Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 7

„UNENDLICHER DEUTUNG VOLL“. POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITBEDEUTUNGSOFFENHEIT „Binnenland-Horizonte“. Paul KleeKlee, Paul Offenes BuchOffenes Buch (1930)

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Im XIV. Abschnitt seines Kunstessays über Wilhelm Tischbeins IdyllenWilhelm Tischbeins Idyllen (1822) schreibt GoetheGoethe, Johann Wolfgang, die schönsten SymboleSymbol seien gerade diejenigen, „die eine vielfache DeutungDeutung zulassen, indes das dargestellte Bildliche immer dasselbe bleibt“1. Und an anderer Stelle, in seinem Brief an Sulpiz BoisseréeBoisserée, Sulpiz vom 16. Juli 1818, liest man, der Ausleger habe „völlig freie Hand, die Symbole zu entdecken, die der Künstler bewußt oder bewußtlos in seine Werke niedergelegt hat“2. Bekannt sind auch Goethes Definitionen von AllegorieAllegorie und Symbol, wie sie in den Maximen und ReflexionenMaximen und Reflexionen (1833) mitgeteilt werden. In Nr. 1112, die wie Nr. 1113 etwa um 1807 entstanden ist, heißt es: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei“3. Und Nr. 1113 lautet: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe“4. Oder Nr. 314: „Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“5.

Um die Reflexion dieser Verbindung von SymbolikSymbol und vielfacher DeutungDeutung geht es in dieser Einleitung. Das wird besonders sichtbar in einem Bild der klassischen ModerneModerne, das als Umschlagbild dieser KulturgeschichteKulturgeschichte der Literatur dient. Die harten Fakten sind schnell resümiert, der Maler heißt Paul KleeKlee, Paul (1879–1940), das Bild wurde 1930 gemalt; die Maltechnik ist Wasserfarbe und Feder, mit weißer Lackgrundierung auf Leinwand in einem Keilrahmen; die Maße sind 45,7 cm x 42,5 cm, nahezu quadratisch. Das Bild wird im Salomon R. Guggenheim Museum (Nachlass von Karl Nierendorf), New York, aufbewahrt. Der Titel des Bilds wird mit Offenes BuchOffenes Buch, Open book oder Geöffnetes Buch wiedergegeben. Allerdings ist die exakte Titelbezeichnung nicht unerheblich für die DeutungDeutung des Bildes, denn wie in der LiteraturLiteratur kann auch in der bildenden Kunst der Titel eines Kunstwerks eine eigene, nicht unwichtige Signifikanz entfalten. In der Deutung macht es einen erheblichen Unterschied, ob man von einem offenen BuchBuch spricht oder von einem geöffneten Buch. Das geöffnete Buch setzt ein tätiges Subjekt voraus, das das Buch geöffnet hat. Und es drückt implizit aus, dass das Buch zuvor nicht geöffnet, sondern zugeschlagen und verschlossen war. Der Term ‚Das geöffnete Buch‘ denotiert mithin den Wechsel von einem Zustand in einen anderen und transportiert damit unterschwellig eine Dynamik. Anders verhält es sich mit dem Titel Offenes Buch. Redensartlich ist das (offene) Buch aus Sprichwörtern bekannt wie: eine Person oder das ganze Leben ist ein offenes Buch, oder man redet wie ein Buch, bis hin zum metaphorischen Gebrauch, wenn vom Buch des Lebens oder vom Buch der Bücher oder vom Buch der Natur gesprochen wird. In dieser SymbolspracheSymbolsprache steht das Buch in einer langen geschichtlichen Reihe, und die Metaphern von der Welt als Buch und von der Kultur als TextKultur als Text berühren sich hier. Beginnend bei der Bibel als dem Buch der Bücher mit den theologischen Implementen des Buchs der Gerechten und des Buchs des Lebens, sich fortsetzend über eine Art Grammatik des Buchs der Natur mit differenten Lesarten und dem Buch der Schöpfung, und in der Vormoderne und ModerneModerne eine fundamentale Infragestellung im Topos der UnlesbarkeitUnlesbarkeit der Welt erfahrend, gipfelnd wohl in HofmannsthalsHofmannsthal, Hugo von Chandos-BriefChandos-Brief (Ein BriefEin Brief) von 1902, worin es heißt: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen“6; am Ende bleibt Chandos die Erkenntnis, dass die Sprache, die er spricht und in der er denkt, aus lauter unbekannten Wörtern besteht. Allerdings hat das Buch der Natur aus der Sicht von SchillersSchiller, Friedrich Braut von MessinaBraut von Messina (1803) keinen guten Leumund, wenn Isabella dem Chor antwortet: „Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, / […] und alle Zeichen trügen!“ (V. 2392f.)

