ (canones) statt der ‚poesis‘ hineingebracht hat. Um diese Auffassung verständlich zu machen, hat sich Averroes auch bemüßigt gesehen, ‚quae dantur de iis‘ hinzuzufügen.“116

Tkač bezieht sich zwar auf die lateinische Übersetzung des Mantinus, dem die hebräische Übersetzung TodrosisTodros Todrosi des arabischen Textes vorlag, insofern müsste vor jeder weiteren Schlussfolgerung zuerst der hebräische mit dem arabischen Text verglichen werden. Doch bietet auch hier wieder Hermannus AlemannusHermannus Alemannus inhaltlich dieselbe Lesart: „oportet eum [Aristoteles], qui vult ut canones qui dantur in hac arte procedant processu debito, dicere primitus […] [Ü: Es gehört sich für ihn, der die in dieser Kunst gegebenen Regeln aus einer Entwicklung hervorgehen lassen will, zuerst zu sagen …]“117. Nach den Angaben Weinbergs bezieht sich diese Stelle auf Poetik 1447 a 12f., also auf den Anfang des Textes, wo AristotelesAristoteles von der Dichtkunst und der DichtungDichtung spricht.118 Doch bereits im Abschnitt zuvor, im „Inquit Ibinrosdin“ wird das canon-regula-Denken expliziert. Hermannus übersetzt: „Intentio nostra est in hac editione determinare quod in libro Poetrie Aristotilis de canonibus universalibus communibus omnibus nationibus aut pluribus […]“119. Weinberg gibt diese Textstelle mit den Worten wieder: „Our intention in this edition is to determine how much of AristotleAristoteles’s book On Poetry is concerned with universal rules common to all nations or to most“120. In der Translatio HermanniTranslatio Hermanni ist eine Spur gelegt, die sich in der weiteren europäischen RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte der Poetik als eigenständiger DiskursDiskurs über das Regeldenken verfolgenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) ließe.121

Die syrisch-arabische Handschriftenüberlieferung der aristotelischen Poetik bis zur lateinischen Übersetzung des Hermannus AlemannusHermannus Alemannus der griechisch-lateinischen ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte voranzustellen, hat einen einfachen Grund. Die älteste uns erhaltene griechische Handschrift der Poetik, der sogenannte Codex Parisinus 1741 (= Codex A) datiert sich auf das 10./11. Jahrhundert.Überlieferungsgeschichte122 Ältere griechische Handschriften sind nicht erhalten, sodass die Forschung über weite Strecken im Dunkeln tappt, wenn es darum geht, die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik jenseits von Plausibilitätshypothesen zu rekonstruieren. Die Überlieferung der aristotelischen Poetik nachzuzeichnen ist etwas anderes, als eine Geschichte des griechischen und lateinischen Aristotelismus einschließlich der HandschriftengeschichteHandschriftengeschichte von der AntikeAntike bis zur HochscholastikHochscholastik zu schreiben. In den Arbeiten zum antiken Aristotelismus wird die Poetik meist nur marginal berücksichtigt, wenn sie denn überhaupt Erwähnung findet. So kommt die Poetik beispielsweise in Moraux’ Monumentalwerk über den griechischen AristotelismusAristoteles gar nicht vor.123 Das gesamte ihm zur Verfügung stehende Material enthält keinen (erwähnenswerten?) RezeptionsbelegRezeption. Über die Zeit von 50 v. Chr. bis 350 n. Chr. schreibt Moraux, dass das Anliegen der meisten Aristoteles-Kommentatoren die Kommentierung der rein philosophischen Lehrschriften, ohne die Tierschriften, die PolitikPolitik, die RhetorikRhetorik und die Poetik gewesen sei.124 Dies hatte aber auch institutionelle, wissenschaftsorganisatorische und wissenschaftsdistributive Gründe. Denn nach dem Tod von AristotelesAristoteles (322/321 v. Chr.) zerfiel seine Schule innerhalb weniger Jahrzehnte.125 Erst unter Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos, dem sechsten Schulleiter nach Aristoteles, wurde im ersten vorchristlichen Jahrhundert die Sammlung, Bearbeitung und Herausgabe der aristotelischen Schriften in Angriff genommen.Andronikos von Rhodos126 Zur selben Zeit entstanden auch die ersten Kommentare. Die Gestalt und Anordnung, die AndronikosAndronikos von Rhodos den Schriften gabPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles), das sogenannte Corpus Aristotelicum, blieb für die nachfolgenden Jahrhunderte verbindlich. Die Verbreitung und das Studium der aristotelischen Schriften erlebten eine Konjunktur, die in der Einrichtung eines Lehrstuhls für aristotelische Philosophie in Athen im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ihren institutionellen Ausdruck fand.127 Während die Schule in Athen, der Peripatos, unter Justinian im Jahre 529 n. Chr. geschlossen werden musste, hatte sich in Alexandria eine Schule etabliert, die sich der Aristoteles-Exegese widmete. Schon der Nachfolger von AristotelesAristoteles im Amt des Scholarchen in Athen, TheophrastTheophrast, hatte testamentarisch seinem designierten Nachfolger NeleusNeleus die gesamte aristotelische Bibliothek einschließlich der Handschriften vermacht. Als aber StratonStraton und nicht Neleus zu Theophrasts Nachfolger gewählt wurde, verließ NeleusAthen und verkaufte einen Teil der Bibliothek an die 280 v. Chr. gegründete Bibliothek von Alexandria.128 Mit seiner neuplatonischen Schule, obgleich diese „frei von den religiösen und spekulativen Tendenzen des athenischen und syrischen Neuplatonismus“129 war, wurde Alexandria in den nachfolgenden Jahrhunderten zum Zentrum der Aristoteles-Exegese. Dies änderte sich erst im Jahre 610, als Stephanos von AlexandriaStephanos von Alexandria, wo es schon seit 400 keine öffentliche Bibliothek mehr gab, nach Konstantinopel als der letzte alexandrinische Lehrer berufen wurde.130 Mit der Gründung der Akademie von Konstantinopel 1045 war schließlich der institutionelle Rahmen für eine intensive Auseinandersetzung mit den aristotelischen und platonischen Schriften auch in Byzanz geschaffen.131 Die Schriften des Aristoteles wurden also spätestens mit der Auflösung seiner Bibliothek in alle Himmelsrichtungen verstreut. Hierbei die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik herauslösen und rekonstruieren zu wollen, scheint aussichtslos, wenn man von der überlieferten Debatte um die Zuordnung der Poetik zum aristotelischen Organon einmal absieht. Das ändert sich erst an jener historischen Zäsur, wo ein Studium der Poetik in Konstantinopel nachweisbar ist. Am 13. April 1204 wird die Stadt zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres von Kreuzfahrern erobert und geplündert, doch noch 1457 befindet sich die älteste erhaltene griechische Handschrift der Poetik in einer byzantinischen Bibliothek.132 Vor dem Ende des Jahrhunderts erreicht diese Handschrift Florenz, von wo aus sie schließlich nach Paris gelangt. Unstrittig ist, dass das lateinische MittelalterMittelalter die aristotelischenAristoteles Schriften bereits vor der Übersetzung arabischer Kommentare kennengelernt hatte. Minio-Paluello widersprach der Meinung, dass Gelehrte in Italien, Frankreich, England und Deutschland im Mittelalter mit den nichtlogischen SchriftenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) des Aristoteles zuerst durch die arabische und später durch die griechische Überlieferung bekannt geworden