Links unten am Rand finden wir Klees Künstlersignatur. Das K des Anfangsbuchstabens von Klee hat eine ähnliche Gestalt wie das darüber befindliche große Dreieck. Die Vertikallinie und die Diagonallinie im oberen Teil des BuchstabensBuchstaben bilden einen ähnlichen Winkel wie das Dreieck darüber. Was bedeutet dieses Dreieck? Es kann zum einen schlicht die geometrische Figur eines Dreiecks darstellen, zum anderen, wenn man sich dieses Dreieck räumlich vorzustellen versucht, nähert sich der Winkel einem rechten Winkel. Damit ergibt sich die Deutung als ein bautechnisches Handwerkszeug, als ein Winkelmesser, sofern man die Verbindungslinie zwischen rechtem Winkelpunkt und der Basislinie als eine abstrakte, weil nicht gebogene, imaginäre Angabe zur Winkelgröße denken will. Es kann aber auch als ein P gelesen werden, was einem Monogramm als dem grafischen SymbolSymbol von KleesKlee, Paul Vornamen gleichen würde, was mir die plausibelste DeutungDeutung ist, statt eines scripsit bzw. pinxit oder einer Künstlersignatur erscheint dieses transformierte P. Ebenso gut kann das Dreieck die Notation einer Tanzbewegung meinen, wenn man das Bild Offenes BuchOffenes Buch mit Klees Bild Abstraktes BallettAbstraktes Ballett von 1937 kontextualisiert, auf das die als P gelesene geometrische Linie dann vorausweisen würde.7 In diesem Bild findet sich dieselbe geometrische Grundfigur, dort stellt sie aber eine choreografische Zeichenschrift dar, neben den geometrischen Grundformen von Rechteck, Quadrat, Dreieck, Fünfeck, Kreis und Linien.8 KleeKlee, Paul stellt sich damit in die Tradition der modernen Ausdruckskunst und ihrer Notation, wie er sie bei Oskar SchlemmerSchlemmer, Oskar, Theo van DoesburgDoesburg, Theo van, Giacomo BallaBalla, Giacomo und Wassily KandinskyKandinsky, Wassily findet. Übertragen auf sein Bild Offenes BuchOffenes Buch heißt dies: Das wahre Buch würde ein neues Zeichensystem erfordern, das selbst aber auch aus Regularien der NotationNotation erwächst. Folgt man dieser DeutungDeutung, ergibt sich auch inhaltlich eine Weiterung. Die Begegnung mit offenen Büchern im buchstäblichenbuchstäblich oder im metaphorischen Sinn, was nicht unbedingt dem LesenLesen von Büchern gleichen muss, transformiert diejenigen, die sich dem offenen Buch zuwenden, aus der einen WirklichkeitWirklichkeit in eine andere Wirklichkeit. Die Buchstabenbuchstäblichkeit des Alphabets wird in eine andere Bedeutungs- und Zeichensprache überführt, es entsteht ein anderes Zeichen für P. Der linke, äußere Punkt des Dreiecks beginnt auf der gedachten Linie einer Verlängerung der darüber abgebildeten Buchseite. Was aber bedeutet dieser rätselhafte Tropfen unter dem P, zu dem sich keine Erklärung findet? Wenn es ein Tropfen wäre, fiele er verkehrt herum; deshalb ähnelt diese Figur eher einem aufsteigenden Ballon. Oder ist es ein spinnenartiges Lebewesen, das von oben betrachtet werden muss? Somit ergäben sich auf engstem Raum für den Betrachter oder die Betrachterin mehrere Perspektivenwechsel, die Klee als möglich, aber nicht als notwendig offeriert.

Den größten Raum nimmt die Darstellung des offenen Buches selbst ein. Es scheint sich offensichtlich um die ersten Seiten eines einzigen Buches oder mehrerer Bücher zu handeln, wenn man den rechten Buchseitenblock dem linken äußeren, einzelnen Blatt gegenüberstellt. Dass es sich um die räumliche Darstellung eines offenen Buchs handelt, ist unzweifelhaft. Die Seiten umgibt ein schraffierter Strahlenkranz, der die räumlich-kontrastive Wirkung verstärkt, der aber auch als ein Verweiszeichen darauf gedeutet werden kann, dass diese Seiten etwas Helles, Strahlendes, jedenfalls Bedeutendes enthalten. Allerdings können die Betrachtenden Klees Buch nicht lesen, zumindest nicht im wörtlichen Sinn, denn es enthält keine Buchstabenzeichen. Die elf, eher winzigen Quadrate auf der zentralen, kleinen Buchseite in der Mitte sind die einzigen Zeichen, die zudem in Form und Größe variieren. Verweisen sie auf die Bedeutung des Bilds als das Buch des Lebens?9 Vom linken Buchrand aus betrachtet sind sieben einzelne Buchseiten zu erkennen, die ebenfalls in Form und Größe unterschiedlich sind, wobei nur die innere und kleinste Seite ein Dreieck bildet, die anderen Seiten sind Vierecke. Auffallend ist dabei, dass sich zwischen dem dritten und dem vierten Blatt eine tiefschwarze Hintergrundfläche öffnet, die suggestiv so wirkt, als sei die vierte Seite an dieser Stelle aus dem Buch herausgetreten oder gar herausgeschnitten. Die rechte Buchbildseite wird von dem Eindruck beherrscht, als seien zwei, möglicherweise auch drei Seiten geknickt und gefaltet. Das wären dann eindeutige Gebrauchsspuren, das BuchBuch und seine Seiten wurden benutzt, Leser*innen haben die Seiten bearbeitet. Der bräunlich gehaltene Farbton kann die gebräunten Seiten eines alten Buches suggerieren, die Punkte glichen sogar dessen Stockflecken; der Braunton am Rand changiert ins Gelbliche und gegen die Bildmitte hin ins Graubraune. Dies kann auch auf eine Erdverhaftung hinweisen, wonach ein Buch erdet, demnach Lesen erdet, demnach Fantasie und Fiktionalität erden.10 Vergleicht man KleesKlee, Paul Bild mit der barockenBarock Darstellung eines geöffneten Buchs, so ergeben sich bereits auf den ersten Blick die entscheidenden Differenzmerkmale, da die barocke Ikonografie in der Regel das Vanitas-Motiv zitiert, was bei KleeKlee, Paul völlig fehlt, es sei denn, man will den schwarzen Hintergrund der zentralen Buchseiten als eine gähnende Leere und als Ausdruck des Horror vacui lesen.11 Nimmt man beispielsweise das Buchbild Liber vitaeLiber vitae aus der Schule von Michael PacherPacher, Michael um 150012 oder das Stillleben mit geöffnetem BuchStillleben mit geöffnetem Buch13 eines anonymen deutschen Malers aus dem 16. Jahrhundert als Referenzbild, so wird deutlich, dass die dort noch lesbare Schrift der aufgeblätterten Buchseiten die Sicherheit einer Zeichenordnung repräsentiert, die bei Klee verloren gegangen ist. Im Offenen BuchOffenes Buch ist keine Schrift mehr lesbar. Klees Bild verwirft das Stillleben, es erschöpft sich aber auch nicht, wie Carl EinsteinEinstein, Carl in seiner Kunst des 20. JahrhundertsKunst des 20. Jahrhunderts meinte (1926, 3. Aufl. 1931), darin, dass es Erlebnisse kontrolliere und sie bauhaften Formen einordne.14 Vielmehr repräsentiert das Offene BuchOffenes Buch einen modernen Lebensstil, der auf die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnissicherheiten der Geschichte verzichten kann.