seien. Vielmehr wäre das Gegenteil richtig, denn schon im Jahre 1136 sei Jacobus von VenedigJacobus von Venedig in Konstantinopel gewesen und habe nach seiner Rückkehr die aristotelischenAristoteles Schriften und die dazugehörigen Kommentare bekannt gemacht. Die Latinisierung sei insofern die zumindest teilweise kontinuierliche Fortsetzung der griechischen Schulen, „und dies geschah, bevor auch nur ein Werk des Aristoteles vom Arabischen ins Lateinische übersetzt worden war“133. Allerdings ist auch dies nicht mehr als eine wissenschaftliche Hypothese. Im Hinblick auf die syrisch-arabische und die griechisch-lateinische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik bietet es sich daher an, von einer doppelten, möglicherweise zeitgleichen Berührung zu sprechen. Fragt man nach dem Verbleib der Poetik bei der westeuropäischen RezeptionRezeption aristotelischer Schriften, so ist man wiederum auf Vermutungen angewiesen, denn man kann nicht behaupten, es sei „der unwiderlegbare Beweis erbracht, daß Jahrhunderte vor der Ankunft des aus Konstantinopel stammenden cod. A es bereits auch in Italien Hss. der Poetik gegeben haben muß, die von diesem völlig unabhängig waren“134. Für diese apodiktisch formulierte Vermutung gibt es keinen Beleg, zumal sich ihr Autor auf zwei mittelalterliche Handschriften beruft, den Codex lat. Etonensis (ca. 1300) und den Codex lat. Toletanus (ca. 1280)135, die aber Abschriften der lateinischen Übersetzung von Wilhelm von Moerbeke sind, die am 1. März 1278 abgeschlossen worden war.136 Diese Übersetzung beruht auf der heute nicht mehr erhaltenen griechischen Handschrift, die wiederum die Schwester von Codex A ist.137 Lediglich drei weitere lateinische Handschriften der Poetik sind nachweislich früher geschrieben worden. Zum einen die arabisch-lateinische Translatio HermanniTranslatio Hermanni von 1256, zum anderen zwei Handschriften einer griechisch-lateinischen Poetik-Übersetzung von 1248, die aber ohne Einfluss geblieben sind.

Bei der Frage nach einer früheren lateinischen Poetik-RezeptionRezeption bleibt man auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen. Plausibilität kann die eine oder andere These oder Hypothese gewinnen, wenn man die fehlenden Spuren der Poetik-Überlieferung mit Hilfe der gesicherten Spuren der Rezeption des Corpus Aristotelicum zu erschließen versucht. Dieses Corpus wurde von Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos im ersten vorchristlichen Jahrhundert zusammengestellt.138 Die Ausgabe gliedert sich in vier Gruppen, wobei die Poetik der zweiten Gruppe mit den ethischen, politischen und rhetorischen Schriften zugeordnet wird. Die logischen Schriften (das Organon) machen die erste Gruppe aus. Diese Feststellung lässt diePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Vermutung fraglich erscheinen, die Geschichte der Textüberlieferung scheine sich „entsprechend den vier Gruppen […] in vier verschiedenen Überlieferungszweigen (mit Untergruppen) getrennt vollzogen zu haben“139. Ein Blick auf die spätalexandrinische Diskussion um die Zusammensetzung des Organons und vollends die syrisch-arabische Übernahme eines nahezu einheitlichen Organon-Kanons verdeutlichen, dass die Poetik bereits innerhalb des Corpus Aristotelicum einer wechselnden Zuordnung von der zweiten zur ersten Hauptgruppe unterworfen gewesen sein muss. Die Vermutung, dass die philosophisch-philologischen Debatten über die Zuordnung der Poetik im Gesamt der aristotelischenAristoteles Schriften unmittelbare Auswirkungen auf deren Überlieferung und RezeptionRezeption gehabt haben könnten, scheint plausibel. Als Textgrundlage für seine Ausgabe dienten AndronikosAndronikos von Rhodos vor allem aristotelische Handschriften in Rom, die der römische Konsul SullaSulla bei der Eroberung Athens 86 v. Chr. hatte rauben und mit nach Italien bringen lassen.140 Aber nur wenige Schriften wurden in der frühen Kaiserzeit ins Lateinische übersetzt.141 Darin mag auch ein Grund für die ausbleibende Poetik-Rezeption in der klassischen lateinischen Literatur zu sehen sein. Selbst die zweite bedeutende Quelle der abendländischen Poetikgeschichte – neben der aristotelischen Poetik –, die Ars poeticaArs poetica (14 v. Chr.) von HorazHoraz (65–8 v. Chr.), ist in Unkenntnis der Poetik geschrieben.142 Außerdem ist festzuhalten, dass „die Fähigkeit, griechisch zu verstehen, niemals sehr verbreitet war und um 400 fast ganz erlosch“143. Bis dahin standen nahezu ausschließlich die logischen Schriften, die PhysikPhysik und die MetaphysikMetaphysik des AristotelesAristoteles im Mittelpunkt des Interesses der Kommentatoren. „Alle übrigen Schriften wurden nur ausnahmsweise kommentiert: die Politik gar nicht, die psychologischen Schriften sehr sparsam, die Rhetorik nicht vor dem VI. Jahrhundert (in Syrien)“144. Nur der arabische Aristotelismus brachte selbstständige Kommentare zur Poetik hervor. Die Ursache dafür, dass kein griechischer oder lateinischer Poetik-Kommentar erhalten ist, kann also durchaus darin liegen, dass es einen solchen Kommentar nie gegeben hat.145 „In der römischen Kaiserzeit bis zum Ende des späten Altertums ist es […] ein sehr zusammengeschrumpfter Aristoteles, für den man sich interessiert“146. Die Poetik gehörte offensichtlich nicht zu diesem Schrumpfkorpus. BoëthiusBoëthius (†524 n. Chr.) ist der letzte lateinische AristotelesAristoteles-Kommentator und Aristoteles-Übersetzer, dessen Interesse noch dem Gesamtkorpus giltPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles). „Ich will sämtliche Schriften des Aristoteles ins Lateinische übersetzen und kommentieren, soweit sie mir zugänglich sind“147. Sein früher Tod ließ diesen Plan unausgeführt, lediglich ein kleiner Kanon von sieben Traktaten, die Übersetzungen und eigene logische Arbeiten und keine Spur von der Poetik enthalten, „war bis zur Mitte des XII. Jahrhunderts so ziemlich alles, was dem Abendlande von der Erbschaft des Aristoteles allgemein zugänglich war“148. Im 12. Jahrhundert setzte eine Wiederentdeckung des Aristoteles ein. Seine Schriften wurden zur begehrten Lektüre, Handschriften wurden zahllos kopiert. Heute sind für diese Zeit bis zum 14. Jahrhundert noch mindestens 2283 Handschriften, Texte, Übersetzungen und Kommentare in über 160 Bibliotheken nachweisbar, ein Zeichen „der außergewöhnlichen Vitalität des Werks des Stagiriten, der wohl wie kein anderer profaner griechischer Autor eine solch große Zahl von Handschriften […] aufzuweisen vermag“149. Neben dem Codex Parisinus 1741 (Handschrift A) ist noch der Repräsentant eines von diesem unabhängigen Überlieferungszweigs der Poetik, der Codex Riccardianus 46, erhalten. Das ist eine Handschrift aus der Florentiner Bibliotheca Riccardiana. Diese Handschrift stammt aus dem 14. Jahrhundert und wurde erst 1878 wiederentdeckt.Aristoteles150 Lobel beschreibt insgesamt 31 erhaltene PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Handschriften, doch ist diese Liste, worauf er selbst hinweist, längst nicht vollständig. Eine annähernd exakte Zahl und präzise Beschreibung aufgrund von Handschriftenautopsien wird man von dem Werk Aristoteles GraecusAristoteles Graecus erwarten können.