Zu KleesKlee, Paul Bild gibt es weder vom Künstler selbst noch von der Klee-Forschung entscheidende Deutungshilfen.15 Lediglich diese knappen Bemerkungen in einem Ausstellungskatalog von 1967 wagen eine Deutungsrichtung: „Klee has arranged geometric forms so that they incline and rotate in a constructed depth“; „Klee tried to visualize his feelings about the book“; „mood with an exotic texture“; „The book is fixed in black mystery and […] we find a triangle with tiny brown squares: the mystery of the printed word“.16 An anderer Stelle ist die Rede davon, dass das Bild ein SymbolSymbol sei „für die Krise der Kultur des Schreibens“17. Das Offene Buch wurde auch vertont, was selbst bereits wieder eine DeutungDeutung darstellt.18

Das Bild Offenes BuchOffenes Buch stellt für mich zweierlei dar. Zum einen visualisiert es die Unendlichkeit des Buchkosmos (das dunkle, schwarze Weltall).19 Schlage ich als Leser eine Seite auf, öffnet sich sofort eine nächste – es gibt keine abschließende Deutung. Das Buch ist das SymbolSymbol für LiteraturLiteratur schlechthin, und ich lese Klees Bild als ein SymbolSymbol der BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Demnach kann man sagen, Literatur generiert BedeutungsfülleBedeutungsfülle und DeutungsfülleDeutungsfülle. Ob diese abschließbar sind, bleibt offen, wie das Offene BuchOffenes Buch selbst. Zum anderen symbolisiert das Offene Buch als ein offenes BuchBuch das Buch des Lebens. Wir können es aufschlagen und darin lesen, aber wir werden es in der Lektüre nie endgültig vermessen können (darauf würde der Winkelmesser verweisen). Das Offene Buch lässt die Bedeutung eines offenen Geheimnisses assoziieren. Das Bild legt also etwas vor, das öffentlich gemacht werden will, das bekannt werden soll und das sich keineswegs in ein sakrales oder paganes Geheimnis zurückziehen will.