Die nachweisbare griechisch-lateinische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik lässt sich also erst ab dem 10. Jahrhundert mit der aus Konstantinopel stammenden Handschrift A verfolgen. Dieser Überlieferungszweig ist von dem syrisch-arabischen völlig unabhängig. In den vier Jahrhunderten zwischen 1100 und 1500 kursiert eine Fülle von griechischen und mehr noch von lateinischen Abschriften, Übersetzungen und Kommentaren der Poetik. Ihre RezeptionRezeption beschränkt sich aber auf einen kleinen philosophisch-philologisch interessierten Kreis des Klerus. Erst als die Kirche ihren Widerstand gegen den Aristotelismus aufgibt – Albertus MagnusAlbertus Magnus (†1280) und dessen Schüler Thomas von AquinAquin, Thomas von (†1274) seien hier nur als die exponiertesten Vertreter dieses neuen Denkens genannt – und sich ein christlicher Aristotelismus herauszubilden beginnt, scheint eine über den Klerus hinausgehende Aristoteles-Rezeption einzusetzen. Zu denken ist vor allem an die Aristoteles-Rezeption in der bildenden Kunst, die von der Aristoteles-Legende (Aristoteles und die Hetäre oder Aristoteles und Phyllis) bis zum Philosophenstreit (AristotelesAristoteles versus PlatonPlaton) reicht. Von der Poetik gibt es allerdings auch hier keine Zeugnisse. Versucht man, die Geschichte der griechisch-lateinischen Handschriftenüberlieferung zu rekonstruieren, so stößt man bei der griechischen Filiation in der Forschung auf eine Hypothese, die über Jahrzehnte hinweg Anlass zu heftigem Streit gegeben hat, die sogenannte Apografathese.151 Am 4. November 1865 hatte der Aristoteles-Forscher Leonhard Spengel die These vorgetragen, dass die Handschrift A „für unsere Poetik die Quelle ist, aus der alle anderen stammen“152, alle anderen Handschriften der Poetik seien direkt oder indirekt „Apographa der Pariser A […], diese demnach allein als eigentliche Quelle Bedeutung hat, die übrigen, insofern sie davon abweichen, nur Änderungen von Lesern und Abschreibern bieten, denen man keinen größeren Wert als den Konjekturen der Neueren zuschreiben darf“153. Mit der Entdeckung, dass der Codex Riccardianus 46 (Handschrift B) ein vom Parisinus 1741 unabhängiger Textzeuge ist, und schließlich mit der durch die Forschungen Margoliouths eingeleiteten Beschäftigung mit der arabischen Poetik-Übersetzung und dem Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum und deren Publikation durch Tkatsch, verstanden als die Grundlage des griechischen Textes, schien die Apografathese widerlegt zu sein, zumindest für deren Kritiker.154 Die Apografathese habe sich als ein „Hirngespinst“155 entpuppt, sie sei ein „luftiges Phantasiegebilde“156 gewesen. Heutzutage lässt sich der „Mißbrauch“ erkennen, der mit „der PoetikübersetzungPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) [von Tkatsch] getrieben worden ist“.157 So bedeutend die Wiederentdeckung des arabischen Poetik-Textes und die Wiederentdeckung der Handschrift B auch gewesen ist, so wenig lässt sich daraus eine zuverlässige Überlieferungsgeschichte der Poetik konstruieren, geschweige denn eine aristotelischeAristoteles Mutterhandschrift rekonstruieren.158 Jede ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte von Handschriften trägt, was die nicht mehr nachweisbaren Codices betrifft, auch Züge des Idealtypischen, die lediglich eine heuristische Funktion erfüllen. Wichtig dabei ist allein das kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Moment, dass dadurch die Geschichtlichkeit des Textes der Poetik im Prozess ihrer Überlieferung deutlich wird.

Die Poetik-Überlieferung im MittelalterMittelalter und im HumanismusHumanismus lässt sich nicht mehr von der allgemeinen Aristoteles-Rezeption trennen.159 Dies aus folgenden Gründen: Erstens spielt die Poetik vor dem Hintergrund des Machtkampfes zwischen den Vertretern eines Aristotelismus und den Vertretern eines Platonismus nur eine untergeordnete Rolle.160 Die bloße Verfügbarkeit von Texten aus dem Corpus Aristotelicum vermag nicht deren Einfluss zu erklären, es muss ein „deutliches Interesse auf Seiten des Rezipienten“161 hinzukommen. In der Ausbildung der Theologie als wissenschaftliche Disziplin, die in ihrem universalen Deutungsanspruch traditionale und rationale Momente vereinigt, kann man einen Grund für den Paradigmenwechsel von PlatonPlaton zu AristotelesAristoteles sehen.162 Die Aristoteles-RezeptionRezeption ließe sich damit „als Ergebnis einer fundamentalen Neuorientierung des geistigen Lebens im 12. Jahrhundert“163 erklären. Zweitens ist eine eigenständige literarische Rezeption der Poetik als Kritik oder Akzeptanz zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisbar. Erst am Ende des 15. Jahrhunderts beginnt sich ein explizit poetologischer Aristotelismus mit tragödientheoretischer Präferenz als eigenständiger Diskurs zu entwickeln. Über den theologisch-philosophischen Bereich hinaus werden aristotelische Schriften nur von Medizinern und Juristen rezipiert, in großer Zahl auch pseudo-aristotelische Schriften. Die Untersuchung der Aristoteles-Rezeption unter medizin- und rechtshistorischen Aspekten wäre eine wichtige Ergänzung zu einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur. Drittens kann die Handschriftengeschichte der Poetik aus literaturgeschichtlicherLiteraturgeschichte Perspektive mit dem Auftauchen des Codex Parisinus 1741 als abgeschlossen betrachtet werden. Alle jetzt noch angefertigten Codices, mit Ausnahme der Handschrift B und der Translatio HermanniTranslatio Hermanni, sind mittelbar oder unmittelbar abhängig von der Handschrift A. Mit der Editio princeps ist schließlich eine Textgestalt vorgegeben, die bis zu der großen AristotelesAristoteles-Ausgabe von Immanuel Bekker Mitte des 19. Jahrhunderts verbindlich bleibt. Textkritische Fragen verlieren für eine Kulturgeschichte der Literatur damit an Dringlichkeit. Und viertens beginnt sich die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) erst im frühen 18. Jahrhundert von der RhetorikRhetorik zu emanzipieren. Dieser Emanzipationsprozess ist nachhaltig von der Rezeption der aristotelischen Poetik initiiert worden. Die Filiationen zwischen der aristotelischen Poetik und der aristotelischen Rhetorik müssten bis in die HochscholastikHochscholastik hinein entsprechend berücksichtigt werden.

Die Poetik zeichnet sich als einzige aristotelische Schrift dadurch aus, dass sie weder eine ausschließlich philosophische noch eine ausschließlich literarische Schrift ist, und doch für die westliche Zivilisation zum ältesten und wirkungsmächtigsten Zeugnis theoretischer Auseinandersetzung mit LiteraturLiteratur avancierte. Dass diese Schrift von der über viele Jahrhunderte hinweg unantastbaren Autorität des AristotelesAristoteles verfasst worden war, ist für den Erhalt der Poetik und für ihre Überlieferungsgeschichte von elementarer Bedeutung. Der erste einschneidende Bruch in diesem Prozess traditionaler Macht der Überlieferung vollzieht sich in dem Augenblick, wo sich der erste Widerstand gegen die Herrschaft der Poetik in der RenaissanceRenaissance zu regen beginnt. In der Gegenreaktion hierauf wird versucht, die (aristotelische) Herrschaft durch die Vulgarisierung der Poetik auszuweiten. Dies geschieht durch die ersten gedruckten landessprachlichen Übersetzungen und Kommentare, durch Auflösung der Prosaform in Versform, durch Reduktion des Textes auf eine reine Regelsammlung nach poetologischen Verwertbarkeitskriterien. Zugleich wird der Bruch mit der PhilosophiePhilosophie und TheologieTheologie vollzogen, die LiteraturLiteratur entwickelt ihr eigenes Reflexionsmodell in der Absicht, sich dadurch Freiheit und Unabhängigkeit zu sichern. Der gegen die Literatur gerichtete neuplatonisch-christliche Vorwurf, Literatur sei Lüge und sie verkünde die Unwahrheit, verliert an Bedeutung.164 Die RezeptionRezeption der aristotelischen Poetik war im Mittelalter zwar eng mit der Rezeption der christlichen ÄsthetikÄsthetik augustinischerAugustinus Prägung, der neuplatonischen Kunstauffassung und der Tradition der antiken Rhetorik verflochten. Doch ist der Anteil der aristotelischenAristoteles Poetik an den Debatten um