In seiner Vorlesung vom 11. März 1981 sagte der französische Philosoph Michel FoucaultFoucault, Michel einmal: „Mir scheint, dass die Wirklichkeit, auf die sich ein Diskurs bezieht, welcher es auch sei, niemals den Grund für diesen Diskurs selbst darstellen kann”20. Foucault deutet sehr detailliert das Bild Dies ist keine PfeifeDies ist keine Pfeife (französicher Originaltitel: Ceci n’est pas une pipeCeci n’est pas une pipe) des Malers René MagritteMagritte, René (1898–1967). In seinem Essay Der Sinn der KunstDer Sinn der Kunst (1954) schreibt Magritte: „Der SinnSinn, das ist das Unmögliche für das mögliche Denken“, und: „Die Freiheit des Denkens ist das mögliche Denken des Sinns, das heißt das Denken des Unmöglichen.“21 Am 23. Mai 1966 schickt Magritte einen Brief an Foucault, der 1973 veröffentlicht wird und dem unter anderem eine Reproduktion seines Bilds Dies ist keine Pfeife beiliegt. Magritte notiert auf der Rückseite: „Der Titel widerspricht nicht der Zeichnung; er bestätigt auf andere Art“22. Hier geht es um die BedeutungBedeutung von Sinn bei der Bilddeutung und analog bei der TextdeutungTextdeutung. Magritte meint, sein Bild enthalte einen Sinn, den der Titel des Bilds in BuchstabenBuchstaben nicht wiedergebe. Der Titel Dies ist keine Pfeife entfalte nur in einem bestimmten Kontext Sinn, „der Kontext aber […] kann besagen, daß nichts konfus ist, außer dem Geist, der eine imaginäre Welt imaginiert“23. Foucault hat den Gedankenaustausch mit MagritteMagritte, René zum Anlass genommen, eine grundsätzliche Reflexion über den Status der Realität in der ÄsthetikÄsthetik zu verfassen. Dabei geht es auch um den Streit zwischen Nominalisten und Realisten in der Philosophie. Aber er schreibt keine philosophiehistorische Abhandlung, sondern er reflektiert über die Eigenart des Bildes im Verhältnis zum TextText. Vor dieser Folie diskutiert er Magrittes Bild Ceci n’est pas une pipeCeci n’est pas une pipe24 und macht dabei bemerkenswerte kunsthistorische Beobachtungen. „Der Text darf dem betrachtenden Subjekt, das Schauer ist, nicht Leser, nichts sagen; ist ein Wort erkannt, ein Satz verstanden, so verflüchtigen sich auch alle anderen graphischen Zeichen mitsamt der sichtbaren Fülle der Form und lassen nur die lineare, sukzessive Abfolge des Sinns übrig“25, schreibt er. Dagegen ließe sich einwenden, dass jede*r Betrachter*in immer zugleich auch Leser*in ist, dafür bürgt schon die kulturelle Prägung. Insofern müssen diese Worte weniger apodiktisch verstanden werden, als sie bei der Lektüre wirken mögen. Bei einem Bild seien BuchstabenBuchstaben immer „nur das Bild von Buchstaben“26. Wie sieht dann aber ein Urbild von Buchstaben aus? Das bleibt unklar. Über Magrittes Pfeifenbild sagt FoucaultFoucault, Michel, dass der geschriebene Text („dies ist keine Pfeife“) genau der Abbildung eines geschriebenen Textes ähnele.27 Das Repräsentationssystem durch Ähnlichkeit verschränke sich in der Kunstgeschichte mit dem Referenzsystem durch Zeichen zu einem einzigen und einzigartigen Gewebe.28 Und Gewebe, so lässt sich ergänzen, ist lateinisch textus, ist Text. RepräsentationRepräsentation und ReferenzReferenz würden einen neuen Text generieren, der als Bild-Text erscheine. Stellen wir die hypothetische Frage: Wie wäre es demnach zu verstehen, wenn ein Bild behauptet: ich bin kein Buch, aber das Bild eines Buches darstellt? Auch so ließe sich Paul KleesKlee, Paul Offenes BuchOffenes Buch lesen. Wenn Foucault sagt: „ein Gemälde kann von einem Text beherrscht werden, dessen Bedeutungen es nur in Figuren umsetzt“29, dann lässt sich dies ohne Einschränkungen auf Klees Bild Offenes Buch übertragen. Klee braucht keinen Text, denn das Bild ist der Text. Im dritten Teil seiner Schrift macht Foucault auf zwei Prinzipien aufmerksam, welche die abendländische Malerei zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert kennzeichnen. Das sei einmal die „Trennung zwischen figürlicher Darstellung […] und sprachlicher Referenz“30. Erst durch Klee, KandinskyKandinsky, Wassily und MagritteMagritte, René würde dieses Prinzip in Frage gestellt. Und zum zweiten sei es das Prinzip der Äquivalenz zwischen Ähnlichkeit und RepräsentationRepräsentation.31 Dabei sei es nicht entscheidend, ob das Bild auf etwas Sichtbares verweise oder ob es etwas Unsichtbares, mithin Fiktives, erzeuge, das ihr gleiche, weil Ähnlichkeit und Affirmation nicht zu trennen seien. „Klees Bilder zerlegen die Malerei […] in ihre Elemente und fügen sie zusammen; diese Elemente mögen zwar einfach sein, aber sie basieren auf dem ganzen Wissen der Malerei und sind davon durchdrungen“32. In einem Gespräch aus dem Jahr 1966 bekennt FoucaultFoucault, Michel, Klees Malerei sei „eine Malerei, die wieder Besitz vom Wissen um ihre grundlegendsten Elemente ergriffen hat. Genau diese scheinbar einfachsten, spontansten Elemente, selbst jene, die nicht erscheinen und niemals erscheinen sollten, macht Klee auf dem Bild sichtbar“33. Für Foucault steht fest: „Klee schuf einen neuen Raum“34.

Ein DiskursDiskurs über die WirklichkeitWirklichkeit sagt nichts über die Wirklichkeit des Diskurses aus, ein Diskurs über ein Bild ist nicht der Beleg dafür, dass diese diskursive DeutungDeutung des Bildes auch tatsächlich dessen Wirklichkeit repräsentiert. „Es gibt keine grundlegende ontologische Zugehörigkeit zwischen der Wirklichkeit eines Diskurses, seiner Existenz, selbst der Existenz von Diskursen, die den Anspruch erheben, die Wahrheit zu sagen, und dann der Wirklichkeit, von der er spricht“35. Deshalb schwächt Foucault auch den Wahrheitsanspruch eines Diskurses, indem er sprachlich ein anderes Bild wählt. „Was kann der Diskurs dann legitimerweise anderes sein als ein behutsames Lesen? Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur noch zu heben braucht“36. Am Ende seiner Abhandlung stellt er nochmals klar, dass es bei seiner Methode der Diskursanalyse nicht um den Nachweis oder gar die Rettung einer wie auch immer gearteten „Universalität eines SinnsSinn“ oder um eine „Monarchie des Signifikanten“ geht.37 Das wird bei aller Kritik an Foucaults Diskursanalyse oft übersehen. In dem Essay Die Sprache, unendlichDie Sprache, unendlich (1963) schreibt FoucaultFoucault, Michel, SchriftSchrift sei Verdopplung, da sie die phonetischen Elemente und nicht das Signifikat repräsentiere, während das Ideogramm direkte Repräsentation des Signifikats sei.

„Für die abendländische KulturKultur hieß schreiben, sich von Beginn an in den virtuellen Raum der Selbstrepräsentation und der Verdopplung zu stellen; wenn die Schrift nicht das Ding, sondern das Sprechen repräsentiert, dann würde das sprachliche Kunstwerk nichts anderes tun als sich tiefer in diese ungreifbare Dichte des Spiegels vorzuwagen; es würde das Doppel dieses Doppels hervorbringen, welches die Schrift seit jeher ist, auf die Weise ein mögliches und unmögliches Unendliches entdecken; […] Diese Anwesenheit des in der Schrift wiederholten Sprechens gibt dem, was wir ein Werk nennen, zweifelsohne einen ontologischen Status, der jenen Kulturen unbekannt ist, in denen es, wenn man schreibt, die Sache selbst ist, die man bezeichnet, als eigenen Körper, sichtbar, und auf hartnäckige Weise unempfänglich für die Zeit“38.

Sollten wir darauf mit den Worten des dritten JohannesbriefsJohannesbrief antworten: „ich hätte dir viel zu schreiben“ (3. Joh 13)?

Susan SontagSontag, Susan hat 1964 in ihrem epochemachenden Essay Against InterpretationAgainst Interpretation provokant gefordert: „Statt einer HermeneutikHermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst“39. Auch wenn dies einem bewusst zugespitzten und zudem eher unerfüllbaren Postulat gleicht, es skaliert doch das Verhältnis von TextText und TextdeutungTextdeutung neu. „Die InterpretationInterpretation basiert demnach auf einer Diskrepanz zwischen der offensichtlichen BedeutungBedeutung des Textes und den Ansprüchen des (späteren) Lesers“40. Ist diese offensichtliche Bedeutung des Textes dessen BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit? Denn wie kann ansonsten eine weitere, andere Bedeutung des Textes offensichtlich sein, da sie ja erst durch die DeutungDeutung gefunden werden muss? Sontag fordert eine Interpretation modernen Stils, die hinter dem eigentlichen Text nach einem „Untertext“41 gräbt, den sie als eigentlichen Text anerkennt. „Verstehen heißt interpretieren“42 und das wiederum bedeutet, „die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwelt der ‚Bedeutungen‘ zu errichten“43. Die Reduktion eines Kunstwerks auf seinen Inhalt, die nur diesen interpretiert, gleiche einer Zähmung des Kunstwerks. Diese Selbsttechnik (so wird es FoucaultFoucault, Michel später nennen) der InterpretationInterpretation als einer DisziplinierungDisziplinierung des Kunstwerks hatte in der Kunst- und LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte, in der KulturgeschichteKulturgeschichte insgesamt fatale Folgen. Diese Art der disziplinierenden Interpretation, die nur auf die inhaltlichen Merkmale abhebt, ist Ausdruck einer Gewalteinwirkung auf das Kunstwerks und macht dieses in der Lesart SontagsSontag, Susan zum reinen Gebrauchsgegenstand. Der Untertext vieler Kunstwerke ging verloren, wurde unterdrückt und wich in subversive Deutungen aus. Erst die erfrischende Neugier des modernen Subjekts gewann den Mut zum Untertext wieder zurück und dafür steht, so kann man hinzufügen, in der Kunst das Werk Paul KleesKlee, Paul, ganz besonders das Bild Offenes BuchOffenes Buch. Sontag greift sogar auf religiöses Vokabular zurück, um die Not des Kunstwerks (oder vielleicht auch die Angst des Kunstwerks vor der Interpretation?) zu betonen, wenn sie von einer regelrechten Heimsuchung des Kunstwerks durch die Interpretation spricht.44 Sie formuliert ihr Plädoyer dafür, die Bedeutung der Inhalte einzuschränken und stattdessen „mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen“45. Damit kommt wieder die Rolle des*r Rezipienten*in ins Spiel, der*die über den Positivismus der BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit hinaus nach den Untertexten – oder besser: nach den Hintertexten – eines TextesText gräbt. Dass Sontag dies mit dem Appell auf den Verzicht von jeglicher DeutungDeutung verknüpft, ist deutlich über das Ziel hinausgeschossen, eingedenk der Tatsache, dass Interpretieren stets die Verbindung von Beschreiben und Deuten ist. Man kann aber Sontags anregende Provokationen zum Anlass nehmen, neu über das Verhältnis von Kunst oder Text und Deutung nachzudenken.