FiktionFiktion, Historie, Poesie, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Lüge im Kontext der mittelalterlichenMittelalter Fiktionsdebatte im Prozess der Emanzipierung der PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) von der RhetorikRhetorik nicht unerheblich.165 Vor dem Hintergrund der lateinischen Tradition im Mittelalter müsste zudem auch die Rolle der Ars poetica von HorazHoraz berücksichtigt werden.166 Im 14. Jahrhundert gelangt die HandschriftenHandschriftengeschichte- und Textgeschichte der Poetik, endgültig mit der Editio princeps graeca von 1508, zu ihrem Abschluss. Man kann eine verhaltene Virulenz der aristotelischen Poetik im 13., 14. und 15. Jahrhundert annehmen. Keineswegs erlebt die Poetik „phönixartig“ eine „späte Auferstehung“ um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.167 Die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) hat innerhalb der RezeptionRezeption anderer aristotelischerAristoteles Schriften die zwei Jahrhunderte zwischen 1256 als dem Jahr der Niederschrift der Translatio HermanniTranslatio Hermanni und 1481 als dem Jahr, in dem die Translatio Hermanni gedruckt wurde, gleichsam überwintert. Auch die Auswertung der LiteraturtheorieLiteraturtheorie in der italienischen RenaissanceRenaissance legt dies nahe.168

„While Aristotle was the institutionalized philosophical writer par excellence for the Middle Ages and Renaissance, his position in more informal contexts should not be minimized. Works such as the Oeconomics, Ethics, Politics, Poetics, and Problemata were much read by an intellectual milieu different from the academic one. In the Renaissance general interest in Aristotle – leaving aside schools and universities – was as great as it was in Plato. Detailed research on this point is lacking.“169

Mit der Editio princeps graeca der aristotelischenAristoteles Poetik, die 1508 in Venedig bei Aldus ManutiusAldus Manutius (1449–1515) erschien und von Demetrius DucasDemetrius Ducas herausgegeben wurde, änderten sich die Rezeptionsbedingungen für die Poetik revolutionär, da nun das neue Medium des BuchdrucksBuchdruck zur Verfügung stand. Mit dieser Ausgabe beginnt die Druck- und BuchgeschichteBuchgeschichte der Poetik in Europa.170 Vor dem Druck des ersten griechischen Poetik-Textes, über dessen handschriftliche Vorlagen sich nichts mehr ausmachen lässt171, waren aber bereits drei lateinische Poetik-Ausgaben erschienen: Im Jahr 1481 die lateinische Übersetzung des averroesschenAverroes Kommentars von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus, die mehrere Auflagen erlebte, 1498 die lateinische Übersetzung von Giorgio VallaValla, Giorgio, und 1504 die neue Übersetzung von (vermutlich) B. de VitalibusVitalibus, de B.. Danach folgten griechisch-lateinische Doppelausgaben, etwa 1536 die Ausgabe von Alessandro de PazziPazzi, Alessandro de, und 1548 von Francesco RobortelliRobortelli, Francesco eine griechisch-lateinische Ausgabe mit Kommentar. Die erste italienische Übersetzung folgte 1549 von Bernardo SegniSegni, Bernardo, eine griechisch-italienische Doppelausgabe mit Kommentar von Ludovico CastelvetroCastelvetro, Ludovico erschien 1570.172 Man kann von einem explosionsartig gesteigerten Interesse an der aristotelischenAristoteles Poetik im 16., 17. und 18. Jahrhundert sprechen, wenn man sich die absoluten Zahlen der einzelnen Drucke vergegenwärtigt.173 Bis 1600 sind einschließlich der Nachdrucke und der Poetik-Neuauflagen 32 griechische, 43 lateinische und zehn italienische Poetik-Ausgaben erschienen, von denen 14 Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Bis 1700 waren es zwölf griechische, 23 lateinische und zwei italienische Poetik-Ausgaben, von denen neun Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Und bis 1800 wurden weitere Poetik-Ausgaben veröffentlicht, 16 griechische, acht lateinische und eine einzige italienische, von denen 16 Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Die Gesamtzahl griechischer, lateinischer und griechisch-lateinischer Textausgaben mit und ohne Kommentar von 1481 bis 1800 beträgt 134, der erste Kommentar zur PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) stammt von Robortelli aus dem Jahr 1548. Bis zum Jahr 1800 erschienen weitere nationalsprachliche Übersetzungen: Die erste spanische Übersetzung folgte 1623, die erste französische 1654174, die erste englische Übersetzung 1705, die erste deutsche Übersetzung 1753, die erste portugiesische Übersetzung 1779, die erste niederländische Übersetzung 1780 und die erste dänische Übersetzung 1785. Im 19. und 20. Jahrhundert folgten Übersetzungen und Kommentare in weitere europäische und außereuropäische Sprachen. Dem interessierten deutschsprachigen, nichtgelehrten Lesepublikum, das also die Poetik nicht in einer griechisch-, lateinisch-, italienisch-, spanisch-, französisch- oder englischsprachigen Ausgabe lesen konnte, war es erst mit der von Michael Conrad CurtiusCurtius, Michael Conrad 1753 besorgten deutschen Übersetzung175 möglich, die Poetik kennenzulernen.Aristoteles176 Zwar stammt eine Teilübersetzung des St. Annaberger Schulrektors Adam Daniel RichterRichter, Adam Daniel aus dem Jahr 1751, sie wurde aber an entlegener Stelle in einer Schuleinladungsschrift publiziert,177 was die ausgebliebene Wirkung erklärt, und Richter hat lediglich die ersten fünf Kapitel der Poetik wiedergegeben. Das für die Tragödiendiskussion im 18. Jahrhundert besonders wichtige sechste Kapitel der Poetik mit einer Übersetzung der Textstelle 1449 b 27f. fehlt. Richter begründet dies so:

„Diese fünf ersten Capitel aus des Aristotels Dichtkunst, weil auch die kleine Zahl dieser Blätter nicht mehrere fasset, habe dismal, als eine Probe, ins Deutsche übersetzet liefern, und, weil ich glaube, daß die Übersetzung dieses Buches nicht eben unter die leichtesten gehöret, gelehrte Kenner der critischen Dichtkunst und griechischen Sprache, mit aller Ergebenheit, zugleich ersuchen wollen, diese meine angefangene Übersetzung zu beurtheilen, mir die Fehler zu zeigen, und mich, wie es zu verbessern, gütigst zu belehren. […] Ihro Magnificenz der Herr Professor Gottsched, als der vortreflichste Kenner dieser Gelehrsamkeit, ist derjenige, den ich diese meine angefangene Übersetzung […] der aristotelischen Dichtkunst zu beurtheilen, und mich, wo ich gefehlet, zu belehren, mit vieler Ergebenheit mir erwählen wollte. Denn nachdem es mir gelungen, werde ich in solcher Übersetzung fortfahren, oder aufhören.“178

Eine Untersuchung zur PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Rezeption in Deutschland, wie sie vergleichbar etwa Marvin Theodore Herrick für die Poetik-Rezeption in England bereits 1930 vorgelegt hat179, ist Desiderat. Denn zum Kreis der Rezipierenden in Deutschland sind ab dem 18. Jahrhundert in erster Linie alle an LiteraturLiteratur Interessierten zu rechnen, Schriftsteller, Kritiker und Philologen gleichermaßen. LessingsLessing, Gotthold Ephraim Verteidigung der aristotelischenAristoteles Poetik in der Hamburgischen DramaturgieHamburgische Dramaturgie (1767/69) gab den entscheidenden Impuls, um die Literaten der 1770er- und 1780er-Jahre für die Poetik zu interessieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen noch drei weitere Übersetzungen oder Teilübersetzungen der Poetik, 1797 die Kompilation aus Zitaten, Übersetzungen und Kommentaren der Poetik und der horazischenHoraz Ars poeticaArs poetica von J. Christoph RegelsbergerRegelsberger, J. Christoph180, 1798 die Übersetzung von Johann Gottlieb BuhleBuhle, Johann Gottlieb181, der sich zugleich auch als Editor und Kommentator einen Namen machte, und 1799 der Auszug einer Übersetzung von Johann Jakob Meno ValettValett, Johann Jakob Meno182, der die gesamte Übersetzung 1803 veröffentlichte183. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts brach nach HermannsHermann, Godofred Poetik-Ausgabe184 von 1802 ein wahrer altphilologischer Boom an Editionen, Übersetzungen und Interpretationen aus. Die Poetik des AristotelesAristoteles hatte sich endgültig als ein kulturgeschichtlicherkulturgeschichtlich PermatextPermatext etabliert.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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