Während seiner Zeit als Bauhaus-Dozent schrieb Paul KleeKlee, Paul einen Essay mit dem Titel exakte versuche im bereich der kunstexakte versuche im bereich der kunst, der zuerst in der Bauhauszeitschrift von 1928 erschienen ist. Darin heißt es: „man lernt hinter die fassade sehen, ein ding an der wurzel fassen. man lernt erkennen, was darunter strömt, lernt die vorgeschichte des sichtbaren. lernt in die tiefe graben, lernt bloßlegen. lernt begründen, lernt analysieren.“46 Die knappste Formel von Klees Autopoetik ist sein vielfach zitiertes Wort: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“Klee, Paul47 Das wirft insgesamt eine fundamentale Frage auf. Ist es für eine DeutungDeutung entscheidend, welche Intention eine Künstlerin oder ein Künstler mit ihren Kunstwerken verknüpfen? Ist im Rahmen der Literaturwissenschaft tatsächlich für die Deutung entscheidend, welches die AutorintentionAutorintention des TextesText ist? Der Schriftsteller D.H. LawrenceLawrence, D.H. bringt es auf den Punkt in seinem Aperçu: „Never trust the artist. Trust the tale“48, und rückt damit das generelle Misstrauen gegenüber den Selbstaussagen, Selbstexplikationen und Autopoetologien der Autoren und Autorinnen in den Fokus. Zugleich aber macht dieses Zitat ein entscheidendes Problem deutlich oder eben sichtbar, es ist die Tatsache, dass etwas in einem Bild enthalten sein muss, das etwas anderes sichtbar macht. Die Frage nach dem Ort dieses Anderen bleibt, ist er im Bild oder außerhalb des Bildes? Ist das hermeneutischHermeneutik intrinsisch oder hermeneutisch extrinsisch zu verstehen? Angenommen HölderlinHölderlin, Friedrich hätte recht, und wir wären wirklich nur deutungslose Zeichen (wie er in der zweiten Fassung des zwischen 1802 und 1806 entstandenen Gedichts Mnemosyne schreibt), so hieße das, wir könnten gedeutet werden, wir sind Objekte der DeutungDeutung, zugleich sind wir aber als Deutende auch deren Subjekte. Objekt und Subjekt zugleich – das ist nicht nur ein logischer Widerspruch von Deutung und DeutbarkeitDeutbarkeit, sondern führt uns an die Grenzen des Vorstellbaren. Anders ist es mit Texten. Wenn Texte deutungslos wären, könnten sie dennoch von uns gedeutet werden. Sie sind aber niemals selbst Subjekte der Deutung, sondern immer nur deren Objekt. Insofern ist Deutung intentional. Und sie ist das, was nach CassirersCassirer, Ernst Verständnis den Menschen ausmacht: „Es ist das symbolischesymbolisch Denken, das die natürliche Trägheit des Menschen überwindet und ihn mit einer neuen Fähigkeit ausstattet, der Fähigkeit, sein Universum immerfort umzugestalten“49.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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